Wie es dann politisch weitergegangen ist, wissen wir alle. Da wurde und wird umfangreich dokumentiert, archiviert und historisch aufgearbeitet. Heute - kaum ein Jahr danach - sind wir wiedervereinigt und das Deutschland geworden das zu erleben wir schon nicht mehr erwartet hatten. Die Begeisterung und die Euphorie hat sich im Laufe dieses Jahres gelegt und ist zum Teil der Ernüchterung über die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme gewichen. Es werden Jahre vergehen, bis die wirkliche Vereinigung dieser beiden auseinander gedrifteten Systeme vollzogen sein wird.
Was aber ist aus den oben erwähnten geografischen Gedankenblitzen geworden? In kaum einer Zeit gab es eine größere Herausforderung für Entdeckungen als in diesem einen Jahr. Daher gab es zwei Dinge zu tun: viele Unternehmungen machen, und die dabei gewonnenen Erlebnisse schriftlich festhalten, damit sie nicht im Strom der Zeit allzu schnell verblassen. In wenigen Jahren wird man sich nicht mehr so lebendig daran erinnern, welche Gefühle man bei dem ersten Betreten des "unbekannten Landes" empfunden hat. Dieses Empfinden ist der rote Faden der folgenden Berichte. Es werden keine Sensationen oder spektakuläre Erlebnisse erzählt, sondern nur die alltäglichen Eindrücke wiedergegeben, die sich bei den unterschiedlichen Besuchen ergeben haben.
Die meisten Unternehmungen sind Erkundungstouren im grenznahen Bereich. Sie stehen unter unterschiedlichen Vorzeichen: das große "erste Mal", ein Spaziergang, Fahrradtouren, Autofahrten oder Gemeinschaftsveranstaltungen.
Im Laufe dieses Jahres 1990 ist die Beschäftigung mit den Vorgängen in der (Ex-) DDR geradezu ein neues Interessengebiet geworden und wird es noch weiter sein. Besonders die Fahrten nach Berlin und Halle haben den Horizont buchstäblich erweitert. Hinzu kommen noch die Osterreise nach Rügen und die Herbstreise nach Thüringen, die gesondert beschrieben sind. Wenn das so weitergeht, kennen wir eines Tages die "neuen Bundesländer" besser als die alten. Aber es steht uns auch gut an, denn wir liegen von Braunschweig aus nun wirklich zentral. Wir sollten nie vergessen, daß wir 40 Jahre völlig abgeschnitten von diesen Gebieten gewesen sind. So war besonders in diesem ersten Jahr der Grenzöffnung jeder Besuch etwas Besonderes. Vielleicht helfen die folgenden Berichte, dieses Gefühl in der Erinnerung zu bewahren.
Literatur:
- Grenzgeschichten
- Nobel: Grenzfahrt
- DDR Anders reisen
- Baedecker DDR-Führer
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Ein Tag des Lebens (Keine Radtour) 19.11.89
Mit Superlativen soll man sparsam umgehen, benutzt man doch Wendungen wie "Tag des Jahres", "Hochzeit des Jahrhunderts" u. dgl. zu gern. Hier aber ist ein "Tag des Lebens", haben wir doch ein halbes Menschenalter auf ihn warten müssen und werden wir ihn für den Rest unseres Lebens nicht mehr vergessen.
Erstmal handelt es sich um einen ganz normalen Sonntag, den 19.11.89. Wie üblich schläft man aus, obwohl das Wetter schön ist und die Sonne scheint. Aber es ist recht kalt und es weht ein rauher Ostwind. Da läßt man es erstmal gemütlichin angehen und während das Frühstück bereitet wird, berät man, was am heutigen Tag unternommen werden könnte. Mir brennt es schon seit Tagen auf den Sohlen, man erlebt das Wunder der Grenze seit nun 10 Tagen, aber nur im Fernsehen oder in den flüchtigen Begegnungen mit den einströmenden Menschenmengen "von drüben". Aber auch wir wollen hinüber, nicht weil wir etwas brauchen oder uns dort holen wollen. Wie oft haben wir vor der unüberwindlichen Grenze gestanden, ein Denkmal des Wahnsinns und wie ein Schnitt durch uns selbst.
Plötzlich erzählen Nachbarn und Freunde, daß sie so einfach hinübergegangen sind, am vergangenen Sonntag, als es noch drunter und drüber ging und die Menschen sich in spontanen Begegnungen in den Armen lagen. Inzwischen ist eine Woche vergangen, ein bißchen ist das alles schon "normal", dennoch erleben wir an diesem Wochenende einen Rekordansturm auf unsere Städte.
Was also unternehmen? Am Sonnabend wäre ich schon mit dem Rad zu einem Grenzgang aufgebrochen, der kalte Wind und die Ungewißheit, ob man so einfach ohne Visum hinüber kann, haben mich davon abgehalten. Heute sind die Kinder mit von der Partie, also beschließen wir, eine Erkundungsfahrt mit dem Auto zu machen. Pässe und Landkarten sowie ein Beutel Apfelsinen sind schnell eingepackt und wir fahren los. Über Stöckheim, Salzdahlum nach Ahlum, ab hier begegnen uns immer mehr "Trabbis" und "Wartburger", wie Stefanie sie nennt. Wir kommen nach Schöppenstedt, das ist sonst ein verschlafener Ort am Rande der Welt. Heute ist es anders, die Straßen sind zugeparkt und die Menschen drängen sich in den Geschäftsstraßen.
Nun fahren wir in Richtung neuer Grenzübergang Mattierzoll, von dort wäre man im Nu im Ostharz. Die Gegend wird in Richtung Grenze immer einsamer, hier befindet man sich im Großen Bruch, heute allerdings längst landwirtschaftlich nutzbar gemacht. In Mattierzoll wird aussortiert, wer nur gucken will, muß hier das Auto abstellen. Auf Anfrage erfahren wir, daß heute der Übergang ohne Visum nicht möglich ist. So gehen wir den Kilometer bis an die Grenze zu Fuß. Viele sind mit uns unterwegs und freuen sich über die Szenen, die sich bei der Einreise der strahlenden und winkenden DDR-Bürger ereignen. Manche stecken ihnen gleich Geschenke oder Zeitschriften durch die Autofenster. Aber auch ein Trabbi hat was mitgebracht: unseren westdeutschen Grenzern werden ein paar Flaschen überreicht. Ob auch die Kollegen auf der anderen Seite etwas abgekommen haben?
Hier kann man nun nicht weiter, aber es wird uns gesagt, daß von Schöningen nach Hötensleben heute ein neuer Übergang besteht, dort soll eine Art Volksfest stattfinden. Mir ist ein bißchen mulmig bei dem Gedanken an die Menschen- und Automassen, die einen dort womöglich erwarten. Aber es gibt nichts zu überlegen, mit unseren verschiedenen ausländischen Gästen haben wir genau an diesem Punkt, am Fährhaus Hötensleben schon fassungslos gestanden. Das war 1978 mit Tiziana aus Italien, in weiteren Jahren mit Anne aus Uganda, Pierre und Sylvian aus Frankreich sowie Teresa aus den USA. Nur in diesem Jahr haben wir es versäumt, unsere Gastschüler aus Frankreich, Neuseeland und Spanien dorthin zu führen. Hätten wir es nur getan, sie hätten ein Stück Geschichte erfahren.
Nun wollen wir selbst die Geschichte erleben und voller Spannung fahren wir nach Schöningen. Natürlich ist auch hier alles voller DDR-Fahrzeuge. Die Zufahrt nach Hötensleben ist ausgeschildert, dann kommt aber zunächst ein Sperrschild. Wir landen vor dem Bahnhof in Schöningen und fahren im Kreis. Nun fahren wir um die Absperrung herum und kommen auf diese Weise etwas weiter. Bald aber stehen Männer vom THW auf einer Kreuzung und erklären, wie es weitergeht. Es besteht ein Pendelverkehr mit Bussen zur Grenze, das Auto stellen wir ab.
Die Straße zur Grenze gleicht einem Karawanenweg, Pkws, Busse, Fahrräder und viele Fußgänger versuchen miteinander auszukommen. Wir warten erstmal auf einen Bus, leider fährt einer nach dem anderen an uns vorbei, entweder weil er bereits besetzt ist oder der Fahrer nicht bemerkt, daß Leute mitfahren wollen. Als nach einiger Zeit einer hält, können nur etwa 8 Leute einsteigen, zu denen wir naturgemäß nicht gehören. Als wieder ein Bus naht, winkt uns aber zuvor ein offensichtlich gutgelaunter junger Mann an sein Auto und läd uns zur Mitfahrt ein. Ohne das Auto lange zu betrachten, steigen wir ein, und eröffnen mit einem "Auch von drüben ?" das Gespräch. Aber wir haben uns zu unserem Bedauern geirrt, wir sitzen in einem Renault mit Helmstedter Kennzeichen, unser Fahrer will mit dem Auto hinüberfahren. Gerade davon haben wir ja angesichts des drohenden Verkehrskollapses Abstand genommen. Nun - jedem seinen Spaß, so kommen wir jedenfalls angenehm an die Grenze und erzählen und hören noch so das eine oder andere. Am Fährhaus angekommen steigen wir aber aus, die entscheidenden Meter müssen wir zu Fuß zurücklegen.
Hier sind auch einige Buden aufgebaut, noch hat man keine überhöhten Preise erhoben. Wir essen jeder eine Wurst, nur Stefanie beschränkt sich angesichts der aufregenden Ereignisse aufs Zusehen. Nun betrachten wir erstmal in Ruhe das Bild, daß sich einem hier bietet. Wie auf einer Ameisenstraße ziehen Fahrzeuge und Fußgänger in beiden Richtungen durch die Durchbrüche in den beiden Grenzmauern. Nachdem wir uns gestärkt haben, reihen wir uns in die Kolonne ein, ich sage noch "Bis hierher waren wir schon" und einen Schritt weiter "Und bis hierher noch nicht", da befinden wir uns schon auf der Brücke über den Grenzbach, dann unmittelbar vor der klaffenden Lücke in der Mauer, dann im Todesstreifen. Nicht jetzt aber später fällt mir der Vergleich mit der Mondlandung ein: "Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit". Wie gut paßt das jetzt, eine halbe Autostunde von zu Hause entfernt.
Erstmal gibt Heidi ihre in solchen Situationen erprobte Vorstellung. Es gelingt ihr hier wie später nur ganz unvollkommen das gleichzeitige Gehen und Umherschauen. Wir passieren nämlich gerade unseren Chauffeur und winken ihm zu, da tritt Heidi zwischen zwei Betonplatten ins Leere und liegt der Länge nach auf DDR-Gebiet. Der Schreck dauert nur kurz, es ist nichts passiert, also hat man was zu lachen. Wer war nun zuerst drüben ? Wir passieren erstmal ganz ordnungsgemäß die Grenzkontrolle. Da wir natürlich die Pässe dabeihaben, lassen wir uns jeder einen Stempel geben. Noch ein Blick auf den Todesstreifen, alles ist plattgewalzt, vor den Mauern stehen ein paar spanische Reiter, Gitter- und Stacheldrahtreste sind auf einem Haufen zusammengeschoben. Links oben auf der Anhöhe steht ein blauer verwahrlost aussehender Beobachtungsturm. Der soll nur verfallen: "Schaut ihn Euch nochmal an, bald verschwindet er sicher."
Dann sind wir im Dorf Hötensleben, fast unsicher auf den Beinen weil umherschauend, wie sieht es nun hier aus, was für eine Atmosphäre herrscht hier? Gleich hinter der Grenzmauer kleine geduckte Häuser, nicht verwahrlost aber ärmlich, wie kann man hier leben und atmen? Auf holperigem Pflaster geht es die Straße hinauf, vorbei an der langen Autoschlange Richtung Westen. Oben an der Kurve qualmt es, da steht ein sonderbares Gefährt. Bei Näherkommen entpuppt es sich als graue Feldküche. Hier wird aber weder gegrillt noch Eintopf angeboten, sondern aus heißem Wasser und Jamaika Rum ein dem Wetter entsprechendes Gebräu ausgeschenkt. Gegenüber eine Drogerie, in dem kleinen Vorgarten sind ein paar Begrüßungstafeln aufgestellt, man fotografiert.
Da öffnet sich die Tür, eine Frau tritt auf die Treppe und sagt: "Herzlich Willkommen hier bei uns, vielen Dank, daß Ihr alle herkommt, wir sind so ein toter Ort." Wir können gerade sagen, daß wir uns freuen, kommen zu dürfen, stehen dann aber einen Augenblick uns sprachlos gegenüber. Da kommen der Frau die Tränen und sie geht wieder hinein. In den Eingängen der Häuser sieht man sonst keine Menschen, vielleicht sind sie alle "rüber".
