Kapitel 1: Ankunft, Markttag in Ierapetra
Kapitel 2: Sitia, 7 Bergdörfer
Kapitel 3: Lasithi, Kritsa
Kapitel 4: Festos, Matala
Kapitel 5: Ag. Nikolaos, Spinalonga

Planung

Wer von uns die Idee hatte, nach Kreta zu fahren, weiß ich auch nicht mehr, wahrscheinlich war es aber der Neckermann-Katalog. Es ist nämlich so, daß ein Urlaub auf Kreta auch nicht mehr kostet als auf Mallorca, wo wir immerhin schon zweimal waren. Also, warum nicht Kreta, das ist doch mal ganz was Verwegenes. Wenn man gar nichts von einer Insel weiß, wie es diesmal bei uns der Fall ist, bedeutet das eine Reise ins Ungewisse. Ein Blick auf die geographische Verteilung der angebotenen Hotels, Anlagen oder gar Clubs läßt aber schon eine erste Entscheidung zu: nicht an die Nordküste! Da reihen sich die Touristikorte wie Perlen auf der Schnur. Ganz anders sieht es an der Südküste aus. Da gibt es nur einen touristisch erschlossenen Ort (im Neckermann Katalog), und der hat den geheimnisvollen Namen Ierapetra. Bemüht man sich um genauere Informationen, so kann man herausbekommen, daß es sich bei diesem Ort um die südlichste Stadt Europas handelt.

Heidi sucht das Hotel aus: Coriva Beach in Ierapetra-Strand. Die Bilder in den Katalogen sagen ja bekanntlich herzlich wenig über das aus, was einen dann schließlich erwartet. Hier klingt das alles ganz hübsch, die "Anlage" ist mit 45 Zimmern überschaubar, liegt direkt am Meer mit Garten, Pool usw. Mir gefällt vor allem der dahinter liegende Berg mit steilen kahlen Hängen. Die Buchung im Reisebüro klappt ohne Probleme, Reisetermin: zweite Maihälfte, wir werden also das Pfingstfest auf Kreta verbringen. Vorfreude? - Kein Problem.

Als nächstes kauft man sich die einschlägigen Bildbände von HB oder ADAC über Kreta. Da werden einem die Attraktionen dieser Insel um die Ohren gehauen: Knossos, Festos, Samariaschlucht, Lasithi Hochebene usw. Was man außerdem über Kreta lesen kann, das werden wir später noch sehen.

Nun ergibt sich noch was Lustiges. Durch Zufall erfährt ein befreundetes Ehepaar (Heidi und Peter) von uns und wir von ihnen, das sie just zur gleichen Zeit und mit den gleichen Flugverbindungen nach Kreta zu reisen gedenken. Ein weiteres befreundetes Ehepaar wird im Anschluß an uns ebenfalls diese Reise tun und was erzählen können. Bevor wir überhaupt einen Fuß vor die Tür gesetzt haben, ist für einen späteren Zeitpunkt schon ein gemeinsamer Kreta-Abend in der Planung.

Anreise

Nun wollen wir uns aber auf die lang ersehnte Reise begeben. Da wir zu viert sind, wählen wir den bequemen Weg und bestellen ein Taxi für die Fahrt zum Flughafen. Das ist gemessen an den Gesamtkosten des Urlaubs vertretbar. Der Flug geht um 6 Uhr ab Hannover, man kommt dann gegen 10 Uhr Ortszeit in Herakleion, der Hauptstadt, an. Die Uhr muß man eine Stunde vorstellen. Nach einigem Gegrübel haben wir es dann raus: der Flug dauert 3 Stunden. Man hat dann noch fast den ganzen ersten Urlaubstag vor sich. Da der Rückflug abends ist, kommt man so auf 14.5 Urlaubstage netto, d.h. ohne An- und Abreise. Unsere Taxifahrerin bestellen wir für die Rückreise gleich vor, alles andere interessiert uns nicht, 2 Wochen Kreta im Visier.

