Über den Fallstein und den Huy

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Der 16. Juni, ein Tag vor dem Tag der Deutschen Einheit, fällt auf einen Samstag. Heidi und Stefanie fahren mit dem Mütterkreis nach Wernigerode, Roßtrappe, Hexentanzplatz und wo es sonst noch was zu sehen gibt. Wir anderen werden also eingewiesen, wie das Mittagessen zu organisieren ist, der Braten steht schon aufwärmbereit in der Röhre. Früh um 7 Uhr sind die beiden aus dem Haus, wir anderen dürfen ausschlafen. Kurz nach 8 Uhr hält es mich nicht mehr in der Koje, beim Frühstücken bricht dann die zuvor eher unbewußte Absicht durch, mit dem Tag was anderes anzufangen, als im Garten Unkraut zu zupfen und stundenlang den Fernblick von der Terrasse in den Garten zu genießen. Eine halbe Stunde später bin ich schon unterwegs, nach einer weiteren halben Stunde wird das Auto am ehemaligen Bahnhof in Hornburg - jetzt ist da ein Busdepot - abgestellt.

Ohne weiter in den Ort zu fahren, kann man von hier entlang der Ilse gleich Richtung Grenze aufbrechen. Kurz darauf stehe ich vor einem Gehöft, ein Verbotsschild und Warnung vor dem Hunde rufen eine gewisse Unsicherheit hervor. Doch man kann das Ganze rechts umgehen, und auf dem regulären Fahrweg geht es weiter. Bei "Willeckes Lust" kommt man raus. Hier waren wir schon am zweiten Weihnachtsfeiertag. Aber da hat der Mohn nicht so schön geblüht, der ganze Hang am Kleinen Fallstein strahlt, sofern die Sonne durchbricht, in kräftigem Rot.

Leider ist es heute - allerdings diesmal wetterbedingt - so dunstig, daß man den nahen Harz gerade so erahnen kann. Das ist schade, denn gerade diese Vorharzregion wirkt bei guter Sicht wie ein Landschaftspanorama. Man kann nicht alles auf einmal haben. Der Grenzübergang ist um diese Zeit völlig vereinsamt. Ein einziger Grenzbeamte langweilt sich in seiner Bude. Meinen Paß muß ich herauskramen, sobald er zum Vorschein kommt, darf ich ihn aber wieder wegstecken, Ansicht genügt. Ich frage, wie lange die Kontrollen überhaupt noch nötig sind. Ab 1. Juli soll es damit vorbei sein. Wir wünschen uns einen schönen Tag, ich bin sicher der Glücklichere.

Erstmal fahre ich rechts ab nach Rimbeck, um nach dem Rechten zu sehen und ein nachträgliches Foto für den Weihnachtsbesuch dort zu machen. Ein Trabbi kommt entgegen, der Weg ist immerhin so steil, daß man mit dem Fahrrad da kaum hinaufkommt. Der Trabi schafft das locker, oben angekommen, kehrt er wieder um, der Grenzübergang ist nach wie vor nur für Fußgänger und Radfahrer eingerichtet. In Rimbeck hat sich nicht viel verändert. Natürlich sind die Bäume grüner, aber die Kirche modert immer noch vor sich hin. Einige Baustellen verraten aber doch neu erwachende Aktivitäten.

Es geht nun zurück zur Grenze, wo man auf dem begleitenden Plattenweg den Kleinen Fallstein überquert. Einmal fotografiere ich, auf dem Bauch liegend, eine unbekannte Blume.

Auf der Kammlinie des Kleinen Fallstein angelangt, eröffnet sich eine schöne Aussicht auf den Ort Rhoden, dahinter liegt der Große Fallstein. Von hier oben kann man schon einen Weg ausmachen, der auf der anderen Seite schräg hinauf führt. Ob man weiter durch den Wald auf die andere Seite des Fallstein gelangen kann, bleibt abzuwarten, die Karte gibt darüber keine Auskunft.

Schnell rollt man auf den schon bekannten Betonplatten mit den reifenfreundlichen Löchern am Grenzzaun hinunter nach Rhoden. Wenn man sich die geografische Lage dieses Ortes zwischen Fallstein und eisernem Vorhang vergegenwärtigt, wundert es einen nicht, daß hier die Zeit noch in stärkerem Maße als woanders stehen geblieben zu sein scheint. Ein Polizist hält einen Schnack über den Gartenzaun, ansonsten bosseln die Leute auf ihren Grundstücken fleißig vor sich hin. Das Aussehen der Gebäude und der Dorfstraßen entspricht original den 50er Jahren oder früher. Wieder ist man in der Vergangenheit, das macht nach wie vor die Faszination eines jeden Besuchs hier aus. Vor der Kirche steht ein Fahrrad mit Anhänger, darauf Besen und Schippe. Die Kirchentür steht auf, da schaue ich mal schnell hinein. Innen sieht es ganz beachtlich aus, wohl nicht gerade kunstvoll, aber in gutem Zustand und gepflegt.