Eine Ecke weiter ist ein Lokal, man drängt sich hinein, auch wir. Es ist überfüllt, die Ausstattung ist dürftig, aber das stört niemanden. Ich finde das fast besser als unseren Wohlstandsluxus, aber wir haben das ja nicht jeden Tag zu ertragen. Hier hält es uns auch nicht, wir wollen noch mehr sehen. Erstmal schaun, wo die Kirche ist, denn da ist wohl auch hier noch immer der Ortsmittelpunkt. Bald stehen wir vor ihr, die Türen stehen weit auf, von innen dringt Orgelmusik und Gesang. Wir gehen hinein, wann hätte man eher einen Grund, ein Gotteshaus zu betreten, als heute.
Was wir sehen, hören und empfinden, nimmt uns die Sprache und treibt uns die Tränen in die Augen. Man singt "Lobet den Herren", begleitet auf der Orgel, alle Kerzen sind angezündet, der Altar und der Orgelprospekt sind im Barockstil prächtig ausgestattet, wir entdecken die Jahreszahl 1691. Wenn man die Augen schließt, durchatmet und denkt, wo man nun steht, man glaubt es nicht. Heute morgen habe ich noch zu Hause mein gekochtes Ei aufgeklopft und nun stehe ich in der Kirche eines Ortes, in den wir viele Male sehnsüchtig hinübergeschaut haben. Ausgerechnet hierher kommen wir das erste Mal! Mit dem einen oder anderen sprechen wir ein paar Worte, wie schön ist es, daß einen hier der erste Gang in die Kirche führt.
Wieder draußen entdecken wir bald, daß es eine weitere Kirche gibt. Diese ist viel größer, besser ausgestattet und in bestem Zustand. Das ist die katholische Kirche, trotz ihrer besseren Ausstatttung strahlt sie aber nicht die Heimeligkeit der "armen" evangelischen Kirche aus. Hier sind zu diesem Zeitpunkt nur ein paar wenige Gäste versammelt, der katholische Pfarrer befindet sich lange nach Ende der Messe immer noch in der Kirche, begrüßt jeden mit Handschlag und beantwortet die vielen Fragen. Nun erfahren wir allerhand Interessantes über den Ort und über das Zustandekommen der Grenzübergangsstelle. Nebenan hat man eine Schule zu einem Wiederaufnahmelager für Rücksiedler eingerichtet, nicht ein einziger drängelt sich dort bislang. Wir hören von zwei Industriebetrieben, einer Trocknerei für Landwirtschaftserzeugnisse und einem Armaturenwerk für Geräte der Milchwirtschaft, das 300 ArbeiterInnen beschäftigt. Die überschüssige Wärme der Trocknerei wird in teilweise unisolierten Rohren quer durch den Ort zum Heizen des Armaturenwerkes geleitet.
Nach dem Besuch der beiden Kirchen gehen wir nun noch ein wenig herum, schauen über die Zäune und sind neugierig. Einmal sehen wir alte Gerätschaften, die man bei uns als Dekorationsstücke gut absetzt wie Butterfaß, Waschtrog usw. Wahrscheinlich wird das nun alles bald zu Geld gemacht. Hoffentlich verfällt man hier nicht in dem Bedürfnis, alles nachzuholen, in die gleichen Fehler wie bei uns, indem alles glattgebügelt, einheitlich renoviert und verkleidet wird. Noch ist es nicht so weit und man erlebt ein Dorfbild, wie man es von seiner Kindheit kennt.
Schließlich stehen wir vor einem Uhrmacherladen, der hat geöffnet und kann sich über mangelndes Interesse nicht beklagen. Viele Leute kaufen sich hier ein Erinnerungsstück an diesen denkwürdigen Tag, schade nur, daß einige in weniger würdiger Weise versuchen, geradezu um die Preise zu feilschen. Unser Uhrmachermeister kommt aber sicher auf seine Kosten, wann hat es soviel Volk hier gegeben, mindestens seit Kriegsende nicht mehr, und das sind an die 45 Jahre. Der Uhrmacher ist Jahrgang 53, wie ich der Meisterurkunde an der Wand entnehme. Als Andenkenstück erstehen auch wir eine Bauernpfeife mit Porzellankopf.
Mit der Pfeife in der Hand ziehen wir, langsam zielloser werdend weiter. Noch ein Blick in den Supermarkt, den es hier auch gibt. An Waren scheint es eine Menge zu geben: Waschmittel, Spirituosen. Doch wo es fehlt, sehen wir ja an der Kauflust bei uns: frische Lebensmittel, Obst, Südfrüchte, alle Importware.
Ich schlage vor, abschließend nochmal in die kleine Kirche zu gehen. Auf dem Weg dorthin begegnen wir einem sehr feinen Ehepaar so nach dem Motto: erst kommt die Video-Kamera, dann ich, dann Mutti; jedenfalls bewegt man sich in dieser Reihenfolge durch die Gegend. Von der Sorte laufen hier eine ganze Menge Leute herum, für die ist es egal, ob sie im Zoo, im Heidepark oder hier sind, Hauptsache, es ist was zu filmen.
In der Kirche ist es recht voll, ein Angehöriger der Landeskirche vertritt jetzt den Pfarrer, der den heutigen Tag bislang für einen gemeinsamen Gottesdienst in der Gemeinde Schöningen nutzt. Wir hören einiges über die Geschichte des Ortes und der Kirche, erfahren wie schwer es ist, die Bausubstanz zu erhalten. Das sieht man besonders bei einer Besichtigung der Kirche von außen. Als wir wieder hinausgehen, kommen wir noch in ein Gespräch. Wir erfahren den Namen: Frau W., Wallstraße, daher leicht zu merken. Auch ihr kommen die Tränen, die Freude, daß alle aus dem Westen kommen. Dieses Ereignis, von dem man zwei Tage vorher noch nichts wußte, ist überwältigend. "Warum haben wir uns solange einschüchtern lassen ?" ist eine Frage. Die Antwort ist einfach oder auch nicht: solange die Angst regieren konnte, war das wohl möglich. Wir verabschieden uns, man sagt "Auf Wiedersehen", denn es wird eines geben.
Beim Hinausgehen kommt ein Wirbelwind um die Ecke, bärtig, Zottelmähne, ein Kind in der Rückentrage. "So, ich werde gebraucht.." oder sowas vernehmen wir noch, dann ist er schon in der Kirche. Das also ist der Pfarrer!
Nun machen wir uns auf den Rückweg, immer mehr Menschen kommen uns entgegen und wir sind froh, daß wir schon früher da waren. Stefanie klaubt im Todesstreifen einen Betonbrocken als Souvernir auf, in der Schule behandelt man gerade die Vorgänge in der DDR, da ist dieses Stück Stein geradezu ein Dokument. Am Fährhaus fahren wieder die Busse, eine Tasse Kaffee noch und dann geht es zurück. Die Straße ist jetzt noch voller, bis an den Horizont steht die Warteschlange der Autos. In Schöningen besteigen wir wieder unser Auto und fahren zurück nach Braunschweig.
Was wir heute erlebt haben, werden wir nicht mehr vergessen.
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24.12.89 Freie Fahrt nach Wernigerode
Nach dem Besuch unseres Herrn Bundeskanzlers in der DDR hat man sich nun auf den 24.12.89 als Termin für die Abschaffung des Visums und des Zwangsumtauschs bei Einreisen von Bundesbürgern in die DDR geeinigt. Zwar habe ich das vorsorglich bestellte Visumsformular inzwischen zugestellt bekommen, doch so eilig ist das nun im Winter mit dem Reisen auch wieder nicht. So enteilen die Ereignisse wieder einmal der Vorausschau, das Visum kommt nicht mehr zum Einsatz.
Am 23.12., einen Tag vor dem großen Ereignis ruft Thomas an, am Telefon melde ich mich gleich mit "Wo soll's denn hingehen" und treffe damit auch schon den Punkt: gleich am Heiligabend los, möglichst mit dem Rad. Ein vorsichtiger Blick Richtung Frühstückstisch, wo der Rest der Familie und Hund eines harmonischen Familienweihnachtsfestes harren. Zustimmendes Kopfnicken, "fahr man los" oder dgl. macht die Sache perfekt. Schließlich fällt in diesem Jahr der Heiligabend auf einen Sonntag, da kann man den Weihnachtsbaum schon am Sonnabend aufbauen, eine Arbeit, die manchmal schon Stunden erfordert und blutige Hände verursacht, weil für gewöhnlich der Stamm nicht in den Ständer hineinpaßt. Dieses Jahr haben wir ein bescheidenes Bäumchen, da macht das keine Probleme - ein gutes Omen.
Bald nach 8 Uhr brechen wir auf, verstauen die Räder auf dem Dach bzw. im Rückraum des Autos und fahren dann über Wolfenbüttel Richtung Bad Harzburg. In Bettingerode bei Harzburg wird der Wagen vor einer Metzgerei abgestellt, knappe 10 km sind es von hier noch bis an die Grenze. Viel ist heute morgen noch nicht los, es herrscht kaum Verkehr. Das ändert sich aber nach der Einmündung in die Bundesstraße von Bad Harzburg nach Eckertal, in beide Richtungen wird es nun lebhafter, wir als einzige Radfahrer fühlen uns da weniger wohl. Bald zeigt sich das Ende eines - jetzt noch kurzen - Autostaus, an den Fahrzeugen vorbei fahren wir um eine Kurve und stehen an der Grenze. Auf unserer Seite steht ein Spielmannszug aus Silstedt b. Wernigerode und spielt zur Begüßung ein paar flotte Weisen. An der Reaktion der Menschen, die von beiden Seiten die Grenze passieren, spürt man schon ein wenig von dem bevorstehenden Empfang auf der anderen Seite.
Nachdem Thomas fertig photographiert und eine Weile in seinem Gepäck herumgepumpelt hat, zwängen wir uns neben den Autos durch den Todesstreifen. Noch hat man nichts unternommen, dieses schaurige Relikt des kalten Krieges zu beseitigen. An der Abfertigungsstelle der DDR-Grenzbeamten ist man sehr freundlich, nicht nur weil Heiligabend ist, wünscht jeder jedem eine frohe Weihnacht. Wir bekommen eine Zählkarte in den Paß gelegt, die ausgefüllt werden und bei der Ausreise abgegeben werden muß.
Dann passieren wir den zweiten Grenzzaun und befinden uns nun im früheren Sperrgebiet, bis vor kurzem auch für die DDR-Bürger unzugänglich. Trotzdem stehen hier noch Häuser. Wie sind die Menschen, die hier leben, bloß mit der Einsamkeit fertig geworden. Heute ist es damit vorbei, auf beiden Seiten der Straße stehen die Leute, die meisten mit kleinen Geschenken für die Einreisenden. Ich will erstmal gar nichts haben, einen Schluck Tee lassen wir uns aber spendieren. Man will sich nun für den Empfang der DDR-Bürger in der Bundesrepublik nach Öffnen der Grenzen am 11. November revanchieren.
Nun fahren wir los, alles sieht hier anders aus. Mehr als nach Überschreiten einer anderen europäischen Grenze hat man das Gefühl, in einem anderen Land zu sein. Dabei sollte es "ein" Land sein - oder wieder werden. Erstmal fahren wir durch Stapelburg hindurch, durch unsere Kleidung und Räder sind wir wohl jedem als Westler erkenntlich, entsprechend wird ständig gewunken, gehupt, geklingelt und ein frohes Weihnachtsfest gewünscht. Kurz hinter Stapelburg haben zwei eine Tafel am Wegrand aufgebaut, es werden Stollen, belegte Brote, Tee und wohl auch ein Schnäpschen bereitgehalten. Ein Stück Stollen lassen wir uns schmecken. Die beiden kommen von irgendwo hinter Blankenburg und sind extra zur Begrüßung hierher gefahren. In Blankenburg sei noch alles verschlafen, sagen sie.