Der Flug verläuft planmäßig, um die Flughöhe zu erreichen, überfliegt man halb Deutschland längs, nach gut einer Stunde ist man schon über München. Wir haben sogar einen Fensterplatz, aber da Heidi nicht so gern nach unten schaut, läßt sie mich dann auch mal an das Bullauge. Da wir gegen die Sonne fliegen, kann man nur schlecht etwas erkennen. Die Donau schlängelt sich als glänzendes Band durch die Gegend, rechts soll der Großglockner zu sehen sein, meldet der Flugkapitän per Durchsage, aber das ist für uns auf der falschen Seite. Dafür sehen wir den Plattensee, wo wir auch schon mal mit dem Fahrrad waren - damals haben wir länger gebraucht.

Wenig später fliegen wir über Albanien, eines der ärmsten Länder Europas, wie wir erfahren (sonst wären wir da wohl nicht drauf gekommen). Wenn man nun hinunter schaut, kommen einem doch merkwürdige Gefühle. Man sieht unbewohntes Bergland, Straßen oder Wege schlängeln sich wie ausgelegte Schnüre über die Hänge und durch die Täler. Hin und wieder ein See, in dem die Sonne aufblinkt. Welche Welten trennen uns hier oben von der Welt da unten. Schneebedeckte Gipfel, dahinter scheint das Land weg zu kippen zu einer tiefer gelegenen Ebene. Keine Ahnung, wie die Berge und Orte unter uns heißen mögen. Ein ganz weißer Gipfel wird dann doch erklärt: der heißt "Olymp"! Als steinerne Wüste ist Athen erkennbar, es folgt das Ägäische Meer mit seinen Inseln.

Der Höhepunkt ist wohl der Blick auf Santorin, diesem Fragment einer Katastrophe vor mehr als 3000 Jahren, die auch Kreta sowie den gesamten Mittelmeerraum betroffen hat. Die Insel Thera, wie sie auch heißen mag, ist durch einen Vulkanausbruch schlichtweg in die Luft geflogen. Erdbeben, Seebeben und eine auf Kreta 200 m (!) hohe Flutwelle hat die dortige hochstehende minoische Kultur vernichtet.

Die Gebirge Kretas, noch schneebedeckt, tauchen auf. Wir umrunden zweimal (wegen der Landeerlaubnis) die vorgelagerte Insel Dia. Als wir etwas stuckerig landen, habe ich eine platte Nase vom rausgucken.

Ankunft auf Kreta

Wie immer ein großes Gedränge an den zwei Gepäckbändern, bis wir unsere Reisetaschen in Empfang nehmen können. Wir haben keine einzige Drachme in der Tasche, aber an einem Bankschalter ist ein vorgeschriebener Euroscheck angeklebt. DRS 45.000 und Fourtyfivethousand muß man draufschreiben. Datum und Unterschrift sind weggelassen, weil man die sonst wohl auch abschreiben würde. Von Heidi und Peter müssen wir uns nun trennen, die fahren in westliche Richtung, wir in die andere. Wir tauschen noch die Adressen der Hotels aus, vielleicht ergibt sich ja mal was.

Wir haben Bus Nr. 19, wem das was sagt, und entledigen uns erst mal der überflüssigen Kleidungsstücke aus der kalten Heimat. Natürlich scheint die Sonne, in den Bergen hängen nur ein paar Wolken. Bald erscheint auch eine "Neckerfrau", wie wir sie nennen, und begrüßt uns mit der erstaunlichen Eröffnung:

"Frisch gepreßter Orangensaft,
auf der ganzen Insel reifen jetzt die Apfelsinen,
sie haben sich die schönste Zeit für Ihre Reise ausgesucht".

Ich grübele gleich nach, zu welcher Jahreszeit sie wohl nicht von der "schönsten Zeit" spricht. Nachdem sie sich auch noch vorgestellt hat, was uns aber nichts nützt, weil sie gleich wieder verschwindet, beendet sie unter Applaus ihre kleine Ansprache mit "Willkommen auf unserer Sonneninsel!". Sonneninsel, wo gibt es das wohl sonst im Mittelmeer?

