Wir gehören nicht zu denen, die auf Kommando feiern. Vielen anderen ergeht es genau so. Man spürt wohl, daß wir ein ganz bedeutsames und geschichtliches Datum begehen, aber wir können es nicht in der Weise feiern, wie es der Sache gerecht werden würde. Diese Gefühl bekommen wir am Tag danach schriftlich: ein amerikanischer Politiker wundert sich über die Unfähigkeit der Deutschen, den Tag der Einheit in der Freude zu begehen, die man erwarten könnte. Letzlich ist das gut so, denn ein vor nationalen Gefühlen überschwappendes Vereinigungsfest hätte uns nicht gut zu Gesicht gestanden.
Außerdem müssen wir zum Elternabend, der am Dienstag Abend zu diesem nicht ganz glücklichen Termin anberaumt ist. So versäumen wir die Rede unseres Bundeskanzlers im Fernsehen, falls man die überhaupt ausgehalten hätte. Stattdessen ein bißchen Lothar de Maiziere, auch da fehlt es uns an Bierernst, zu sehr erinnert das ganze an das "Gummivariete" der Sendung "Hallo Deutschland". Wir rätseln, ob auf der Fernsehkamera ein Scheibenwischer gegen die feuchte Aussprache bei Zischlauten montiert ist. Dann die Live-Übertragungen aus Berlin. Ein Ausspruch: "Mit Bouletten, Popcorn, Feuerwerk - so geht es in die deutsche Einheit". Das sagt alles. Eine Diskussion, Günter Grass ist beeindruckend mit Gedanken, die den teilnehmenden Politikern wohl über den Horizont gehen.
Dann der Höhepunkt des Abends: die Fischerchöre singen auf dem Brocken. Eine Woche zuvor hatten Naturschützer noch gegen die überschwemmenden Touristenfluten auf dem Brocken protestiert. Schulkinder haben säckeweise Abfall an den Rändern des Brockenaufstiegs gesammelt. Heute sind Bühne, Zelt, Schweinwerfer und Gerüst, Kameras und Übertragungswagen in dem Naturreservat versammelt. Im Fernsehen ist nicht zu erkennen, daß das ganze auf dem Brocken stattfindet, also ist das eher "symbolisch". Man sieht den Besuchern in ihren Anoraks zwar an, daß sie bewegt sind, wenn sie die dargebotenen Volkslieder "Sah ein Knab..", Ännchen von Tharau...","Kein schöner Land...","Die Gedanken sind frei..." u.a.m. trotz weitgehend fehlender Textkenntnis mitsingen. Aber dieser Gotthilf Fischer! Der kommt sich da vor, da zieht es einem die Schuhe aus. Schließlich gipfelt diese "Brockenorgie" in 1142 m Höhe mit der Liedzeile: "...in diesem Wiesengrunde möcht ich begraben sein...".
Bei uns fliegen derweil auf dem Fußboden, wo Wäsche sortiert wird, einzelne Socken zwischen den Akteuren hin und her. Mahnend lasse ich aus meinem Sessel heraus zwischen zwei Schluck Bier vernehmen: "Am Tag der Deutschen Wiedervereinigung trennt man keine Socken voneinander - das bringt Unglück". "Wieso ?" fragt Stefanie. Antwort: "Das war schon immer so !". Ob dieser Anstrengungen schaffen die weiteren Familienmitglieder das Aufbleiben bis Mitternacht nicht, sodaß ich - auch kurz vor dem Eindösen - die Sache allein überstehen muß. Endlich ein ruhender Pol auf dem Fernsehschirm, eine riesige Fahnenstange, dahinter als Kulisse der Reichstag und die versammelten Menschenmengen. Dann schlägt die Uhr zwölf: das Feuerwerk bricht los, die Freiheitsglocke läutet, die Flagge wird gehißt, man singt das Deutschlandlied. "Deutschland ist einig, Deutschland ist wieder souverän!" entfährt es einem Fernsehberichter. Über allem stahlt der Vollmond und Kohl, der "Vereinigungskanzler". Dann habe ich auch genug von diesem "Ersatzsylvester" und gehe zufrieden über die "Souveränität" ins Bett.
Am Morgen des neuen Einheitstages strahlt die Sonne, reinstes Sommerwetter. Ich muß natürlich irgendwas machen, "Wer kommt mit?". "In die DDR? - näh". Vielleicht wird überall gefeiert und es herrscht eine Stimmung, wie um Weihnachten - man muß sich das doch mal ansehen. Also nur Heidi und ich, auf jeden Fall in bescheidenem Rahmen, möglichst nicht in irgendwelche Autostrudel geraten. Ich schlage Hornburg/Osterwieck vor, das liegt am nächsten. Fahrräder aufgeladen, groß mitzunehmen ist auch nichts, dennoch wird das wichtigste vergessen, wie wir später sehen werden.
Nach Hornburg fahren wir eine halbe Stunde mit dem Auto, von dort geht es mit dem Fahrrad an der Ilse entlang. Es ist "Kaiserwetter", das Radfahren und die Luft sind ein Genuß. Wir fahren auf der "Rimbeker Straße", tatsächlich ist der Grenzzaun auf ein paar Metern beseitigt, sodaß man über eine Wiese den weiteren Weg nach Rimbek erreicht. Ein Grenzpfosten macht einen jämmerlichen Eindruck, Nachahmer der "Mauerspechte" haben ihm stark zugesetzt, wie ein abgenagter Hühnerknochen sieht er aus. Ein Foto davon, das hat ja geradezu symbolischen Wert.