Wir wollen erstmal nach Wernigerode und fahren weiter. Das erste Mal auf einer Straße, die wir in den nächsten Monaten und Jahren noch sehr oft bei Besuchen des Ostharzes befahren werden. Nun kommen wir nach Ilsenburg, hier liegt eine größere Industrieanlage, irgend eine Eisenverhüttung (inzwischen wegen lebensgefährlicher Dioxinablagerungen stillgelgt). Die Wohnviertel am Ortsrand sind einigermaßen trostlos, man hat da einfach ein paar Blocks hingebaut: nun wohnt mal schön. Viel anders geht es mancherorts bei uns ja auch nicht zu. In einer Garage hat man ein provisorisches Lokal eingerichtet und versucht mit Transparenten, die Vorüberfahrenden zu einer Einkehr zu bewegen. Die Ortsmitte von Ilsenburg ist recht malerisch, eine kleine Wasserfläche, ein Platz mit einem traditionsreichen Restaurant (Goethe, Heine usw.), recht verwinkelte Nebensträßchen, die wir ein kurzes Stück im Ilsetal aufwärts erkunden. Hier könnte man auch geradewegs zum Brocken weiter, auch dafür wird es noch Gelegenheit geben.
Wir verlassen Ilsenburg und fahren über Drübeck und Darlingerode nach Wernigerode. Einige Male müssen wir noch anhalten, ein paar Worte wechseln und irgendeine Aufmerksamkeit entgegennehmen. Einer erzählt, daß er gleich am ersten Tag nach Grenzöffnung bis Nürnberg "durchgetrabbit" sei und mitten in der Nacht die verdutzten Verwandten aus dem Bett getrommelt habe. Da kommt Freude auf.
In Wernigerode fahren wir erstmal ein bißchen außen herum, nähern uns schließlich von der Bergseite her der Ortsmitte. Unversehens stehen wir auf dem Marktplatz dem historischen Rathaus gegenüber, von dem man schon oft gehört hat. Sogleich werden wir angesprochen, einer erklärt uns, wo sich der Empfang mit Kaffee und Kuchen befindet, ein anderer zählt die Orte einer Radtour auf, die er vor dem Krieg durch Deutschland unternommen hat. Nicht einmal Luft holen muß er dabei.
Reges Interesse rufen die elektronischen Tachometer hervor, die gibt es hier noch nicht. Jetzt ziehen wir lieber erstmal weiter. Quer zum Marktplatz verläuft eine Fußgängerpassage. Der Ort erinnert sehr an Wolfenbüttel oder Duderstadt. Schaut man sich nun erstmal um, so beeindruckt die einheitliche Fachwerkbauweise, die Häuser scheinen alle in gutem Zustand zu sein (später werden wir anderenorts noch andere Beobachtungen machen). Es gibt auch viele Geschäfte, in wohltuend bescheidenem Rahmen, nicht so konsumheischend wie bei uns. Heute sind sie natürlich geschlossen, gerne hätte ich sonst eine Wanderkarte der Gegend gekauft, die man ja bei uns noch nicht bekommt.
Am Ende der Fußgängerzone biegen wir in eine Seitenstraße und schauen uns eine Kirche aus dem 12. Jahrhundert von außen an (St. Johannis). Leider ist sie noch zugesperrt, der Christgottesdienst findet erst am Abend statt. Jetzt sind wir ein wenig durchgefroren, langsam beginnt es zu nieseln. Etwas unsicher betreten wir das Cafe am Marktplatz. Es ist fast leer, ein Fensterplatz neben der Heizung ist genau das richtige für uns. Einen Kaffee bekommen wir sofort, der zweite dauert etwas länger. Ich habe kein Kleingeld, Ostmark haben wir sowieso nicht. Also muß Thomas den Kaffee ausgeben, was ihm angesichts der für unsere Verhältnisse sehr niedrigen Zeche wohl auch nichts ausmacht. Rechnet man die 5 DM für 4 Kännchen Kaffee auch noch zum Kurs 1:3, so muß man sich fast schon schämen. Da sollte man doch bei solchen Gelegenheiten immer 1:1 zahlen.
Einigermaßen aufgewärmt verlassen wir das Cafe, es macht auch gleich zu. Es regnet schwach, Thomas meint, wir sollten noch hinauf zur Burg oben am Berg. Mir fehlt die Lust, - da sei wohl heute nichts mit mir los - ist die Reaktion. Das kann ich wegstecken. Stattdessen gucken wir nochmal hinter das Rathaus, müssen dazu durch einen überdachten Gang neben der Baustelle des Hotels "Gothisches Haus". Ob man diesen Bau noch restaurieren kann, ist fraglich, alles wird durch einige Zugträger provisorisch zusammmengehalten. Hinter dem Rathaus ist das Pfarrhaus, dort ist der Empfang. Trotz Heiligabend sind wir heute (noch) nicht so christlich gestimmt, daß wir da hineingehen wollen. Dafür gehen wir ein paar Meter mit einer Gruppe und Stadtführer mit, hier werden die verschiedenen Bau- und Fachwerkformen anhand der Knaggen und Bänder erklärt.
Wir starten wenig später zur Rückfahrt, die sich nun nicht ganz so genußvoll gestaltet, da es regnet und die Nässe von oben und unten nicht zum Wohlbefinden beiträgt. Wacker winken wir aber weiter unseren "Brüdern und Schwestern" zu. Uns kommen doch ein paar Zweifel, ob die bisher durch Abwechslungen wenig verwöhnten Anwohner der Bundesstraße sich im Klaren sind, was in der Zukunft hier verkehrsmäßig auf sie zu kommt. Ob sie da auch so freudig winken würden? Heute macht man sich sicher noch keine trüben Gedanken. Eine Zeit lang fährt ein Junge mit uns, der möchte sich das an der Grenze einmal ansehen. Das durfte er früher auch nicht. An der Grenze ist nun wesentlich mehr Betrieb als am Vormittag, der Autostau in Richtung Westen ist kilometerlang. Mit den Rädern sind wir wie immer flexibel, nach problemlosen Überschreiten der Grenze fahren wir die Autoparade bis zur Abzweigung nach Bettingerode ab. Wenig später sind wir wieder an unserem Auto, an dem ich allerdings um ein Haar vorbeigerauscht wäre. Der Kilometerzähler zeigt genau 50 zurückgelegte km an.
Nachdem die Räder und wir verstaut sind und die Heizung im Wagen ihren Dienst tut, fühlt man sich bald wieder behaglich. In Hºhe Vienenburg regt Thomas an, sich mal den dortigen Grenzübergang anzusehen, da wüßte man für später gleich, wo der sei. Zu diesem Zweck muß ich mich dann auch erstmal gründlich verfahren. Die Strecke zu den Kiesteichen endet im Nichts. Ebenso geht es einigen anderen, die mir wohl gutgläubig gefolgt sind. Dennoch gelingt es allen, kurz vor Abkippen in einen der Teiche, zu wenden. Vor Vienenburg fragen wir vernünftigerweise erst einmal einen Anwohner und erhalten die erwartete Auskunft, daß der Grenzübergang gerade in der anderen Richtung sei.
Bald sind wir dennoch dort angelangt, schließlich ist es auch ausgeschildert. Auch hier ist es interessant, die Grenzanlagen sind hier wie überall sehr sorgfältig durchdacht. Heute steht daneben ein großer Tannenbaum. Die wartenden Autos kann man überschauen, da bietet sich doch an, daß wir gleich nochmal rüberfahren und ein paar Orte weiter in Hessen - Mattierzoll wieder raus.
So wird es gemacht, nach wenigen Minuten sind wir schon wieder in der DDR, diesmal mit dem Auto. Jetzt kommt das Verblüffende: wir fahren durch Orte, deren Existenz wir bislang überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben. Die Ortsnamen haben wir noch nie gehört, obwohl wir uns jahrelang nur wenige km weiter westlich herumgetrieben haben. Da kommt zuerst Lüttgenrode, sehr malerisch an einem Berg gelegen. Das Dach der Kirche ist verfallen, obwohl diese auf dem Berg das Ortsbild entscheidend prägt. Dann liegt vor uns Osterwiek, ein Ort so groß wie Hornburg oder Vienenburg, dennoch nie etwas davon gehört. Die Ortsmitte bekommen wir heute nicht zu sehen, da wir nur auf der Durchfahrt sind, auch hat man mit ständigem Lichthupen und Winken bei jedem entgegenkommenden Trabant oder "Wartburger" vollauf zu tun. An dem auffälligen Postgebäude in Osterwiek vorbei, dann fahren wir noch durch die Orte Deersheim, Dardesheim und Hessen.
Manchmal sieht es aus wie in Frankreich, wenn die Gebäude einheitlich in Kalkstein gebaut sind. Viele landwirtschaftliche Gebäude sind verwahrlost. Im Gegensatz dazu machen die moderneren LPG-Betriebe einen modernen Eindruck, wie ein Hennenzuchtbetrieb bei Deersheim. Allerdings sehen diese Betriebe wie Industrieanlagen aus und bereichern nicht unbedingt das Landschaftsbild. Noch zwei Dinge fallen uns auf: die Obstbäume entlang der Straßen sehen anders aus als bei uns, anscheinend macht sich niemand die Mühe, sie zurückzuschneiden. Zum anderen beobachtet man viele Raubvögel: Bussarde und Milane. Kommen sie hier häufiger vor und warum?
In Hessen halten wir noch einmal kurz an und bewundern die verfallende Domäne, einen Turm mit Dachgerüst aber ohne Dachbedeckung sowie die alte Aufschrift auf einem Lokal: "Reisegespanne zu vermieten". Dann geht es noch ein paar Kilometer über mehr oder weniger gut gepflasterte Straße an die Grenze. Ein paar Jugendliche schwingen die Deutschlandfahne, selbst der Grenzbeamte an der Wachstation der inneren Sperrzone winkt freundlich. Wieder die Zählkarten abgeben, kurz die Pässe gezückt und wir sind wieder im gelackten Westen. Thomas meint zwar, er hätte nichts gegen die nun komfortablere Straße, die wir nun entlanggleiten, doch ich fand das alles an diesem Tag geradezu abenteuerlich. Wie sich zeigen wird, hat es mich gepackt, mich lassen die Eindrücke nicht in Ruhe und ich bin noch eine Zeit nicht zu bremsen, diesen Hunger nach Kennenlernen dieser so nahen und bisher unerreichbaren Welt zu stillen.
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26.12.89 Radtour Duderstadt - Nordhausen
Ich habe noch nicht genug, hauptsächlich liegt das am Wetter.
Die Sonne scheint so schön, da muß man einfach raus. Da der Tag nach
Weihnachten ohnehin von Hausarbeit geprägt sein wird, hole ich die
Genehmigung für eine Tagestour ein. Erst einmal sitzt man vor der Karte
und hat freie Auswahl. Bei den vielen Möglichkeiten, innerhalb einer
guten Autostunde ein Ziel zwischen Mecklenburg und Thüringen zu
erreichen, fällt die Wahl nicht leicht. Ich entscheide mich für das
obere Eichsfeld, das sich von Duderstadt aus anfahren läßt. Dann kann
man sich so Richtung Nordhausen und den sagenumwobenen Kyffhäuser
vorarbeiten.
Im Morgengrauen - das ist um diese Jahreszeit nicht allzu früh - fahre ich los. Es geht über Herzberg, Gieboldehausen und Duderstadt bis Gerblingerode, wo ich gegen halb 10 Uhr eintreffe. Hier ist der Grenzübergang nach Worbis. Auf einem großen Parkplatz wird das Auto abgestellt, das Fahrrad ausgeladen und die Tasche gepackt. Dann fahre ich an einer nur kurzen Autokolonne entlang zur Grenzkontrolle. Ich bin noch gar nicht ganz da, da ruft mir der Grenzer schon zu, ich könnte gleich wieder umkehren, der Übergang sei nur für Autos. Das schockt mich nun nicht so sehr, notfalls kann ich ja wieder in das Auto steigen. Ein westdeutscher Grenzer erklärt mir aber den Weg zu dem 3 km entfernten Fußgänger- und Pedalritterüberweg.
Ich bin froh, daß ich diesen über Feldwege mit vielen Abzweigungen finde. Eine Gruppe von Wanderern entsteigt den Autos. An der Kontrollstelle heißt es: "Na, er hat seinen Globus vorne drauf", damit ist die Karte am Lenker gemeint. Der Beamte vom Zoll will es hier genau wissen, wieviel Geld ich dabei hätte und ob ich Waren in die DDR einführen wollte. Ich habe zwar einen Korb hinten auf dem Gepäckträger, das gibt aber wohl doch noch keinen Anlaß, einen größeren Schmuggeltransport zu vermuten. Das ganze war wohl auch nicht so ernst gemeint, nun kann ich endlich in die Pedale treten.
