Ein Tag des Lebens (Keine Radtour) 19.11.89

Mit Superlativen soll man sparsam umgehen, benutzt man doch Wendungen wie "Tag des Jahres", "Hochzeit des Jahrhunderts" u. dgl. zu gern. Hier aber ist ein "Tag des Lebens", haben wir doch ein halbes Menschenalter auf ihn warten müssen und werden wir ihn für den Rest unseres Lebens nicht mehr vergessen.

Erstmal handelt es sich um einen ganz normalen Sonntag, den 19.11.89. Wie üblich schläft man aus, obwohl das Wetter schön ist und die Sonne scheint. Aber es ist recht kalt und es weht ein rauher Ostwind. Da läßt man es erstmal gemütlichin angehen und während das Frühstück bereitet wird, berät man, was am heutigen Tag unternommen werden könnte. Mir brennt es schon seit Tagen auf den Sohlen, man erlebt das Wunder der Grenze seit nun 10 Tagen, aber nur im Fernsehen oder in den flüchtigen Begegnungen mit den einströmenden Menschenmengen "von drüben". Aber auch wir wollen hinüber, nicht weil wir etwas brauchen oder uns dort holen wollen. Wie oft haben wir vor der unüberwindlichen Grenze gestanden, ein Denkmal des Wahnsinns und wie ein Schnitt durch uns selbst.

Plötzlich erzählen Nachbarn und Freunde, daß sie so einfach hinübergegangen sind, am vergangenen Sonntag, als es noch drunter und drüber ging und die Menschen sich in spontanen Begegnungen in den Armen lagen. Inzwischen ist eine Woche vergangen, ein bißchen ist das alles schon "normal", dennoch erleben wir an diesem Wochenende einen Rekordansturm auf unsere Städte.

Was also unternehmen? Am Sonnabend wäre ich schon mit dem Rad zu einem Grenzgang aufgebrochen, der kalte Wind und die Ungewißheit, ob man so einfach ohne Visum hinüber kann, haben mich davon abgehalten. Heute sind die Kinder mit von der Partie, also beschließen wir, eine Erkundungsfahrt mit dem Auto zu machen. Pässe und Landkarten sowie ein Beutel Apfelsinen sind schnell eingepackt und wir fahren los. Über Stöckheim, Salzdahlum nach Ahlum, ab hier begegnen uns immer mehr "Trabbis" und "Wartburger", wie Stefanie sie nennt. Wir kommen nach Schöppenstedt, das ist sonst ein verschlafener Ort am Rande der Welt. Heute ist es anders, die Straßen sind zugeparkt und die Menschen drängen sich in den Geschäftsstraßen.

Nun fahren wir in Richtung neuer Grenzübergang Mattierzoll, von dort wäre man im Nu im Ostharz. Die Gegend wird in Richtung Grenze immer einsamer, hier befindet man sich im Großen Bruch, heute allerdings längst landwirtschaftlich nutzbar gemacht. In Mattierzoll wird aussortiert, wer nur gucken will, muß hier das Auto abstellen. Auf Anfrage erfahren wir, daß heute der Übergang ohne Visum nicht möglich ist. So gehen wir den Kilometer bis an die Grenze zu Fuß. Viele sind mit uns unterwegs und freuen sich über die Szenen, die sich bei der Einreise der strahlenden und winkenden DDR-Bürger ereignen. Manche stecken ihnen gleich Geschenke oder Zeitschriften durch die Autofenster. Aber auch ein Trabbi hat was mitgebracht: unseren westdeutschen Grenzern werden ein paar Flaschen überreicht. Ob auch die Kollegen auf der anderen Seite etwas abgekommen haben?

Hier kann man nun nicht weiter, aber es wird uns gesagt, daß von Schöningen nach Hötensleben heute ein neuer Übergang besteht, dort soll eine Art Volksfest stattfinden. Mir ist ein bißchen mulmig bei dem Gedanken an die Menschen- und Automassen, die einen dort womöglich erwarten. Aber es gibt nichts zu überlegen, mit unseren verschiedenen ausländischen Gästen haben wir genau an diesem Punkt, am Fährhaus Hötensleben schon fassungslos gestanden. Das war 1978 mit Tiziana aus Italien, in weiteren Jahren mit Anne aus Uganda, Pierre und Sylvian aus Frankreich sowie Teresa aus den USA. Nur in diesem Jahr haben wir es versäumt, unsere Gastschüler aus Frankreich, Neuseeland und Spanien dorthin zu führen. Hätten wir es nur getan, sie hätten ein Stück Geschichte erfahren.