Im schönsten Sonnenschein fährt also der Bus schließlich los, nachdem die letzten Trödler eingefangen sind. Wir haben mehr als zwei Stunden Busfahrt vor uns, da sieht man schon einiges und braucht das später nicht mehr abzuklappern. Wir sind nicht sofort von der Landschaft begeistert. Es sieht sehr karg aus. Was wir unter Wäldern verstehen, das gibt es hier überhaupt nicht. Das wurde von venezianischen oder türkischen Besatzern in Vorzeiten alles weggeputzt, an eine Wiederaufforstung hat man zu jenen Zeiten sowieso nicht gedacht, heute ist alles ausgewaschen und verkarstet. Aber das Meer ist azurblau, das machen sich die verschiedenen Hotelanlagen zunutze, wo die Feriengäste nun der Reihe nach abgeladen werden. Noch möchten wir nicht tauschen, etwas beklommen erwarten wir unser Los. Neben uns packt ein Alleinreisender mit Rauschebart und Umhängetasche seinen Pumpernickel vom Flugzeugbreakfast aus und wird dann in der Nähe von Malia ausgeladen, wo eine der minoischen Palastanlagen freigelegt wurde. Wir tippen auf Archäologe, womit wir sicher gründlich daneben liegen.

Es geht nun weg von der Küste durch die Berge, vor Neapolis sogar durch einen Tunnel. Allmählich werden wir auf die sich zur Blüte anschickenden Oleanderbüsche an der Straße aufmerksam. Auch können wir zwischen Kiefern, Olivenbäumen, Pinien oder gar Eukalyptusbäumen unterscheiden. Eigentlich fangen wir immer mehr an, zu staunen, z. B. über die verfallenen Fundamente von Windräder, mit denen man früher zur Bewässerung das Wasser die Hänge hinauf gepumpt hat. In den Ebenen hat man damit aus Brunnen das Wasser in Zisternen gehoben, um das Land zu bewässern. Heute werden Motorpumpen eingesetzt, so ist das mit der Technik. Manchmal sieht man an einem Restaurant noch ein bespanntes Windrad, aber das ist dann Dekoration.

Man erreicht nun die Stadt Agios Nikolaos am Golf von Mirabello. Wieder wird der Bus leerer, hier ist es schon weitaus lieblicher als an der Küste zwischen Herakleion und Malia. Die weitere Fahrt um diese wunderschöne Bucht läßt nun nichts zu wünschen übrig. Es geht rauf und runter mit herrlichen Blicken auf das Meer und das Sitia Gebirge voraus. Kurz bevor wir die Abzweigung nach Ierapetra erreichen, sehen wir rechterhand ein Gewirr von Grundmauern an einem Hang, was mag das nun wieder sein? Wir werden sehen.

An dieser Stelle hat Kreta seine schmalste Stelle, 15 km trennen die Nord- von der Südküste. Durch Olivenhaine geht es dahin. Und links, da ist schon wieder was zu staunen, eine Schlucht in einer Felswand, als ob ein Beil dort in den Berg hineingefahren wäre. Wir werden sehen.

In Ierapetra verlassen uns weitere Gäste und streben mit ihren Koffern im Schlepptau hoffnungsfroh dem Club Petramare zu. Da ist alles mit hohen Mauern umgeben, damit niemand in die Karten gucken kann, die dort gemischt werden. Es geht weiter Richtung Osten, uns wird wieder beklommener zumute, grau und kieselig ist der "Strand". Vor so manchem Anwesen befürchten wir, daß man hier ausgeladen werden könnte. Schließlich steigt an einer etwas größeren Clubanlage - Magic Life - alles inklusive ist dort zu lesen - der Rest der Gäste aus. Nur ein älteres Ehepaar aus Hannover und wir zwei verbleiben noch. Und ich erkenne den Berg von dem Bild im Reiseprospekt wieder, nach wenigen hundert Metern sind auch wir am Ziel.