Man kommt gleich in den kleinen Ort Ecklingerode, hier geht man heute seiner geregelten Arbeit nach und nimmt von mir als Radfahrer keine Notiz. Dabei wollte ich doch wieder so viel winken. Entlang eines kleinen Flußtales kommt als nächstes der Ort Brehme. Danach geht es hinauf, hier ist genau die Wasserscheide zwischen Weser- und Elbe-Einzugsgebiet. So bis auf ca. 400 m muß man wohl klettern, da kommt man schon ins schwitzen. Oben wird erstmal Rast gemacht. An der Straße liegt ein merkwürdiges Haus, in einem Anbau sind lauter kleine Verschläge. Wenig später schlagen dort Hunde an, ein Mann guckt kurz um die Hausecke, verschwindet aber wieder. Ob das ein Quartier für die "Grenzhunde" ist? Hat wohl auch ausgedient. In Richtung Osten geht es nun hinab in das Tal der Bode, diese entspringt in den nahen Ohmbergen und mündet in Wipperdorf kurz vor Nordhausen in die Wipper.
Zuerst kommt der Ort Holungen, der sich heute tüchtig einnebelt, da kaum Wind herrscht. Im Ort sieht man kaum mehr etwas von der Sonne. Kurz hinter dem Dorf liegt ein großer Abraumberg von einem Kalischacht. Hier hängen noch Plakate von Planerfüllung usw. herum. Daneben sind ein paar häßliche Wohnblocks für die Arbeiterfamilien. Die müssen hier wohl auch sehr abgeschieden wohnen. Ein Gelände mit Schrebergärten verrät etwas über das Freizeitfreuden derer die hier leben.
Weiter geht es über Bischofferode, Großbodungen und Kleinbodungen. Es wird immer dunstiger. Noch bevor ich die Bundesstraße 80 von Worbis nach Nordhausen erreiche, fahre ich im dichtesten Nebel. In der Hoffnung, daß sich dieser irgenwann auflöst, geht es von Wipperdorf weiter nach Nordhausen. Auf den Höhen scheint noch die Sonne, aber sobald es wieder hinunter geht, taucht man in den eisigen Nebel ein, es ist gleich ein paar Grad kälter. Daß man sich Nordhausen nähert, ist auf diese Weise nicht festzustellen, nachdem ich die Abzweigung der B 243 vom Grenzübergang Mackenrode passiert habe, ist der Verkehr zusammengebrochen, die stehenden Autos verstänkern die Luft. Außerdem sind hier einige Industriebetriebe, da herrscht eine wohl nicht mehr harmlos zu nennende Smogsituation.
Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung ich mich halten muß, um in die Ortsmitte zu kommen. Ich frage einen Arbeiter und komme in ein ganz interessantes Gespräch über die politische Lage. Von einer "schleichenden Wiedervereinigung" und "Gorbatschow, einem feinen Kerl" ist die Rede. Ich mache mich auf den weiteren Weg. Die Autos untereinander grüßen sich hier wieder, als Radfahrer bin ich außen vor und werden ignoriert. Eine Gruppe fideler Krankenschwestern steht an der Straße, leider gilt deren Interesse auch mehr den passierenden Westbussen.
An einer Kreuzung scheine ich der Ortsmitte ziemlich nahe zu sein, nochmal frage ich nach dem weiteren Weg. Diesmal erklärt man mir eher unfreundlich - das gibt es also auch - daß es auf einem ansteigenden unbefestigten Weg zum Dom gehe. Es sieht hier zwar aus wie hinter'm Bahnhof, trotzdem schiebe ich hinauf und komme auch zwischen älteren Häusern raus. An den Resten einer Stadtmauer mache ich Rast und "genieße" die nicht vorhandene Aussicht. Man hört nur die Verkehrsgeräusche von unten. Durch den Nebel ist es so ungemütlich, daß ich mich nicht hinsetzen mag. So schiebe ich weiter durch die baufällige Straße. Auf einmal stehe ich vor dem Dom, sehe ihn aber nur unvollständig, die Türme verschwinden im Dunst.
Im Dom kann man nur in einen Vorraum, der eigentliche Innenraum ist nicht geöffnet. Ich gehe weiter, mein Unternehmungsgeist ist stark gebremst, ich befürchte, die Orientierung zu verlieren. Dem Fahrer eines westdeutschen Autos geht es wohl genauso, der hält an und fragt nach dem Weg zur Ortsmitte. Ob und wo es die gibt, weiß ich genauso wenig, nur den Weg zum Dom kann ich ihm zeigen. An Straßenzeilen mit verwahrlosten und leerstehenden Fachwerkhäusern vorbei gerate ich wieder auf die B 4, die nach Norden in den Ostharz führt. Da fährt auch eine Straßenbahn entlang. Ich kalkuliere die noch verfügbare Zeit. Um noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein, muß ich mich an den Rückweg machen. Mit dem Kyffhäuser wird das bei diesem Wetter ja auch nichts.
Jetzt weht der zwar schwache aber eiskalte Wind mir entgegen, verbissen fahre ich vor mich hin, umgeben von dem weiterhin dichten Nebel. Diese Sache macht keinen Spaß, das ist wohl doch nicht die richtige Jahreszeit. Ich kann mich auch nicht erinnern, schon einemal in der Weihnachtszeit Radtouren unternommen zu haben, in diesem Jahr ist eben alles anders.
Etwas abgekämpft komme ich wieder nach Wipperdorf, es geht über einen Bahnübergang, die Schranke ist unten, eine willkommene Pause. Neben mir steht ein Lieferwagen, die wundern sich wohl und kurbeln schließlich das Fenster runter. "Auf Rundfahrt durch die DDR?" , und wie die Eindrücke seien, werde ich gefragt. Ich sage nur, das Wetter sei nicht das geeignete zum Radfahren und erfahre daraufhin, daß ich Eis im Bart habe. Das wußte ich auch vorher schon. "Ganz schön mutig" finden die beiden noch, ob sie damit die Erstickungsgefahr meinen?
Die Bahnlinie scheint als Nebelgrenze zu fungieren, bald darauf wird die Luft klar. Ich bin nicht mehr gut in Form, die Strecke zieht sich sehr in die Länge. Es ist auch nicht so schön, auf der Bundesstraße zu fahren, aber zu mehr reicht es nicht mehr. Nach Gebra fährt man durch das Eichsfelder Tor an den Bleicheroder Bergen entlang. In Sollstedt ist wieder ein Kalischacht. Dann kommen die drei Orte Breitenworbis, Kirchworbis und Worbis. In Worbis fahre ich noch ein wenig herum, aber viel ist nicht zu sehen. Mechanisch geht es weiter, endlich wird Teistungen erreicht, danach muß ich abbiegen, um wieder nach Ecklingerode zu kommen.
Am Ortsausgang ist früher die DDR-Grenzabfertigung gewesen, jetzt steht aber alles leer, man hat die Abfertigung ja direkt an die Grenze verlegt. An der Straße nach Ecklingerode steht ein Schild: "Nur mit Sondergenehmigung zu befahren", das ist inzwischen durchgestrichen. Jetzt geht es nochmal über einen Berg, ich schiebe und die Stimmung bessert sich. Zum Grenzübergang führt dann auch eine sausende Abfahrt hinunter. Kurz vor 17 Uhr bin ich wieder am Auto. Das waren genau 100 km, die mir nicht leicht gefallen sind, fürs erste habe ich einmal genug vom Radfahren.
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7.1.90 Mit dem Rad in die DDR
Unter dieser Überschrift erschien schon im Dezember in der Braunschweiger Zeitung die Ankündigung einer Radfahrt, organisiert vom ADFC und der Fahrrad AG der Uni. Es soll rund um den Großen Fallstein gehen, also etwa der Strecke, die wir Heiligabend auf der Rückfahrt entlanggefahren sind. Da muß man natürlich mit. Thomas und Kollege B. sind auch leicht zu überzeugen, so fahren wir - weil wir heute faul sind - bis zum Ortseingang von Börßum mit dem Auto. Weitere 30 Radfahrer kommen mit dem Fahrradbus, 20 Unentwegte sind schon in Braunschweig gestartet. Gegen 11.30 sind alle versammelt und es kann losgehen. Mit dem Wetter haben wir großes Glück, es herrscht zwar Frost, aber mit malerischem Rauhreif und Sonnenschein. Auf Nebenwegen geht es los Richtung Mattierzoll, entlang dem Entwässerungsgraben im großen Bruch läßt es sich ohne jeden Autoverkehr auf schnurgerader Wegstrecke fahren. Zwischen 12 und 1 Uhr erreichen wir die Grenze, obwohl die Autos nun vierspurig abgefertigt werden, hat sich ein längerer Stau gebildet. Das liegt am schönen Wetter und daran, daß an diesem Wochenende in Quedlinburg ein Stadtfest stattfindet, zu dem die Menschen aus der Region Braunschweig/Wolfenbüttel eingeladen wurden.
Als wir die Autoschlange passieren, beschweren sich doch allen Ernstes ein paar Autofahrer, daß wir uns nicht hinten anstellen. Das kann man auch nicht ernst nehmen, so fallen wir mit über 50 Radfahrern über die Übergangsstelle her. Das hat es hier noch nicht gegeben, ein Reporter vom Radio FFN ist eigens dazu eingeladen worden und macht Interviews. Wir stehen daneben, wie er den DDR-Zollbeamten befragt und hören mit, daß dieser in Magdeburg wohnt, sonst in Marienborn Dienst tut, und nun aushilfsweise hier ist. Sensationell! Ansonsten zieht sich die Abfertigung der Radfahrer recht in die Länge, anscheinend haben wieder einige keine Pässe mit.
Endlich geht es weiter. Als so große Gruppe werden wir von allen Seiten mit Hallo begrüßt. In Hessen geht es gleich rechts ab Richtung Deersheim, so bekommt man den Ort gar nicht richtig zu Gesicht, aber wir kennen ihn ja schon. Wir fahren jetzt direkt östlich vom Großen Fallstein. Nach wenigen km kommt ein fliegender Kurier von hinten und meldet eine Panne. Da wird eine Pause am Wegrand eingelegt, es dauert wohl über eine halbe Stunde, bis die Havaristen eintrudeln. Dann geht es an Deersheim vorbei, lieber wären wir durch den Ort gefahren, aber zunächst bleiben wir noch bei der Gruppe. Es folgt eine langgezogene Steigung nach Osterwiek, hier zieht sich das Feld kilometerweit in die Länge. Am Ortseingang steht mit gezücktem Mikrofon wieder der Radioreporter.
Hier soll man sich sammeln: Aber das gefällt uns nicht, denn da steht ein Schild mit der Aufschrift "Osterwiek, besuchen sie die historische Altstadt", und das macht einen ganz ungeduldig. Wir stehlen uns also davon und besichtigen schon mal die malerischen Straßen. Zwei Straßen sind Fußgängerbereich, hier kommen wir unfreiwillig mit einem Polizisten in Kontakt, der uns von den Rädern expediert. Thomas versucht zu argumentieren, daß bei uns Radfahren in den Fußgängerzonen erlaubt sei (was aber nicht stimmt). Nur in Holland ist es wohl erlaubt, allerdings auch nur, wenn ausgeschildert. Darum soll es jetzt auch gar nicht gehen, schiebend also gelangen wir durch ein kleines Tor auf den Kirchplatz. Die Kirche ist beeindruckend, die mächtigen Türme sind durch einen Querbau verbunden. Die Türen sind alle zu. Wir fahren wieder zurück, man sieht in den Nebenstraßen wieder die verwahrlosten Häuser, gekümmert hat man sich jeweils wohl meistens nur um die innere "Puppenstube" der historischen Ortskerne.
Wir haben bereits beschlossen, daß wir uns von der Gruppe trennen wollen, denn es sind nur wenige km zurück Richtung Hornburg, und dann ist die Tour schon zuende. Bis zum Dunkelwerden bleibt uns aber noch genug Zeit, die Kreise etwas größer zu ziehen. Wir stoßen auf einige Versprengte, die sich nun nach Studium der Karte auf den Rückweg machen in der Annahme, die Gruppe sei schon weitergefahren. Zwei Ecken weiter kommt aber die ganze Blase herangerollt, die haben über eine halbe Stunde da in der langweiligen Toreinfahrt herumgestanden. So können wir uns wenigstens ordnungsgemäß abmelden. Auf geht's, ich fahre erstmal gemächlich voran, bis Kollege B. einen Spurt anzieht und die Führungsarbeit übernimmt. Auch Thomas blüht nun auf, obwohl er heute einen alten Dreigangesel gesattelt hat. Mein gewohntes Tourentempo muß ich in dieser Gesellschaft schon steigern, so komme ich auch ins Schwitzen, was ich sonst eher vermeide. Wir fahren entlang der Ilse über Berßel nach Wasserleben und Veckenstedt. Dies sind reine Bauerndörfer, sofern von den Bauernhöfen noch was übrig ist. In einem der Orte fällt eine Kirche mit einem Fachwerkturm ins Auge.