Nun wollen wir selbst die Geschichte erleben und voller Spannung fahren wir nach Schöningen. Natürlich ist auch hier alles voller DDR-Fahrzeuge. Die Zufahrt nach Hötensleben ist ausgeschildert, dann kommt aber zunächst ein Sperrschild. Wir landen vor dem Bahnhof in Schöningen und fahren im Kreis. Nun fahren wir um die Absperrung herum und kommen auf diese Weise etwas weiter. Bald aber stehen Männer vom THW auf einer Kreuzung und erklären, wie es weitergeht. Es besteht ein Pendelverkehr mit Bussen zur Grenze, das Auto stellen wir ab.

Die Straße zur Grenze gleicht einem Karawanenweg, Pkws, Busse, Fahrräder und viele Fußgänger versuchen miteinander auszukommen. Wir warten erstmal auf einen Bus, leider fährt einer nach dem anderen an uns vorbei, entweder weil er bereits besetzt ist oder der Fahrer nicht bemerkt, daß Leute mitfahren wollen. Als nach einiger Zeit einer hält, können nur etwa 8 Leute einsteigen, zu denen wir naturgemäß nicht gehören. Als wieder ein Bus naht, winkt uns aber zuvor ein offensichtlich gutgelaunter junger Mann an sein Auto und läd uns zur Mitfahrt ein. Ohne das Auto lange zu betrachten, steigen wir ein, und eröffnen mit einem "Auch von drüben ?" das Gespräch. Aber wir haben uns zu unserem Bedauern geirrt, wir sitzen in einem Renault mit Helmstedter Kennzeichen, unser Fahrer will mit dem Auto hinüberfahren. Gerade davon haben wir ja angesichts des drohenden Verkehrskollapses Abstand genommen. Nun - jedem seinen Spaß, so kommen wir jedenfalls angenehm an die Grenze und erzählen und hören noch so das eine oder andere. Am Fährhaus angekommen steigen wir aber aus, die entscheidenden Meter müssen wir zu Fuß zurücklegen.

Am Fährhaus

Hier sind auch einige Buden aufgebaut, noch hat man keine überhöhten Preise erhoben. Wir essen jeder eine Wurst, nur Stefanie beschränkt sich angesichts der aufregenden Ereignisse aufs Zusehen. Nun betrachten wir erstmal in Ruhe das Bild, daß sich einem hier bietet. Wie auf einer Ameisenstraße ziehen Fahrzeuge und Fußgänger in beiden Richtungen durch die Durchbrüche in den beiden Grenzmauern. Nachdem wir uns gestärkt haben, reihen wir uns in die Kolonne ein, ich sage noch "Bis hierher waren wir schon" und einen Schritt weiter "Und bis hierher noch nicht", da befinden wir uns schon auf der Brücke über den Grenzbach, dann unmittelbar vor der klaffenden Lücke in der Mauer, dann im Todesstreifen. Nicht jetzt aber später fällt mir der Vergleich mit der Mondlandung ein: "Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit". Wie gut paßt das jetzt, eine halbe Autostunde von zu Hause entfernt.

Ameisenstraße

Erstmal gibt Heidi ihre in solchen Situationen erprobte Vorstellung. Es gelingt ihr hier wie später nur ganz unvollkommen das gleichzeitige Gehen und Umherschauen. Wir passieren nämlich gerade unseren Chauffeur und winken ihm zu, da tritt Heidi zwischen zwei Betonplatten ins Leere und liegt der Länge nach auf DDR-Gebiet. Der Schreck dauert nur kurz, es ist nichts passiert, also hat man was zu lachen. Wer war nun zuerst drüben ? Wir passieren erstmal ganz ordnungsgemäß die Grenzkontrolle. Da wir natürlich die Pässe dabeihaben, lassen wir uns jeder einen Stempel geben. Noch ein Blick auf den Todesstreifen, alles ist plattgewalzt, vor den Mauern stehen ein paar spanische Reiter, Gitter- und Stacheldrahtreste sind auf einem Haufen zusammengeschoben. Links oben auf der Anhöhe steht ein blauer verwahrlost aussehender Beobachtungsturm. Der soll nur verfallen: "Schaut ihn Euch nochmal an, bald verschwindet er sicher."