Coriva Beach - wirklich klein und anheimelnd. Als uns dann die Dame von der Rezeption in unsere Unterkunft führt, strahlen wir. Das Zimmer ist bescheiden aber urig, eine Terrasse schließt sich an, wo man sich ungestört und ungesehen aufhalten kann. Außer einem Stuhl und einem kleinen Tisch hat das Zimmer keine Möbel. Schränke und Schubladen sind in die gemauerten Wände und Podeste eingelassen. Die Betten bestehen aus steinernen Sockeln, die kann man nicht zusammenrücken.

Schnell ausgepackt, kurze Hose an, Rundgang - man kann es ja kaum erwarten. Wir gebrauchen nun den Begriff "Anlage" wirklich im positiven Sinn. Zwischen den Unterkünften führen verwinkelte Gänge hinunter zum Meer. Aus allen Winkeln sprießt und blüht es, riesige Gummibäume und Schirmtannen spenden Schatten.

Vor dem Pool ist eine Liegewiese unter Olivenbäumen. Der Weg zum Strand ist gesäumt von üppig rot blühenden Oleanderbüschen. Der "Strand" allerdings besteht auch hier aus grauem Kies. Man hat kreisrunde Sonnendächer aufgestellt, darunter wälzen sich auf Liegen die nußbraunen Urlauber. Wir wollen mit unser milchigen Hautfarbe natürlich nicht gleich als Neuankömmlinge auffallen, auch sollte man mit der Sonne am Anfang sowieso aufpassen. Trotzdem outen wir uns sofort als Neuankömmlinge, als wir mit bloßen Füßen dem Wasser zustreben. Schon nach wenigen Metern beschleunigen wir, es brennt höllisch unter den Fußsohlen. Endlich erreichen wir das rettende Wasser, amüsiert haben die nußbraunen Urlauber Teilnahme an unserer hopsenden Gangart genommen. Wir merken es dann auch, man geht hier nur auf Schlappen oder Latschen. Die läßt man tunlichst in sicherer Reichweite am Wasser stehen, wenn man sich in die Fluten stürzt. Wir aber müssen auch wieder zurück, denn unsere Schuhe stehen oben. Möglichst cool, einen hartgesottenen Eindruck machend. Aber das brennt bis unter die Hirnschale. Fürs erste sind wir schlauer, in der Folgezeit sind wir selbst die schadenfrohen Zuschauer von arglosen Opfern.

Ein Stück weiter ist ein Strandrestaurant, wir müssen etwas essen, denn bis zum Abendbuffet sind es noch etliche Stunden hin. Heidi bestellt etwas mit Fleischklößen und bleibt sozusagen in vertrauten Gefilden. Der Wirt empfiehlt aber auch eine Fischplatte: "Sährr gutt", da überlege ich nicht lange. Dann kommt ein Teller gefüllt mit wohl vier verschiedenen Fischarten, die ich leider nicht benennen kann. "Roter Knurrhahn" sage ich mal zu einer der Sorten. Sardinen und vielleicht Barben, große Garneelen und einige geröstete Tintenfische am Stück. Außer Gräten bleibt nichts übrig!

Nun sind wir der Ruhe bedürftig, werfen uns in Badekleidung und auf die Liegen auf der Liegewiese unter den Olivenbäumen. Gut daß man genügend Schatten findet, die Sonne würde man wohl für den Anfang kaum vertragen. Die Wiese ist nicht gemäht, da zeigt sich eine erstaunliche Artenvielfalt, bei uns unter dem vornehmen Namen "Ruderalvegetation" bekannt, der Rasenliebhaber bevorzugt den Begriff "Unkraut". Da sind aber nicht nur Brennesseln und Gänsedisteln dabei, sondern auch Malven. Eine dicke schwarze Hummel umkreist uns zuweilen, mag aber ob des reichlich aufgetragenen Sonnenschutzmittels (von Aldi) von einer nähren Annäherung Abstand nehmen.

Um 19.30 beginnt das Abendbuffet, wir kalkulieren scharf, daß wir das Sonnen- oder besser Schattenbad möglichst lange auskosten. Es bleibt noch Zeit, die beiden nahegelegenen Supermärkte, das sind eher gemütliche Läden, zu erkunden. Mit einem Fläschchen kretischen Wein für den Abend auf der Terrasse kehren wir zurück.