In Veckenstedt fahren wir nicht mehr nach Ilsenburg weiter, sondern quer nach Stapelburg. Ein ziemlicher Berg dazwischen ist nochmal eine ordentliche Herausforderung. Oben hat man eine schöne Aussicht zurück Richtung Ilsenburg und Wernigerode, da qualmt es wieder ganz schºn. Nun geht es hinab nach Stapelburg. Noch vor dem Ort beginnt der Autostau. Die Autos stehen mit abgestelltem Motor, offenen Türen und miteinander redenden Menschen, ein "Hort der Kommunikation". Einige rufen uns im Vorbeifahren zu "Ihr habt's gut", das sehen wir auch so.
An der Kreuzung regelt ein Polizist den ruhenden Verkehr, auf der anderen Seite stehen die Autos bis hinter Ilsenburg. Wir lassen uns auf den Weg nach Lüttgenrode über Abbenrode schicken. In Lüttgenrode haben wir heute Gelegenheit, die verfallene Kirche genauer zu inspizieren. Ein Drittel des Kirchenschiffes ist regelrecht zusammengebrochen. Auf der anderen Seite des Kirchturms hat man eine Scheune angebaut, auch diese verfällt. Das ganze Gelände ist wohl Teil einer ehemaligen Domäne, das Herrenhaus steht ein paar Meter weiter und der Spruch "...hat auch schon bessere Tage gesehen" drängt sich auf. Dieses Haus wird aber noch genutzt, wir haben aber nicht weiter nachgeforscht. Aus einem der alten Häuser schaut ein älterer Mann heraus, mit dem sich aber irgendwie nicht recht reden läßt.
Wir fahren quasi hinten aus dem Ort heraus, es geht einen kleinen Weg steil hinab, ich schiebe lieber, weil ich meinen Bremsen nicht traue. Wir schlagen uns nun durch - anders kann man das nicht nennen - nach Stötteringen. Die Straße ist nicht befestigt, wir können sie nur benutzen weil es gefroren hat. Im aufgetautem Zustand bleibt man hier sicher stecken. Wir wundern uns, daß selbst hier noch Autos aus der BRD herumschleichen. Einer fragt an uns an einer Kreuzung mitten in der Botanik, ob es in der Richtung, aus der wir kommen, nach Lüttgenrode gehe. Nachdem wir das mit Bestimmtheit bejahen können, fragen wir gleich zurück: "Und hier geht es nach Stötteringen", was auch bestätigt wird. So ist jeder zufrieden. Wir kurven also weiter um die Schlaglöcher herum und kommen dann auch bald nach Bühne und Rimbek, wo die Frau mit dem Honigkuchen wieder im Gange ist. Wir fahren heute aber vorbei. Der Ort ist wieder voll mit Spaziergängern, da müssen wir vorsichtig dran vorbei. Dann schieben wir wieder über die Grenze. Während wir die letzten Kilometer durch Hornburg nach Bºrßum fahren, wird es allmählich dunkel. Die Tour war 80 km lang, da reicht es mal wieder.
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13.1.90 Ausflug nach Oebisfelde
Bei schönem Wetter wollen heute Heidi und Stefanie zu einem neuen Ausflug mitkommen. Vor einiger Zeit stand ein vielversprechender Artikel über Oebisfelde in der Nähe von Wolfsburg in der Zeitung. Außerdem befindet sich dort das Feuchtgebiet des Drömling, der von Naturschützern gegen die systematische Austrocknung durch Trinkwasserentnahme verteidigt wird. Eine knappe Stunde Autofahrt muß allerdings wieder absolviert werden. Meinen Gewissensbissen darüber steht die Tatsache gegenüber, daß einige aus unserem Dorf etwa die gleiche Strecke jeden Tag zur Arbeit in das VW-Werk in Wolfsburg fahren.
In Wahrstedt parken wir also an der Kirche, laden die Räder ab und fahren dann über die Grenze. Uns werden nur die Zählkarten ausgehändigt, die Pässe werden überhaupt nicht kontrolliert. Gleich am Ortseingang von Oebisfelde liegt rechts die dem Verfall preisgegebene Burg, ein paar Gebäude werden noch genutzt. Links zieht sich die Stadtmauer entlang, eine Straße weiter biegen wir in eine Nebenstraße ein und bestaunen die Häuser, die hier in leidlichem Zustand sind. Immer wieder beeindruckend ist der anheimelnde Charakter der Straßen, der für uns nur in der Erinnerung existiert. Hoffentlich kann man das erhalten. Wir kommen direkt an der Kirche raus, sie ist verschlossen. Nun steigen wir wieder auf die Räder und fahren weiter auf der Straße Richtung Klötze. Bald liegt links eine weitere Kirche, da sind alle Fenster kaputt. Später erfahren wir, daß es die katholische Kirche ist. Nun kommt man zum Bahnhof Oebisfelde, wo schon früher ein Grenzübergang für die Bahnreisenden war. Entsprechend ist wieder alles abgeschottet, selbst auf der Bahnüberführung ist eine Wachstation, jetzt natürlich verwaist. Nun wird die Strecke weniger schön, vorbei an ein paar Industriebetrieben verläßt man Oebisfelde und wir fahren bis Wassensdorf. Das besteht fast nur aus Gehöften längs der Durchgangsstraße. Zur Straße befinden sich die Einfahrtstore, durch die man in die Höfe hineinsehen kann, sofern das Tor geöffnet ist. Die vielen Misthaufen lassen darauf schließen, daß doch ein Teil der Landwirtschaft noch privat betrieben wird, auch wenn hier wie überall am Horizont eine LPG-Großanlage erkennbar ist.
Direkt vor eine Scheunentür hat man einen Mast gebaut, auf dem ein Storchennest thront. Dessen Bewohner sind natürlich jetzt in wärmeren Gefilden. Das wünschen wir uns auch, als wir nun gegen den kalten Wind in das nächste Dorf Breitenrode fahren. Auch hier sind alle Häuser längs der Straße angeordnet, und es gibt wieder viel zu bestaunen. An einem Brunnen steht ein uriger Ziehbaum wie in Ungarn. Nachdem wir die Dorfstraße vor und zurück abgefahren haben, geht es die wenigen km zurück nach Oebisfelde, wo wir mit Instinkt gleich an den Bahnhof fahren. Zwei russische Soldaten sitzen im Warteraum, gegenüber schläft ein Individuum auf einer Bank. Vom Vorraum gelangt man in ein Mitropa-Restaurant, wo reger Betrieb herrscht und wir einen Platz finden.
Ein Mann sitzt bei uns, der kommt aus Wernigerode und wollte mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar zum Einkaufen nach Wolfsburg fahren. Leider hat er seinen Ausweis vergessen, da hat man ihn nicht rübergelassen. Nun wartet er hier, bis die anderen ihn abholen kommen. Er sagt, daß es nur zwei Lokale gibt, die geöffnet sind. Er gibt auch einen Kräuterlikör aus und verabschiedet sich mit Handschlag, als seine Frau und Freunde wieder da sind. Wir bestellen inzwischen etwas zu essen, Stefanie eine Gulaschsuppe und wir einen Schweinebraten. Alles ist spottbillig, doch jeden Tag möchte ich hier auch nicht essen, um es mal so zu umschreiben.
Immerhin sind wir gut durchgewärmt und fahren die Bahnhofsstraße entlang in die Ortsmitte. Wir besichtigen die Straßen, in denen wir noch nicht waren, das Rathaus ist hier wie überall in bestem Zustand. Die Burg sehen wir uns näher an und gehen dann nochmal zurück direkt an der Stadtmauer. Hinter dieser liegen kleine Gärten, dahinter kommt dann gleich der Grenzzaun. Wieder an der Kirche sehen wir Licht, es wird gerade jemand herumgeführt. Es ist der Sohn des ehemaligen Pfarrers in Oebisfelde, der kommt aus Karlsruhe, wie wir dann hören. Diese Kirche ist sehr liebevoll restauriert, besonders beeindruckend die getäfelte Holzdecke und die Brüstung der Empore.
Danach geht es wieder zurück, zum Glück haben wir es heute nicht weit. Am Grenzübergang wird ein Wolfsburger Fahrzeug genauestens kontrolliert, das haben wir auch noch nicht gesehen. Es gilt natürlich, den "Ausverkauf der DDR" zu verhindern, und da muß das wohl sein. Bald sind wir wieder am Auto und fahren über Wolfsburg nach Hause. Heute haben wir mit dem Rad stolze 20 km zurückgelegt.
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Mit dem ADFC in das Braunkohlenrevier
Am Sonntag, 22.4. veranstaltet der ADFC unter der bewährten
Führung von Peter Kreuzer eine Radtour in das Helmstedter
Braunkohlerevier. Die Tour ist mit etwa 90 km angekündigt, wenn man von
Helmstedt mit der Bahn zurückfährt. Der Start ist um 10 Uhr in
Riddagshausen, von dort geht es fast ausnahmslos auf Feldwegen und
Nebenstrecken südlich des Elms entlang. Es herrscht ein hierzulande
seltener Ost- d.h. Gegenwind. Trotzdem wird flott gefahren, man kann
sich immer einen Vordermann suchen, in dessen Windschatten es leichter
voran geht. Gegen Mittag erreichen wir die Grenze, als Grenzübergang
wird Hötensleben gewählt. Hier hatten wir ja unser
"Offenbarungserlebnis" am 19. November. Die Grenze ist hier noch genau
wie immer "erhalten", man sieht das ganze jetzt schon mehr wie ein
Denkmal an. Ein Mitfahrer hat seinen Reisepaß vergessen, es dauert eine
geraume Zeit, bis dieser abgefertigt ist, ein Passierschein kostet ihn
DM 15.-.
Nach der Ortsdurchfahrt Hötensleben biegen wir links ab und fahren innerhalb des ehemaligen Sperrstreifens durch frühere Tagebaugebiete. Teiche und kleine Gehölze lassen langsam wieder so etwas wie Natur aufkommen. Am Wege steht eine über 2 m hohe Staude einer Königskerze vom vergangenen Jahr - also noch vor der "Wende". Nach wenigen km sind wir schon am Grenzübergang Offleben, dort verlassen wir das DDR-Gebiet bereits wieder. Hinter Offleben passieren wir das vieldiskutierte Kraftwerk, von einem Übersichtspunkt kann man einen tiefen Einblick in die riesigen Abbauflächen der Braunkohle tun. Mit Schaufelbaggern und Förderbändern wird die Kohle in gewaltigen Mengen aus der Lagerstätte gewonnen. Im folgenden interessiert uns, wie ein solches Loch in der Landschaft Jahre nach der wirtschaftlichen Nutzung, d. h. "renaturiert", aussieht. Dazu fahren wir nach Reinsdorf, eine Ortschaft, die wie auf einer Insel zwischen den Abbaulöchern thront. Dahinter ist die wiederaufgeforstete Grube, beeindruckend sind die ausgedehnten Buschflächen aus Sanddorn.
Wir müssen unter viel Gestöhne eine steile Treppe hinunter, dafür wird unten eine Pause eingelegt. Ein paar 100 Meter fahren wir danach durch das teils wildromantische Gelände, naturgemäß geht es zum Abschluß wieder steil bergauf, um aus dem Loch herauszukommen. Der nächste Ort ist Hohnsleben. Dort ist schon wieder ein Grenzübergang - allerdings nur für Fußgänger und Radfahrer. Wir reisen also das zweite Mal am heutigen Tag in die DDR ein und genießen nun wieder Kopfsteinpflaster und andere Unwegsamkeiten. So gelangen wir nach Harpke, auf einem Platz in der Ortsmitte machen wie eine weitere Pause. Aus einer Pumpe läßt sich Wasser entnehmen, ein Schild versucht einem die Sicherheit zu vermitteln, daß es sich um Trinkwasser handelt. Da einigen, auch mir, die Flüssigkeitsvorräte ausgegangen sind, wird hier nachgetankt. Als ein etwas dummdreister Dorfbewohner beginnt, uns alle mit Handschlag zu begrüßen, machen wir uns auf den Weiterweg.