Wir erreichen Rimbek, dort ist es ganz ruhig, keine Leute zu sehen. An der Kirche vorbei, die sieht immer noch keine besseren Tage. Es geht durch Bühne und auf holperigem Pflaster weiter nach Stötterlingen. "Direkt nach Osterwiek, oder Abstecher über Lütgenrode?" frage ich, "lieber direkt" heißt die Antwort. Dann an der Abzzweigung entschließen wir uns doch für den Umweg, da es nur einen Km ausmacht. Die Kirche von Lütgenrode grüßt schon eine ganze Weile von ihrem Berg herunter. Auch die Kirche von Stötterlingen ist interessant, sie hat einen Fachwerkturm.
Es geht an den Aufstieg nach Lütgenrode, es geht wohl so einen halben km bergauf. Plötzlich geht mir die Puste aus. Damit meine ich genauer gesagt den Vorderreifen. Wiederaufpumpen hilft nichts, die Luft zischt hörbar heraus. Nun ist guter Rat teuer, Flickzeug oder Ersatzschlauch befinden sich heute nicht im Gepäck.
So gibt es nur den Ausweg, mit dem anderen Rad zurückzufahren und das Auto zu holen. Wir schieben noch hinauf auf den Berg, dann sause ich den gleichen Weg wieder zurück. 8 km hat unsere heutige Radtour aus Anlaß der Wiedervereinigung bei herrlichstem Wetter gedauert. Heidi war am Morgen drauf und dran, gar nicht erst mitzufahren, weil sie eine Gewalttour befürchtet hatte. Nichts davon, obwohl mein Tempo für den Rückweg nicht von Pappe ist. Nach 25 Minuten erreiche ich das Auto, wie ein Triathlet bei Disziplinwechsel wird das Fahrrad verstaut und das Auto gestartet. Nach weniger als einer Dreiviertelstunde bin ich dann auf dem schon vertrauten Weg wieder zurück in Lütgenrode. Um zur Kirche zu gelangen, wo wir uns verabredet haben, muß man um das ganze Dorf herumfahren. Vor dem alten Herrschaftshaus wird das Auto abgestellt. Da laufen viele Menschen herum, nur keine Spur von meiner Heidi.
Also das Fahrrad wieder raus aus dem Kofferraum und auf die Suche. Dazu fahre ich den steilen Berg hinunter, die Dorfstraße entlang. Vor einer Kneipe (Einbecker Bier) stehen einladend in der Sonne Tische und Stühle, hier feiert man gemütlich das "Einig Vaterland". Mir ist gar nicht so gemütlich, da bin ich dahingerast wie ein Besessener und nun klappt das hier mit dem Treffpunkt nicht. Zwischen den herumstehenden Fahrrädern suche ich das meine mit dem Platten, aber es ist nicht zu entdecken. Als der Ortsrand erreicht ist, muß ich unverrichteter Dinge umkehren. Dazu aber wieder den ganzen Berg hinauf. Da kann ich auf einem steilen Schotterweg mal wieder meine Kondition und die Steigfähigkeit des Mountainbikes erproben. Wir sind beide an der Grenze des Möglichen, beim Rad drehen die Hinterräder durch, und ich bin nach 50 m groggy. Den Rest schiebe ich hoch, da sitzt Heidi gemütlich unter einer Kastanie, von der laufend Geschosse herunterknallen. Bisher hat noch keines getroffen, deswegen sind wir auch nicht allzusehr verstimmt. Die Radtour ist sowieso zuende, da brauchen wir keine Eile zu haben.
Wir schauen uns auf dem LPG-Gelände um, das sich um die Kirche herum befindet. Das Dach der Scheune neben der Kirche hat man ausgebessert, unten sind Rinderställe untergebracht. Das Dach des Kirchenschiffs liegt im Innern der Reste der Gemäuer, an der einen Seite steht die hölzerne Empore im Freien. Auf der Rückseite der Ruine kann man aus einem Aushang genaueres erfahren. Es handelt sich um die "St. Stephanie" Klosterkirche, erbaut im Jahre 965. Es gibt einen Förderkreis, dem es offensichtlich nicht gelungen ist, die Bausubstanz zu retten. Die Bilder zeigen noch das intakte Dach. Wie es weitergehen wird, ist auch dem Aushang nicht zu entnehmen. Heute ist um 11 Uhr hier eine Freiluft-Andacht abgehalten worden.
Das Herrenhaus entpuppt sich als Mischung aus Gemeindehaus und Kneipe, diese heißt "Brockenblick" und das aus gutem Grund. Der Harz liegt ausgebreitet vor einem, in der Sonne bei leichtem Dunst ist alles in eine blaue Pastellfarbe gehüllt. Wir begeben uns nun wieder in unser Auto und fahren die zwei Km nach Osterwieck hinunter. In der Nähe der Kirche stellen wir das Auto vor dem "Eulenspiegelhaus" ab. Auf dem Kirchplatz ist ein wenig Rummel, Karussell, Bier- und Würstchenbuden. In die Kirche kann man leider nicht hinein, nur an Sonnabenden und Sonntagen, der Tag der Wiedervereinigung ist aber ein Mittwoch. Viele Leute geben sich die Klinke der Tür in die Hand, die sich dennoch nicht öffnen läßt. Das sind so die kleinen Dinge, die einen ärgern, daß sich an einem solchen Tag keine Ausnahme machen läßt. Was heißt überhaupt Ausnahme, es wäre eine Selbstverständlichkeit, den Besuchern einen Einblick in das Kircheninnere möglich zu machen. Dafür ist das Dach erneuert, und das hat allerhand gekostet...
Wir bummeln herum, in gerade zwei oder drei Straßen sind die Häuser gut hergerichtet, eine Ecke weiter kurz vor dem Verfall. Mehr ist hier heute nicht zu sehen, so fahren wir bald wieder nach Hause.