Eine frierende Gesellschaft

Dann sind wir im Dorf Hötensleben, fast unsicher auf den Beinen weil umherschauend, wie sieht es nun hier aus, was für eine Atmosphäre herrscht hier? Gleich hinter der Grenzmauer kleine geduckte Häuser, nicht verwahrlost aber ärmlich, wie kann man hier leben und atmen? Auf holperigem Pflaster geht es die Straße hinauf, vorbei an der langen Autoschlange Richtung Westen. Oben an der Kurve qualmt es, da steht ein sonderbares Gefährt. Bei Näherkommen entpuppt es sich als graue Feldküche.

Feldküche

Hier wird aber weder gegrillt noch Eintopf angeboten, sondern aus heißem Wasser und Jamaika Rum ein dem Wetter entsprechendes Gebräu ausgeschenkt. Gegenüber eine Drogerie, in dem kleinen Vorgarten sind ein paar Begrüßungstafeln aufgestellt, man fotografiert.

An der Drogerie

Da öffnet sich die Tür, eine Frau tritt auf die Treppe und sagt: "Herzlich Willkommen hier bei uns, vielen Dank, daß Ihr alle herkommt, wir sind so ein toter Ort." Wir können gerade sagen, daß wir uns freuen, kommen zu dürfen, stehen dann aber einen Augenblick uns sprachlos gegenüber. Da kommen der Frau die Tränen und sie geht wieder hinein. In den Eingängen der Häuser sieht man sonst keine Menschen, vielleicht sind sie alle "rüber".

Eine Ecke weiter ist ein Lokal, man drängt sich hinein, auch wir. Es ist überfüllt, die Ausstattung ist dürftig, aber das stört niemanden. Ich finde das fast besser als unseren Wohlstandsluxus, aber wir haben das ja nicht jeden Tag zu ertragen. Hier hält es uns auch nicht, wir wollen noch mehr sehen. Erstmal schaun, wo die Kirche ist, denn da ist wohl auch hier noch immer der Ortsmittelpunkt. Bald stehen wir vor ihr, die Türen stehen weit auf, von innen dringt Orgelmusik und Gesang. Wir gehen hinein, wann hätte man eher einen Grund, ein Gotteshaus zu betreten, als heute.

Was wir sehen, hören und empfinden, nimmt uns die Sprache und treibt uns die Tränen in die Augen. Man singt "Lobet den Herren", begleitet auf der Orgel, alle Kerzen sind angezündet, der Altar und der Orgelprospekt sind im Barockstil prächtig ausgestattet, wir entdecken die Jahreszahl 1691. Wenn man die Augen schließt, durchatmet und denkt, wo man nun steht, man glaubt es nicht. Heute morgen habe ich noch zu Hause mein gekochtes Ei aufgeklopft und nun stehe ich in der Kirche eines Ortes, in den wir viele Male sehnsüchtig hinübergeschaut haben. Ausgerechnet hierher kommen wir das erste Mal! Mit dem einen oder anderen sprechen wir ein paar Worte, wie schön ist es, daß einen hier der erste Gang in die Kirche führt.

Wieder draußen entdecken wir bald, daß es eine weitere Kirche gibt. Diese ist viel größer, besser ausgestattet und in bestem Zustand. Das ist die katholische Kirche, trotz ihrer besseren Ausstatttung strahlt sie aber nicht die Heimeligkeit der "armen" evangelischen Kirche aus. Hier sind zu diesem Zeitpunkt nur ein paar wenige Gäste versammelt, der katholische Pfarrer befindet sich lange nach Ende der Messe immer noch in der Kirche, begrüßt jeden mit Handschlag und beantwortet die vielen Fragen. Nun erfahren wir allerhand Interessantes über den Ort und über das Zustandekommen der Grenzübergangsstelle. Nebenan hat man eine Schule zu einem Wiederaufnahmelager für Rücksiedler eingerichtet, nicht ein einziger drängelt sich dort bislang. Wir hören von zwei Industriebetrieben, einer Trocknerei für Landwirtschaftserzeugnisse und einem Armaturenwerk für Geräte der Milchwirtschaft, das 300 ArbeiterInnen beschäftigt. Die überschüssige Wärme der Trocknerei wird in teilweise unisolierten Rohren quer durch den Ort zum Heizen des Armaturenwerkes geleitet.