Bald passieren wir das Kraftwerk Harpke, das sicher auch nicht gerade Frühlingslüfte aus seinen Schloten entläßt. Wieder ein Blick in einen Braunkohleabbau, hier geht die Grenze mitten durch die Grube. Für Harpke wird dann auch die Kohle von ganz woanders her herangeschafft. Wir nähern uns nun dem Grenzübergang nach Helmstedt. Links liegt eine Grenzermütze am Grenzzaun aber ich schalte zu spät und verpasse die Gelegenheit, zu einem originellen Souvernir zu kommen. An der Grenze hat ein Künstler viele hundert bunte Tafeln beiderseits der Mauern in die Ackerflächen gepflanzt. Laut Erläuterungstafel soll es sich um ein Rasterbild des menschlichen Gehirns handeln, vom Flugzeug leicht zu erkennen. Leider läßt sich das von unseren Rädern aus nicht nachprüfen. Kopfschüttelnd fahren wir weiter und sind gleich in Helmstedt.
Die Gruppe ist fast geschlossen für eine Rückfahrt mit dem Rad statt mit der Eisenbahn, es wäre ja auch schade um den schönen Rückenwind. So geht es diesmal nördlich des Elms heimwärts. Nach Königslutter überfallen uns noch ein paar Regenschauer, aber das hält sich in Grenzen. In Riddagshausen angekommen ist man doch einigermaßen geschafft. Ich habe noch einmal 15 km bis nach Hause zurückzulegen, sodaß ich schließlich auf 140 km Tagesstrecke komme. Das reicht erstmal wieder für eine Weileº
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Himmelfahrt in Haldensleben
Am Himmelfahrtstag bei schönem aber kaltem Wetter haben wir
die Wahl: mit den Sportsfreunden den Tag vergrillen und mit Bier
zuschütten oder uns um eine neue Erfahrung zu bereichern. Zum Glück
habe ich mit Kollege B. schon einen Tag zuvor die notwendige
Verabredung getroffen, sodaß keine weiteren Diskussionen nötig sind. Es
soll nach Haldensleben gehen, dort befindet sich ein geschichtlicher
Lehrpfad, wie ein paar Wochen zuvor in der Braunschweiger Zeitung zu
lesen war. Mit dem Auto geht es nach Grasleben im Lappwald, dort ist
der Grenzübergang nach Weferlingen. In Grasleben waren wir schon einmal
vor zwei Jahren während einer Rundtour durch den Lappwald. Das merken
wir aber erst beim Durchfahren des Ortes, als das "passive Gedächtnis"
sich meldet. Nachdem das Auto abgestellt und die Räder gezäumt sind
halten wir vergeblich Ausschau nach der B.-Truppe. Nach einer Weile
Wartezeit müssen wir ohne unsere Freunde aufbrechen.
Weferlingen erfreut uns sogleich mit den verschiedensten Straßenbefestigungen, allesamt nur bedingt geeignet für Fahrradfahrer. Nach Verlassen des Ortes Richtung Eschenrode und Hörsingen wird es aber besser und die Straßen sind gut asphaltiert. Die Landschaft ist gar nicht so flach, es wechseln leichte Anstiege mit Bergabstrecken. Obwohl sie das Mountainbike fährt, gerät Heidi zuweilen in einen bedrohlichen Abstand und bedenkliche Stimmung. Immer wieder begegnen uns stattdessen fidele Himmelfahrtsausflügler, ausnahmslos männlichen Geschlechts und gut ausgerüstet mit alkoholischen Getränken. Viele haben einen Kutschwagen gechartert, den ein kleines Pferdchen zieht. Gekleidet ist man in Schlafanzüge oder andere flotte Garderobe. Mit lautem Halloh und Gehupe wird jeder auf der Strecke begrüßt. So hat man den Eindruck, das sei schon Tradition, doch ist der heutige Tag seit Jahrzehnten wieder das erste Mal ein offizieller Feiertag in der DDR.
An einem wassergefüllten Steinbruch neben der Straße machen wir eine kurze Rast. Während wir noch kauen, huschen zwei Schatten vorbei. Aber man hat uns auch wahrgenommen. Und siehe da, etwas zerknirscht ob ihrer Verspätung trollen Kollege B. und Freundin Monika daher. Nun spulen wir den Rest der Strecke nach Haldensleben gemeinsam ab und durchfahren die Orte Ivenrode, Bodendorf und Süplingen.
Endlich stehen wir vor einer wegen Bauarbeiten unpassierbaren Brücke über den Mittellandkanal. Wir wollen nach Alt-Haldensleben, ein paar Kinder versuchen mit zweifelhaftem Erfolg, uns den Weg zu erklären. Hauptsache, die grobe Richtung stimmt. Durch ein Neubaugebiet Marke Einerleibau erreichen wir die B 245, da zweigt die Straße nach Althaldensleben ab. Dort suchen wir das Kloster, auf dessen Hof der Lehrpfad beginnen soll. Auch das ist gar nicht so einfach, ein Knabe auf der Straße jedenfalls kennt weder ein Kloster, noch weniger hat er was von einem Lehrpfad gehört. Eher zufällig passieren wir schließlich ein Portal und gelangen in einen viereckigen Innenhof. Hier ist nun kein Kloster mehr, sondern eine Schule.
Der Rundweg beginnt an einer Mühle, durchstreift dann eine alte Parkanlage. Es folgt ein Hinweis auf ein ehemaliges Hammerwerk. Links zeigt sich zwischen Bäumen eine burgartige Anlage, später werden wir diese als Hundisburg kennenlernen. Erstmal geht es in die andere Richtung durch ein paar sumpfige Wiesen über einen Grasweg zu einer Kirchturmruine. Diese ist der letzte Rest des Dorfes Nordhusen, das sich in grauer Vorzeit hier befunden hat. So etwas nennt man eine "Wüstung". Daneben ist gleich ein alter Steinbruch mit senkrechten Wänden, das Wasser sieht sehr einladend aus.
Wir ziehen weiter, und haben plötzlich unsere Mitstreiter aus den Augen verloren. Nach einiger Wartezeit informieren uns ein paar Kinder, daß sie ein paar Straßen weiter zwei andere Radfahrer gesehen hätten. So treffen wir uns nach einigem Hin und Her schließlich wieder. Ein kurzer Abstecher zur Kirche hinauf und ein Blick auf ein Storchennest.
In Pfadfindermanier erkunden wir den Ort Hundisburg und stehen dann vor dem Eingang zum Park der gleichnamigen Burg. Der ehemals englische Park ist "renaturiert" oder anders ausgedrückt: verwildert. Statt einer eindrucksvollen Auffahrt und Freitreppe befindet sich vor den Resten der Fassade des Burghauptgebäudes ein Sportplatz. Wenn man um das Gebäude herumgeht, kommt man in einen Innenhof. "Betreten Verboten". Ein Militärfahrzeug steht auf dem Hof, das erhöht den Respekt vor dem dem Verbotsschild. Also nur kurz umgeschaut: der Hof ist ringförmig umgeben von Wirtschaftsgebäuden, die auf dem Berg nach außen hin festungsartig angelegt sind.
Auf der Weiterfahrt gibt es noch eine mittelalterliche Wallanlage zu besichtigen, diese versinkt geradezu in der urwaldartigen Vegetation. Als Kontrast dazu bietet sich am Ende des Rundweges eine moderne LPG zu Studien an, wir sind aber nicht mehr recht aufnahmefähig. Nach 15 km Rundweg erreichen wir wieder das Kloster in Alt-Haldensleben. Bevor es an die Rückfahrt geht, wird in dem Lokal "Am Adlerplatz" für die nötige Stärkung gesorgt. Wir haben immer noch "Rügenrubel" und bezahlen trotz schlechtem Gewissen noch einmal in Ostwährung.
Leider haben wir auf dem Rückweg doch eine ordentliche Prise Gegenwind zu bewältigen. Dafür ist es landschaftlich sehr reizvoll, die "Nordroute" über Bülstringen, Flechtingen, Behnsdorf und Ribbenstedt führt in ihrem ersten Teil durch heideartige Landschaft: Kiefernwälder, blühender Ginster, Blauschwengelgras erfreuen das Auge. Eine weitere Überraschung bietet Flechtingen mit seinem Wasserschloß.
Gegen 19 Uhr sind wir wieder an den Autos und die weniger geübten Radfahrer dürfen nach 85 km stolz auf ihre Leistung sein.
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Über den Fallstein und den Huy
Der 16. Juni, ein Tag vor dem Tag der Deutschen Einheit,
fällt auf einen Samstag. Heidi und Stefanie fahren mit dem Mütterkreis
nach Wernigerode, Roßtrappe, Hexentanzplatz und wo es sonst noch was zu
sehen gibt. Wir anderen werden also eingewiesen, wie das Mittagessen zu
organisieren ist, der Braten steht schon aufwärmbereit in der Röhre.
Früh um 7 Uhr sind die beiden aus dem Haus, wir anderen dürfen
ausschlafen. Kurz nach 8 Uhr hält es mich nicht mehr in der Koje, beim
Frühstücken bricht dann die zuvor eher unbewußte Absicht durch, mit dem
Tag was anderes anzufangen, als im Garten Unkraut zu zupfen und
stundenlang den Fernblick von der Terrasse in den Garten zu genießen.
Eine halbe Stunde später bin ich schon unterwegs, nach einer weiteren
halben Stunde wird das Auto am ehemaligen Bahnhof in Hornburg - jetzt
ist da ein Busdepot - abgestellt.
Ohne weiter in den Ort zu fahren, kann man von hier entlang der Ilse gleich Richtung Grenze aufbrechen. Kurz darauf stehe ich vor einem Gehöft, ein Verbotsschild und Warnung vor dem Hunde rufen eine gewisse Unsicherheit hervor. Doch man kann das Ganze rechts umgehen, und auf dem regulären Fahrweg geht es weiter. Bei "Willeckes Lust" kommt man raus. Hier waren wir schon am zweiten Weihnachtsfeiertag. Aber da hat der Mohn nicht so schön geblüht, der ganze Hang am Kleinen Fallstein strahlt, sofern die Sonne durchbricht, in kräftigem Rot. Leider ist es heute - allerdings diesmal wetterbedingt - so dunstig, daß man den nahen Harz gerade so erahnen kann. Das ist schade, denn gerade diese Vorharzregion wirkt bei guter Sicht wie ein Landschaftspanorama. Man kann nicht alles auf einmal haben. Der Grenzübergang ist um diese Zeit völlig vereinsamt. Ein einziger Grenzbeamte langweilt sich in seiner Bude. Meinen Paß muß ich herauskramen, sobald er zum Vorschein kommt, darf ich ihn aber wieder wegstecken, Ansicht genügt. Ich frage, wie lange die Kontrollen überhaupt noch nötig sind. Ab 1. Juli soll es damit vorbei sein. Wir wünschen uns einen schönen Tag, ich bin sicher der Glücklichere.
Erstmal fahre ich rechts ab nach Rimbeck, um nach dem Rechten zu sehen und ein nachträgliches Foto für den Weihnachtsbesuch dort zu machen. Ein Trabbi kommt entgegen, der Weg ist immerhin so steil, daß man mit dem Fahrrad da kaum hinaufkommt. Der Trabi schafft das locker, oben angekommen, kehrt er wieder um, der Grenzübergang ist nach wie vor nur für Fußgänger und Radfahrer eingerichtet. In Rimbeck hat sich nicht viel verändert. Natürlich sind die Bäume grüner, aber die Kirche modert immer noch vor sich hin. Einige Baustellen verraten aber doch neu erwachende Aktivitäten.
Es geht nun zurück zur Grenze, wo man auf dem begleitenden Plattenweg den Kleinen Fallstein überquert. Einmal fotografiere ich, auf dem Bauch liegend, eine unbekannte Blume. Auf der Kammlinie des Kleinen Fallstein angelangt, eröffnet sich eine schöne Aussicht auf den Ort Rhoden, dahinter liegt der Große Fallstein. Von hier oben kann man schon einen Weg ausmachen, der auf der anderen Seite schräg hinauf führt. Ob man weiter durch den Wald auf die andere Seite des Fallstein gelangen kann, bleibt abzuwarten, die Karte gibt darüber keine Auskunft.
Schnell rollt man auf den schon bekannten Betonplatten mit den reifenfreundlichen Löchern am Grenzzaun hinunter nach Rhoden. Wenn man sich die geografische Lage dieses Ortes zwischen Fallstein und eisernem Vorhang vergegenwärtigt, wundert es einen nicht, daß hier die Zeit noch in stärkerem Maße als woanders stehen geblieben zu sein scheint. Ein Polizist hält einen Schnack über den Gartenzaun, ansonsten bosseln die Leute auf ihren Grundstücken fleißig vor sich hin. Das Aussehen der Gebäude und der Dorfstraßen entspricht original den 50er Jahren oder früher. Wieder ist man in der Vergangenheit, das macht nach wie vor die Faszination eines jeden Besuchs hier aus. Vor der Kirche steht ein Fahrrad mit Anhänger, darauf Besen und Schippe. Die Kirchentür steht auf, da schaue ich mal schnell hinein. Innen sieht es ganz beachtlich aus, wohl nicht gerade kunstvoll, aber in gutem Zustand und gepflegt.