Jetzt geht es bergauf weiter, kein Problem mit dem Mountain Bike. Vor mir zwei westlich - nämlich grellbunt - gkleidete Radfahrer, die sind aber mit Rennrädern unterwegs und daher schneller. Ich lasse mir sowieso Zeit; schon wegen der zahlreichen Haufen von Muschelkalksteinen am Wegrand muß ich öfter pausieren. Eine besonders interessante Steinplatte von einigen Kilo Gewicht wird nach einigem Zögern im Rucksack verstaut. Ich spüre eine eigenartige Stimmung, das Vorarbeiten hier im unbekannten Gelände ist eine richtige Entdeckungsfahrt. Schließlich biegt der Weg in den Wald, die beiden Radfahrer vor mir sind schon außer Sicht, dann muß es ja wohl irgendwie weiter gehen. Der Weg führt auch brav nach Osten und ist gut befestigt. Man hatte mir erzählt, daß das Gebiet des Fallstein wegen der grenznahen Lage nahezu unberührt sei, selbst die Einheimischen durften ihn jahrzehntelang nicht betreten. Ich bin daher etwas enttäuscht, denn die Fahrt durch den Fallstein gestaltet sich kaum anders, als eine Fahrt durch jedes andere Waldgebiet. Sicher sind die unberührten Gefilde weiter ab vom Weg.

Als ich den östlichen Waldrand erreiche, liegt der Ort Hessen direkt unter mir. Auf einem anmutigen, grasbewachsenen Weg geht es zwischen allerlei Feldsteinen, Hasen und Heckenrosen hinunter. Vor dem Ort aber noch eine Mutprobe. Zwei Kühe lagern quer auf dem Weg, sie sind hier angepflockt. Eine Umgehung ist nicht möglich. Zu meiner Ehre erheben sich die beiden Tiere und glotzen mich neugierig an. Zum Glück ist mein Fahrrad nicht mehr rot sondern grün, auch der Rucksack ist grün, da kann man schon mal was riskieren. So gehe ich ganz unauffällig zwischen den beiden Kameraden hindurch, was diese auch nicht weiter beeindruckt. Zum Dank mache ich - wieder in sicherem Abstand - ein Erinnerungsfoto.

In Hessen begegnet mir zuerst ein Auto mit Anhänger, Kennzeichen Gießen. Der Anhänger ist vollgepackt mit Möbeln, Standuhren, einem alten Kinderwagen usw. Es wird also doch kräftig ausgeräumt.

Heute habe ich Zeit und Muße, mich genauer umzusehen. Besonders die Reste der Burg - oder war es ein Schloß - machen wieder einen schaurigen Eindruck. Blühender Hollunder versucht vergeblich, den Ruinen ein freundlicheres Aussehen zu geben. In einem halb weggebrochenen Turm hängen die Reste einer Wendeltreppe wie Eingeweide in einem geöffneten Körper. Ein einziges Gebäude ist noch intakt, dort befindet sich die Kinderkrippe. Immerhin haben es die Kinder in dieser Umgebung nicht schlecht, ob sie das zu schätzen wissen?

Auf der Rückseite der Gebäude erkennt man an den alten Bäumen, daß dort einmal ein Park existiert hat. Besonders eine knorrige Süntelbuche ist beeindruckend, unter den Zweigen, die bis auf die Erde hängen, befindet sich ein regelrechter Innenraum. Beim Fotografieren äugt ein einsames blondes Pferd herüber. Auch hier eine eigenartige Stimmung, man sollte sich ins Gras setzen und davon träumen, was die Bäume ringsherum erzählen könnten.

Nun fängt aber - weniger romantisch - die eigentliche Kilometerfresserei an. Richtung Dardesheim auf der B 79, der Verkehr ist rege. Bei Athenstedt erscheinen linkerhand die bewaldeten Hänge des Huy. Gleich wird die Strecke landschaftlich interessanter. An den Straßenrändern blüht es reichlich, besonders der rot leuchtende Klatschmohn und das Blau der Glockenblumen, Ackerwicken, Skabiosen, Storchschnabel und Malven bilden oft einen malerischen Kontrast.