Nach dem Besuch der beiden Kirchen gehen wir nun noch ein wenig herum, schauen über die Zäune und sind neugierig. Einmal sehen wir alte Gerätschaften, die man bei uns als Dekorationsstücke gut absetzt wie Butterfaß, Waschtrog usw. Wahrscheinlich wird das nun alles bald zu Geld gemacht. Hoffentlich verfällt man hier nicht in dem Bedürfnis, alles nachzuholen, in die gleichen Fehler wie bei uns, indem alles glattgebügelt, einheitlich renoviert und verkleidet wird. Noch ist es nicht so weit und man erlebt ein Dorfbild, wie man es von seiner Kindheit kennt.

Schließlich stehen wir vor einem Uhrmacherladen, der hat geöffnet und kann sich über mangelndes Interesse nicht beklagen. Viele Leute kaufen sich hier ein Erinnerungsstück an diesen denkwürdigen Tag, schade nur, daß einige in weniger würdiger Weise versuchen, geradezu um die Preise zu feilschen. Unser Uhrmachermeister kommt aber sicher auf seine Kosten, wann hat es soviel Volk hier gegeben, mindestens seit Kriegsende nicht mehr, und das sind an die 45 Jahre. Der Uhrmacher ist Jahrgang 53, wie ich der Meisterurkunde an der Wand entnehme. Als Andenkenstück erstehen auch wir eine Bauernpfeife mit Porzellankopf.

Mit der Pfeife in der Hand ziehen wir, langsam zielloser werdend weiter. Noch ein Blick in den Supermarkt, den es hier auch gibt. An Waren scheint es eine Menge zu geben: Waschmittel, Spirituosen. Doch wo es fehlt, sehen wir ja an der Kauflust bei uns: frische Lebensmittel, Obst, Südfrüchte, alle Importware.

Ich schlage vor, abschließend nochmal in die kleine Kirche zu gehen. Auf dem Weg dorthin begegnen wir einem sehr feinen Ehepaar so nach dem Motto: erst kommt die Video-Kamera, dann ich, dann Mutti; jedenfalls bewegt man sich in dieser Reihenfolge durch die Gegend. Von der Sorte laufen hier eine ganze Menge Leute herum, für die ist es egal, ob sie im Zoo, im Heidepark oder hier sind, Hauptsache, es ist was zu filmen.

In der Kirche ist es recht voll, ein Angehöriger der Landeskirche vertritt jetzt den Pfarrer, der den heutigen Tag bislang für einen gemeinsamen Gottesdienst in der Gemeinde Schöningen nutzt. Wir hören einiges über die Geschichte des Ortes und der Kirche, erfahren wie schwer es ist, die Bausubstanz zu erhalten. Das sieht man besonders bei einer Besichtigung der Kirche von außen. Als wir wieder hinausgehen, kommen wir noch in ein Gespräch. Wir erfahren den Namen: Frau W., Wallstraße, daher leicht zu merken. Auch ihr kommen die Tränen, die Freude, daß alle aus dem Westen kommen. Dieses Ereignis, von dem man zwei Tage vorher noch nichts wußte, ist überwältigend. "Warum haben wir uns solange einschüchtern lassen ?" ist eine Frage. Die Antwort ist einfach oder auch nicht: solange die Angst regieren konnte, war das wohl möglich. Wir verabschieden uns, man sagt "Auf Wiedersehen", denn es wird eines geben.

Beim Hinausgehen kommt ein Wirbelwind um die Ecke, bärtig, Zottelmähne, ein Kind in der Rückentrage. "So, ich werde gebraucht.." oder sowas vernehmen wir noch, dann ist er schon in der Kirche. Das also ist der Pfarrer!

Nun machen wir uns auf den Rückweg, immer mehr Menschen kommen uns entgegen und wir sind froh, daß wir schon früher da waren. Stefanie klaubt im Todesstreifen einen Betonbrocken als Souvernir auf, in der Schule behandelt man gerade die Vorgänge in der DDR, da ist dieses Stück Stein geradezu ein Dokument. Am Fährhaus fahren wieder die Busse, eine Tasse Kaffee noch und dann geht es zurück. Die Straße ist jetzt noch voller, bis an den Horizont steht die Warteschlange der Autos. In Schöningen besteigen wir wieder unser Auto und fahren zurück nach Braunschweig.

Was wir heute erlebt haben, werden wir nicht mehr vergessen.


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