Jetzt geht es bergauf weiter, kein Problem mit dem Mountain Bike. Vor mir zwei westlich - nämlich grellbunt - gkleidete Radfahrer, die sind aber mit Rennrädern unterwegs und daher schneller. Ich lasse mir sowieso Zeit; schon wegen der zahlreichen Haufen von Muschelkalksteinen am Wegrand muß ich öfter pausieren. Eine besonders interessante Steinplatte von einigen Kilo Gewicht wird nach einigem Zögern im Rucksack verstaut. Ich spüre eine eigenartige Stimmung, das Vorarbeiten hier im unbekannten Gelände ist eine richtige Entdeckungsfahrt. Schließlich biegt der Weg in den Wald, die beiden Radfahrer vor mir sind schon außer Sicht, dann muß es ja wohl irgendwie weiter gehen. Der Weg führt auch brav nach Osten und ist gut befestigt. Man hatte mir erzählt, daß das Gebiet des Fallstein wegen der grenznahen Lage nahezu unberührt sei, selbst die Einheimischen durften ihn jahrzehntelang nicht betreten. Ich bin daher etwas enttäuscht, denn die Fahrt durch den Fallstein gestaltet sich kaum anders, als eine Fahrt durch jedes andere Waldgebiet. Sicher sind die unberührten Gefilde weiter ab vom Weg.
Als ich den östlichen Waldrand erreiche, liegt der Ort Hessen direkt unter mir. Auf einem anmutigen, grasbewachsenen Weg geht es zwischen allerlei Feldsteinen, Hasen und Heckenrosen hinunter. Vor dem Ort aber noch eine Mutprobe. Zwei Kühe lagern quer auf dem Weg, sie sind hier angepflockt. Eine Umgehung ist nicht möglich. Zu meiner Ehre erheben sich die beiden Tiere und glotzen mich neugierig an. Zum Glück ist mein Fahrrad nicht mehr rot sondern grün, auch der Rucksack ist grün, da kann man schon mal was riskieren. So gehe ich ganz unauffällig zwischen den beiden Kameraden hindurch, was diese auch nicht weiter beeindruckt. Zum Dank mache ich - wieder in sicherem Abstand - ein Erinnerungsfoto.
In Hessen begegnet mir zuerst ein Auto mit Anhänger, Kennzeichen Gießen. Der Anhänger ist vollgepackt mit Möbeln, Standuhren, einem alten Kinderwagen usw. Es wird also doch kräftig ausgeräumt.
Heute habe ich Zeit und Muße, mich genauer umzusehen. Besonders die Reste der Burg - oder war es ein Schloß - machen wieder einen schaurigen Eindruck. Blühender Hollunder versucht vergeblich, den Ruinen ein freundlicheres Aussehen zu geben. In einem halb weggebrochenen Turm hängen die Reste einer Wendeltreppe wie Eingeweide in einem geöffneten Körper. Ein einziges Gebäude ist noch intakt, dort befindet sich die Kinderkrippe. Immerhin haben es die Kinder in dieser Umgebung nicht schlecht, ob sie das zu schätzen wissen?
Auf der Rückseite der Gebäude erkennt man an den alten Bäumen, daß dort einmal ein Park existiert hat. Besonders eine knorrige Süntelbuche ist beeindruckend, unter den Zweigen, die bis auf die Erde hängen, befindet sich ein regelrechter Innenraum. Beim Fotografieren äugt ein einsames blondes Pferd herüber. Auch hier eine eigenartige Stimmung, man sollte sich ins Gras setzen und davon träumen, was die Bäume ringsherum erzählen könnten.
Nun fängt aber - weniger romantisch - die eigentliche Kilometerfresserei an. Richtung Dardesheim auf der B 79, der Verkehr ist rege. Bei Athenstedt erscheinen linkerhand die bewaldeten Hänge des Huy. Gleich wird die Strecke landschaftlich interessanter. An den Straßenrändern blüht es reichlich, besonders der rot leuchtende Klatschmohn und das Blau der Glockenblumen, Ackerwicken, Skabiosen, Storchschnabel und Malven bilden oft einen malerischen Kontrast.
Ich nehme mir vor, mal ein paar Kinder zu fragen, wie dieser Bergzug namens "Huy" denn nun ausgesprochen wird, als "Hui" oder "Hü". Leider wird nichts daraus, deswegen ist diese Frage immer noch ungeklärt.
In Aspenstedt kann endlich auf eine weniger verkehrsreiche Straße abgebogen werden. Ab Sargstedt findet das dann seinen Höhepunkt in einer abenteuerlichen Straße. Wer sich hier mit einem normalen Auto her verirrt, hat schlechte Aussichten, dieses unversehrt über die Strecke zu bringen. Mit dem Fahrrad geht das dagegen sehr gut auf dem Mittelgrat zwischen den ausgefahrenen Wegspuren, in denen große Pfützen lauern. Nur manchmal sind die Pfützen auch über die Mitte hin zusammengewachsen. Anstatt deren Tiefe auszuloten empfiehlt es sich, sein Heil über den ungemähten Randstreifen zu suchen. Am niedergetretenen Gras erkennt man, daß schon andere "Pfadfinder" am Werk waren.
Zwischendurch entdecke ich rechts voraus große Kirchtürme. Außer der vor mir liegenden Strecke um den Huy habe ich gar nicht auf die weitere Umgebung geachtet, so befinde ich mich unversehens nur wenige Kilometer nördlich von Halberstadt und bestaune nun den mächtigen Dom aus der Ferne. Halberstadt ist heute nicht das Thema, deshalb biege ich auf der nun erreichten Teerstraße nach Norden ab, um den Huy zu überqueren. Da geht es erstmal so auf 300 m hoch, das ist eine Freude für das Mountainbike (aber auch für den Fahrer). Ein Vater mit Sohn bewegt sich schiebenderweise bergauf, die gucken womöglich neidisch auf mein High-Tech Gefährt. Auf der Höhe des Huy zweigt ein Fahrweg links ab, hinauf zur Huysburg. Natürlich habe ich mal wieder meinen Reiseführer nicht gelesen, das macht die Sache spannend.
Nach so 1.5 km wird ein Gemäuer erreicht, das offensichtlich die Huysburg umschließt. Ich halte mich rechts, kann aber keinen Einlaß in der Mauer finden. Zwei große Türme mit Spitzdach kann ich schon erkennen. Also wieder zurück, auf der normalen Zufahrt erreiche ich dann das Eingangstor. Dahinter ist ein Innenhof, auf einer Schautafel werden die Gebäude und Geschichte der Huysburg erklärt. Die Burg war lange Zeit ein Benediktinerkloster, die Kirche ist im Jahr 1211 geweiht und (Reiseführer): "eine der bedeutendsten romanischen Kirchen im Umkreis des Harzes". Mit meinen oberhalb der Knie endenden Hosen und deren rückwärtigem Ledereinsatz waage ich mich nur mit gemischten Gefühlen in das Innere der Kirche. Es sind aber kaum Leute da, die an meinem Aufzug Anstoß nehmen könnten. Ohne Vorbereitung auf so eine Sehenswürdigkeit ist man um so mehr beeindruckt: eben noch Klatschmohn, jetzt Deckengemälde und Barock. In den übrigen Gebäuden scheint ein Behindertenheim untergebracht zu sein. In dem großen Klostergarten hat wohl vor kurzem eine kirchliche Veranstaltung stattgefunden, eine Rampe und Beflaggung lassen darauf schließen.
Zurück fahre ich an der Mauer lang um die Burg herum und dann in sausender Fahrt auf der Nordseite des Huy hinunter. An einer Gaststätte, die sogar geöffnet hat, geht es vorbei. Obwohl ich nichts zu trinken mit habe, lasse ich mich nicht verführen. Macht allein ja auch nicht so einen Spaß. Stattdessen biege ich in ein geheimnisvolles Anwesen ein, da steht ein Schild "Kunstwerkstatt". "Halt, hier nicht mit dem Fahrrad rumfahren!" tönt es mir entgegen. "Ich bin auch gleich wieder draußen" kann ich gerade antworten und sehe eben noch, daß da ein paar Skulpturen, Kunstwerke wohl, ausgestellt sind. Außerdem kostet das ganze Eintritt. Weniger aus Sparsamkeit als aus Faulheit, vom Fahrrad abzusteigen, fahre ich also wieder raus aus der geweihten Stätte. Nun liegt links eine Domäne bzw. Gutshof mit dem Namen Röderhof. Links oben thront darüber die Huysburg, die von hier aus gut zu sehen ist. Nochmal riskiere ich eine gelbe Karte und durchquere das Anwesen. Wie meistens handelt es sich um eine LPG, näheres ist nicht in Erfahrung zu bringen. Zum Glück geht es hinten wieder raus aus dem Hof. Nach Befragen einer Passantin orientiere ich mich dann Richtung Mönchshai. Nach 900 m soll sich eine Höhle befinden, diese aber bleibt mir verborgen. In Mönchshai wieder militärische Einrichtungen, auch hier hat man den Soldaten einen Kletterspielplatz eingerichtet. Es lebe der Sozialstaat.
Bald stehe ich an einem Waldrand oberhalb des Ortes Dingelstedt. Eigentlich wollte ich über Wilhelmshall fahren, das klappt also nicht. Also den Hang hinunter, an einer Obstplantage vorbei, wo man fürchterlich mit Unkrautvernichter gehaust hat, das ungemähte Gras hängt gelb und welk herum. Von Dingelstedt geht es über Anderbeck nach Badersleben. Die Straße ist gesäumt von Kirschbäumen, einmal kann ich eine Handvoll stiebitzen, ansonsten scheinen sie schon gepflückt zu sein. In Badersleben fährt gerade ein Personenzug nach Dedeleben ab. Ich fahre auf der Straße nebenher und es entwickelt sich wieder ein wenig Kommunikation. Bei Tempo 30 km/h meinerseits und wohl 40 km/h Tempo des Bummelzuges machen der Lokführer und ich uns gegenseitig anfeuernde Gesten. Auch ein paar Fahrgäste nehmen Anteil an dem kleinen Rennen, das natürlich zu meinen Ungunsten endet. Im nächsten Ort namens Vogelsdorf ist bei meinem Eintreffen der Zug schon wieder weiter. Aber zwei auf der Straße schleppen Koffer, da fahre ich vorbei und versäume nicht darauf hinzuweisen, daß ich nun wieder schneller sei.
In Dedeleben mache ich eine kleine Rundfahrt durch die Dorfstraßen. Ein austrocknender Dorfteich mit Enten und Gänsen bildet den Vordergrund für ein Bild von der Kirche. In einem Seitenweg kann ich mich gerade an einem quergestellten Militärfahrzeug vorbeidrücken, das hier für eine private Bauaktion zweckentfremdet wird. Gebaut wird allerorts ganz emsig, meistens auf der Basis Eigenleistung und Nachbarschaftshilfe, da hat man Übung drin. "Alle fleißig?" frage ich, nur um mich da nicht ganz wortlos vorbeizumogeln. "Aber ja!" ist dann auch die einzige Antwort. Zurück wieder nach Mattierzoll. Da steht schon wieder ein mit alten Möbeln vollgepackter Mercedes, wieder Kennzeichen GI. Das Geschäft scheint zu blühen. Vor dem Grenzübergang Mattierzoll geht es links ab über den Hessendamm. In Veltheim ein Hinweisschild:
Cafe am Park
Bei Paula
Davon ist mir schon erzählt worden. Eine ausgebaute kleine Terrasse, urgemütlich soll das sein. Aber ich muß weiter, um gegen 18 Uhr wieder zurück zu sein. Hinter Osterode ist eine Lücke im Grenzzaun, in einer extra aufgestellten Bude sitzt wieder ein Grenzer, immerhin hat er zur Gesellschaft einen Schäferhund dabei. Autos können hier noch nicht durch, die Verbindung nach Hornburg soll ab 1. Juli fertig sein. Ich versuche, noch herauszubekommen, ob man Möbel aus der DDR ausführen darf, aber da weiß der Grenzbeamte nichts genaues. Da ich keine Möbel transportiere, darf ich passieren, aber der Paß wird kontrolliert. Wenige hundert Meter weiter ist schon wieder ein Grenzübergang, die Straße nach Rohden ist wiederhergestell und für Autos passierbar. So wird nach und nach wie bei einer Organverpflanzung überall Ader mit Ader verbunden.