Ich nehme mir vor, mal ein paar Kinder zu fragen, wie dieser Bergzug namens "Huy" denn nun ausgesprochen wird, als "Hui" oder "Hü". Leider wird nichts daraus, deswegen ist diese Frage immer noch ungeklärt.

In Aspenstedt kann endlich auf eine weniger verkehrsreiche Straße abgebogen werden. Ab Sargstedt findet das dann seinen Höhepunkt in einer abenteuerlichen Straße. Wer sich hier mit einem normalen Auto her verirrt, hat schlechte Aussichten, dieses unversehrt über die Strecke zu bringen. Mit dem Fahrrad geht das dagegen sehr gut auf dem Mittelgrat zwischen den ausgefahrenen Wegspuren, in denen große Pfützen lauern. Nur manchmal sind die Pfützen auch über die Mitte hin zusammengewachsen. Anstatt deren Tiefe auszuloten empfiehlt es sich, sein Heil über den ungemähten Randstreifen zu suchen. Am niedergetretenen Gras erkennt man, daß schon andere "Pfadfinder" am Werk waren.

Zwischendurch entdecke ich rechts voraus große Kirchtürme. Außer der vor mir liegenden Strecke um den Huy habe ich gar nicht auf die weitere Umgebung geachtet, so befinde ich mich unversehens nur wenige Kilometer nördlich von Halberstadt und bestaune nun den mächtigen Dom aus der Ferne. Halberstadt ist heute nicht das Thema, deshalb biege ich auf der nun erreichten Teerstraße nach Norden ab, um den Huy zu überqueren. Da geht es erstmal so auf 300 m hoch, das ist eine Freude für das Mountainbike (aber auch für den Fahrer). Ein Vater mit Sohn bewegt sich schiebenderweise bergauf, die gucken womöglich neidisch auf mein High-Tech Gefährt. Auf der Höhe des Huy zweigt ein Fahrweg links ab, hinauf zur Huysburg. Natürlich habe ich mal wieder meinen Reiseführer nicht gelesen, das macht die Sache spannend.

Nach so 1.5 km wird ein Gemäuer erreicht, das offensichtlich die Huysburg umschließt. Ich halte mich rechts, kann aber keinen Einlaß in der Mauer finden. Zwei große Türme mit Spitzdach kann ich schon erkennen. Also wieder zurück, auf der normalen Zufahrt erreiche ich dann das Eingangstor. Dahinter ist ein Innenhof, auf einer Schautafel werden die Gebäude und Geschichte der Huysburg erklärt.

Die Burg war lange Zeit ein Benediktinerkloster, die Kirche ist im Jahr 1211 geweiht und (Reiseführer): "eine der bedeutendsten romanischen Kirchen im Umkreis des Harzes". Mit meinen oberhalb der Knie endenden Hosen und deren rückwärtigem Ledereinsatz waage ich mich nur mit gemischten Gefühlen in das Innere der Kirche. Es sind aber kaum Leute da, die an meinem Aufzug Anstoß nehmen könnten. Ohne Vorbereitung auf so eine Sehenswürdigkeit ist man um so mehr beeindruckt: eben noch Klatschmohn, jetzt Deckengemälde und Barock. In den übrigen Gebäuden scheint ein Behindertenheim untergebracht zu sein. In dem großen Klostergarten hat wohl vor kurzem eine kirchliche Veranstaltung stattgefunden, eine Rampe und Beflaggung lassen darauf schließen.

Zurück fahre ich an der Mauer lang um die Burg herum und dann in sausender Fahrt auf der Nordseite des Huy hinunter. An einer Gaststätte, die sogar geöffnet hat, geht es vorbei. Obwohl ich nichts zu trinken mit habe, lasse ich mich nicht verführen. Macht allein ja auch nicht so einen Spaß. Stattdessen biege ich in ein geheimnisvolles Anwesen ein, da steht ein Schild "Kunstwerkstatt". "Halt, hier nicht mit dem Fahrrad rumfahren!" tönt es mir entgegen. "Ich bin auch gleich wieder draußen" kann ich gerade antworten und sehe eben noch, daß da ein paar Skulpturen, Kunstwerke wohl, ausgestellt sind. Außerdem kostet das ganze Eintritt. Weniger aus Sparsamkeit als aus Faulheit, vom Fahrrad abzusteigen, fahre ich also wieder raus aus der geweihten Stätte. Nun liegt links eine Domäne bzw. Gutshof mit dem Namen Röderhof. Links oben thront darüber die Huysburg, die von hier aus gut zu sehen ist. Nochmal riskiere ich eine gelbe Karte und durchquere das Anwesen. Wie meistens handelt es sich um eine LPG, näheres ist nicht in Erfahrung zu bringen. Zum Glück geht es hinten wieder raus aus dem Hof. Nach Befragen einer Passantin orientiere ich mich dann Richtung Mönchshai. Nach 900 m soll sich eine Höhle befinden, diese aber bleibt mir verborgen. In Mönchshai wieder militärische Einrichtungen, auch hier hat man den Soldaten einen Kletterspielplatz eingerichtet. Es lebe der Sozialstaat.