Kurz vor 18 Uhr bin ich wieder in Hornburg. Nach gut 90 zurückgelegten Fahrradkilometern genießt man das mühelose Autofahren. Leider ist der Genuß des Autofahrens für die Mehrzahl unserer Zeitgenossen wohl so attraktiv, daß eine andere Fortbewegungsart gar nicht erst in Erwägung gezogen wird. Ich habe jedenfalls an diesem Tag außer den beiden entschwindenden Rennfahrern am Fallstein keinen weiteren Gesinnungsgenossen getroffen.
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Wiedervereinigung 3.10.90
Das große Ereignis ist da. Was soll man an diesem Tag
machen? Hunderttausende werden nach Berlin fahren, wo man "vor Ort" auf
der Bannmeile zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz sich unter
den Linden finden wird. Ein Sonderzug fährt aus Osnabrück kommend über
Braunschweig am Abend des 2.10. nach Berlin, am Morgen, wenn alles
überstanden ist, soll er wieder zurückfahren. Ein Kollege will die
Nacht in Magdeburg zubringen, da gehöre er hin.
Wir gehören nicht zu denen, die auf Kommando feiern. Vielen anderen ergeht es genau so. Man spürt wohl, daß wir ein ganz bedeutsames und geschichtliches Datum begehen, aber wir können es nicht in der Weise feiern, wie es der Sache gerecht werden würde. Diese Gefühl bekommen wir am Tag danach schriftlich: ein amerikanischer Politiker wundert sich über die Unfähigkeit der Deutschen, den Tag der Einheit in der Freude zu begehen, die man erwarten könnte. Letzlich ist das gut so, denn ein vor nationalen Gefühlen überschwappendes Vereinigungsfest hätte uns nicht gut zu Gesicht gestanden.
Außerdem müssen wir zum Elternabend, der am Dienstag Abend zu diesem nicht ganz glücklichen Termin anberaumt ist. So versäumen wir die Rede unseres Bundeskanzlers im Fernsehen, falls man die überhaupt ausgehalten hätte. Stattdessen ein bißchen Lothar de Maiziere, auch da fehlt es uns an Bierernst, zu sehr erinnert das ganze an das "Gummivariete" der Sendung "Hallo Deutschland". Wir rätseln, ob auf der Fernsehkamera ein Scheibenwischer gegen die feuchte Aussprache bei Zischlauten montiert ist. Dann die Live-Übertragungen aus Berlin. Ein Ausspruch: "Mit Bouletten, Popcorn, Feuerwerk - so geht es in die deutsche Einheit". Das sagt alles. Eine Diskussion, Günter Grass ist beeindruckend mit Gedanken, die den teilnehmenden Politikern wohl über den Horizont gehen.
Dann der Höhepunkt des Abends: die Fischerchöre singen auf dem Brocken. Eine Woche zuvor hatten Naturschützer noch gegen die überschwemmenden Touristenfluten auf dem Brocken protestiert. Schulkinder haben säckeweise Abfall an den Rändern des Brockenaufstiegs gesammelt. Heute sind Bühne, Zelt, Schweinwerfer und Gerüst, Kameras und Übertragungswagen in dem Naturreservat versammelt. Im Fernsehen ist nicht zu erkennen, daß das ganze auf dem Brocken stattfindet, also ist das eher "symbolisch". Man sieht den Besuchern in ihren Anoraks zwar an, daß sie bewegt sind, wenn sie die dargebotenen Volkslieder "Sah ein Knab..", Ännchen von Tharau...","Kein schöner Land...","Die Gedanken sind frei..." u.a.m. trotz weitgehend fehlender Textkenntnis mitsingen. Aber dieser Gotthilf Fischer! Der kommt sich da vor, da zieht es einem die Schuhe aus. Schließlich gipfelt diese "Brockenorgie" in 1142 m Höhe mit der Liedzeile: "...in diesem Wiesengrunde möcht ich begraben sein...".
Bei us fliegen derweil auf dem Fußboden, wo Wäsche sortiert wird, einzelne Socken zwischen den Akteuren hin und her. Mahnend lasse ich aus meinem Sessel heraus zwischen zwei Schluck Bier vernehmen: "Am Tag der Deutschen Wiedervereinigung trennt man keine Socken voneinander - das bringt Unglück". "Wieso ?" fragt Stefanie. Antwort: "Das war schon immer so !". Ob dieser Anstrengungen schaffen die weiteren Familienmitglieder das Aufbleiben bis Mitternacht nicht, sodaß ich - auch kurz vor dem Eindösen - die Sache allein überstehen muß. Endlich ein ruhender Pol auf dem Fernsehschirm, eine riesige Fahnenstange, dahinter als Kulisse der Reichstag und die versammelten Menschenmengen. Dann schlägt die Uhr zwölf: das Feuerwerk bricht los, die Freiheitsglocke läutet, die Flagge wird gehißt, man singt das Deutschlandlied. "Deutschland ist einig, Deutschland ist wieder souverän!" entfährt es einem Fernsehberichter. Über allem stahlt der Vollmond und Kohl, der "Vereinigungskanzler". Dann habe ich auch genug von diesem "Ersatzsylvester" und gehe zufrieden über die "Souveränität" ins Bett.
Am Morgen des neuen Einheitstages strahlt die Sonne, reinstes Sommerwetter. Ich muß natürlich irgendwas machen, "Wer kommt mit?". "In die DDR? - näh". Vielleicht wird überall gefeiert und es herrscht eine Stimmung, wie um Weihnachten - man muß sich das doch mal ansehen. Also nur Heidi und ich, auf jeden Fall in bescheidenem Rahmen, möglichst nicht in irgendwelche Autostrudel geraten. Ich schlage Hornburg/Osterwieck vor, das liegt am nächsten. Fahrräder aufgeladen, groß mitzunehmen ist auch nichts, dennoch wird das wichtigste vergessen, wie wir später sehen werden.
Nach Hornburg fahren wir eine halbe Stunde mit dem Auto, von dort geht es mit dem Fahrrad an der Ilse entlang. Es ist "Kaiserwetter", das Radfahren und die Luft sind ein Genuß. Wir fahren auf der "Rimbeker Straße", tatsächlich ist der Grenzzaun auf ein paar Metern beseitigt, sodaß man über eine Wiese den weiteren Weg nach Rimbek erreicht. Ein Grenzpfosten macht einen jämmerlichen Eindruck, Nachahmer der "Mauerspechte" haben ihm stark zugesetzt, wie ein abgenagter Hühnerknochen sieht er aus. Ein Foto davon, das hat ja geradezu symbolischen Wert.
Wir erreichen Rimbek, dort ist es ganz ruhig, keine Leute zu sehen. An der Kirche vorbei, die sieht immer noch keine besseren Tage. Es geht durch Bühne und auf holperigem Pflaster weiter nach Stötterlingen. "Direkt nach Osterwiek, oder Abstecher über Lütgenrode?" frage ich, "lieber direkt" heißt die Antwort. Dann an der Abzzweigung entschließen wir uns doch für den Umweg, da es nur einen Km ausmacht. Die Kirche von Lütgenrode grüßt schon eine ganze Weile von ihrem Berg herunter. Auch die Kirche von Stötterlingen ist interessant, sie hat einen Fachwerkturm. Es geht an den Aufstieg nach Lütgenrode, es geht wohl so einen halben km bergauf. Plötzlich geht mir die Puste aus. Damit meine ich genauer gesagt den Vorderreifen. Wiederaufpumpen hilft nichts, die Luft zischt hörbar heraus. Nun ist guter Rat teuer, Flickzeug oder Ersatzschlauch befinden sich heute nicht im Gepäck.
So gibt es nur den Ausweg, mit dem anderen Rad zurückzufahren und das Auto zu holen. Wir schieben noch hinauf auf den Berg, dann sause ich den gleichen Weg wieder zurück. 8 km hat unsere heutige Radtour aus Anlaß der Wiedervereinigung bei herrlichstem Wetter gedauert. Heidi war am Morgen drauf und dran, gar nicht erst mitzufahren, weil sie eine Gewalttour befürchtet hatte. Nichts davon, obwohl mein Tempo für den Rückweg nicht von Pappe ist. Nach 25 Minuten erreiche ich das Auto, wie ein Triathlet bei Disziplinwechsel wird das Fahrrad verstaut und das Auto gestartet. Nach weniger als einer Dreiviertelstunde bin ich dann auf dem schon vertrauten Weg wieder zurück in Lütgenrode. Um zur Kirche zu gelangen, wo wir uns verabredet haben, muß man um das ganze Dorf herumfahren. Vor dem alten Herrschaftshaus wird das Auto abgestellt. Da laufen viele Menschen herum, nur keine Spur von meiner Heidi.
Also das Fahrrad wieder raus aus dem Kofferraum und auf die Suche. Dazu fahre ich den steilen Berg hinunter, die Dorfstraße entlang. Vor einer Kneipe (Einbecker Bier) stehen einladend in der Sonne Tische und Stühle, hier feiert man gemütlich das "Einig Vaterland". Mir ist gar nicht so gemütlich, da bin ich dahingerast wie ein Besessener und nun klappt das hier mit dem Treffpunkt nicht. Zwischen den herumstehenden Fahrrädern suche ich das meine mit dem Platten, aber es ist nicht zu entdecken. Als der Ortsrand erreicht ist, muß ich unverrichteter Dinge umkehren. Dazu aber wieder den ganzen Berg hinauf. Da kann ich auf einem steilen Schotterweg mal wieder meine Kondition und die Steigfähigkeit des Mountainbikes erproben. Wir sind beide an der Grenze des Möglichen, beim Rad drehen die Hinterräder durch, und ich bin nach 50 m groggy. Den Rest schiebe ich hoch, da sitzt Heidi gemütlich unter einer Kastanie, von der laufend Geschosse herunterknallen. Bisher hat noch keines getroffen, deswegen sind wir auch nicht allzusehr verstimmt. Die Radtour ist sowieso zuende, da brauchen wir keine Eile zu haben.
Wir schauen uns auf dem LPG-Gelände um, das sich um die Kirche herum befindet. Das Dach der Scheune neben der Kirche hat man ausgebessert, unten sind Rinderställe untergebracht. Das Dach des Kirchenschiffs liegt im Innern der Reste der Gemäuer, an der einen Seite steht die hölzerne Empore im Freien. Auf der Rückseite der Ruine kann man aus einem Aushang genaueres erfahren. Es handelt sich um die "St. Stephanie" Klosterkirche, erbaut im Jahre 965. Es gibt einen Förderkreis, dem es offensichtlich nicht gelungen ist, die Bausubstanz zu retten. Die Bilder zeigen noch das intakte Dach. Wie es weitergehen wird, ist auch dem Aushang nicht zu entnehmen. Heute ist um 11 Uhr hier eine Freiluft-Andacht abgehalten worden.
Das Herrenhaus entpuppt sich als Mischung aus Gemeindehaus und Kneipe, diese heißt "Brockenblick" und das aus gutem Grund. Der Harz liegt ausgebreitet vor einem, in der Sonne bei leichtem Dunst ist alles in eine blaue Pastellfarbe gehüllt. Wir begeben uns nun wieder in unser Auto und fahren die zwei Km nach Osterwieck hinunter. In der Nähe der Kirche stellen wir das Auto vor dem "Eulenspiegelhaus" ab. Auf dem Kirchplatz ist ein wenig Rummel, Karussell, Bier- und Würstchenbuden. In die Kirche kann man leider nicht hinein, nur an Sonnabenden und Sonntagen, der Tag der Wiedervereinigung ist aber ein Mittwoch. Viele Leute geben sich die Klinke der Tür in die Hand, die sich dennoch nicht öffnen läßt. Das sind so die kleinen Dinge, die einen ärgern, daß sich an einem solchen Tag keine Ausnahme machen läßt. Was heißt überhaupt Ausnahme, es wäre eine Selbstverständlichkeit, den Besuchern einen Einblick in das Kircheninnere möglich zu machen. Dafür ist das Dach erneuert, und das hat allerhand gekostet...
Wir bummeln herum, in gerade zwei oder drei Straßen sind die Häuser gut hergerichtet, eine Ecke weiter kurz vor dem Verfall. Mehr ist hier heute nicht zu sehen, so fahren wir bald wieder nach Hause.
mail: m.wittram@tu-bs.de