Bald stehe ich an einem Waldrand oberhalb des Ortes Dingelstedt. Eigentlich wollte ich über Wilhelmshall fahren, das klappt also nicht. Also den Hang hinunter, an einer Obstplantage vorbei, wo man fürchterlich mit Unkrautvernichter gehaust hat, das ungemähte Gras hängt gelb und welk herum. Von Dingelstedt geht es über Anderbeck nach Badersleben. Die Straße ist gesäumt von Kirschbäumen, einmal kann ich eine Handvoll stiebitzen, ansonsten scheinen sie schon gepflückt zu sein. In Badersleben fährt gerade ein Personenzug nach Dedeleben ab. Ich fahre auf der Straße nebenher und es entwickelt sich wieder ein wenig Kommunikation. Bei Tempo 30 km/h meinerseits und wohl 40 km/h Tempo des Bummelzuges machen der Lokführer und ich uns gegenseitig anfeuernde Gesten. Auch ein paar Fahrgäste nehmen Anteil an dem kleinen Rennen, das natürlich zu meinen Ungunsten endet. Im nächsten Ort namens Vogelsdorf ist bei meinem Eintreffen der Zug schon wieder weiter. Aber zwei auf der Straße schleppen Koffer, da fahre ich vorbei und versäume nicht darauf hinzuweisen, daß ich nun wieder schneller sei.

In Dedeleben mache ich eine kleine Rundfahrt durch die Dorfstraßen. Ein austrocknender Dorfteich mit Enten und Gänsen bildet den Vordergrund für ein Bild von der Kirche. (Jahre später stellt sich heraus: das Bild wurde vermutlich in Anderbeck gemacht)

In einem Seitenweg kann ich mich gerade an einem quergestellten Militärfahrzeug vorbeidrücken, das hier für eine private Bauaktion zweckentfremdet wird. Gebaut wird allerorts ganz emsig, meistens auf der Basis Eigenleistung und Nachbarschaftshilfe, da hat man Übung drin. "Alle fleißig?" frage ich, nur um mich da nicht ganz wortlos vorbeizumogeln. "Aber ja!" ist dann auch die einzige Antwort. Zurück wieder nach Mattierzoll. Da steht schon wieder ein mit alten Möbeln vollgepackter Mercedes, wieder Kennzeichen GI. Das Geschäft scheint zu blühen. Vor dem Grenzübergang Mattierzoll geht es links ab über den Hessendamm. In Veltheim ein Hinweisschild:

Cafe am Park Bei Paula

Davon ist mir schon erzählt worden. Eine ausgebaute kleine Terrasse, urgemütlich soll das sein. Aber ich muß weiter, um gegen 18 Uhr wieder zurück zu sein. Hinter Osterode ist eine Lücke im Grenzzaun, in einer extra aufgestellten Bude sitzt wieder ein Grenzer, immerhin hat er zur Gesellschaft einen Schäferhund dabei. Autos können hier noch nicht durch, die Verbindung nach Hornburg soll ab 1. Juli fertig sein. Ich versuche, noch herauszubekommen, ob man Möbel aus der DDR ausführen darf, aber da weiß der Grenzbeamte nichts genaues. Da ich keine Möbel transportiere, darf ich passieren, aber der Paß wird kontrolliert. Wenige hundert Meter weiter ist schon wieder ein Grenzübergang, die Straße nach Rohden ist wiederhergestell und für Autos passierbar. So wird nach und nach wie bei einer Organverpflanzung überall Ader mit Ader verbunden.

Kurz vor 18 Uhr bin ich wieder in Hornburg. Nach gut 90 zurückgelegten Fahrradkilometern genießt man das mühelose Autofahren. Leider ist der Genuß des Autofahrens für die Mehrzahl unserer Zeitgenossen wohl so attraktiv, daß eine andere Fortbewegungsart gar nicht erst in Erwägung gezogen wird. Ich habe jedenfalls an diesem Tag außer den beiden entschwindenden Rennfahrern am Fallstein keinen weiteren Gesinnungsgenossen getroffen.


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