Vom Abendbuffet sind wir sehr angetan. Man kann sich kombinationsreiche Salate zusammenstellen, anschließend von vier warmen Gerichten kosten. Nicht immer weiß man so richtig, was man da zu sich nimmt, aber wir wollen ja keinen Sauerbraten. Die Gerichte werden per Aushang immer vorher angekündigt, oft unter ihrem griechischen Namen, da muß man eben raten.

Nach dem Abendessen kann man nicht mehr viel unternehmen, es wird sehr schnell dunkel, weil die Sonne steil untergeht. Auch am Tag steht sie fast senkrecht. Wir machen uns es heute an dem ersten Tag auch schnell auf unserer Terrasse gemütlich und lassen der ersten Begeisterung freien Lauf. Das kretische Weinchen unterstützt uns dabei. Zur Krönung huschen zwei Eidechsen an der Wand, eine größere und eine kleinere. "Bestimmt Mutter und Kind" meint Heidi.


Die Küste bei Koutsounari

Markt in Ierapetra

Wir nehmen unser erstes Frühstücksbuffet, das ist leider nicht so begeisternd. Nur eine Brotsorte, ein weiches Weißbrot. Das Wurst- und Käseangebot ist dürftig. Aber mit Tomaten, Schafskäse und Oliven kann man sich reichlich versorgen, man muß sich eben etwas umstellen.

Wir haben für heute eine Fahrt nach Ierapetra geplant und warten auf den Bus. Der genaue Name der Ortschaft, die sich hier den Berg hinaufzieht, ist übrigens Koutsounari. Pünktlich 10 Minuten vor Abfahrt begeben wir uns Richtung Haltestelle. Da steht der Bus schon da, gestikulierend fordert uns der Kontrolleur auf, uns zu beeilen. Wir galoppieren. Der Bus ist schon proppenvoll, wir finden gerade noch eine Platz auf der Rückbank. An der nächsten Haltestelle steigt ein wohlbeleibtes Ehepaar zu, einen Platz für die Dame können wir neben uns noch frei quetschen. Und wir werden aufgeklärt, heute ist Markttag in Ierapetra, da werden mindestens drei Busse eingesetzt. Wir haben den ersten davon erwischt. Markttag? - wir strahlen schon wieder.

Die Buszentrale in Ierapetra strahlt einen Hauch von Orient aus - so ist es jedenfalls irgendwo zu lesen. Es mag stimmen, eine Baustelle, alles staubig. Im Ticketoffice herrscht einiges Durcheinander. Zerbeulte mit Schnüren zusammengehaltene Kartons in einer Ecke, die Bestimmungsorte mit Filzstift aufgemalt, warten auf ihre Abfertigung. Das ist die Frachtabteilung.

Wir suchen den Wochenmarkt. Der befindet sich keinesfalls in der Ortsmitte, sondern in einer eher unbedeutenden Seitenstraße. Man kann ihn aber leicht finden, indem man entweder den Touristen folgt, oder den tütenschleppenden Leuten entgegengeht. Als erstes kommt uns ein Mann, behängt mit Körben entgegen, ein wandelnder Verkaufsstand. In einem Käfig auf dem Bürgersteig fiepst junges Federvieh. Ein Pappschild, das wir nicht entziffern können, liefert weitere Informationen. Man merkt schnell, daß es sich hier nicht um einen Touristenmarkt handelt, sondern es ist wirklich die einheimische Bevölkerung, die sich vor allem mit Obst und Gemüse für die kommende Woche versorgt. Da ist ein Fischverkäufer, der hat alle Hände voll zu tun, die Fliegenschwärme abzuwehren. In den Kästen liegt ein undefinierbares Sammelsurium von Fischen, manche blutig. Haben Fische Blut? Ich mache unauffällig ein Foto sozusagen aus der Hüfte, dann machen wir, daß wir weiterkommen.

Wir kaufen eine große Tüte Apfelsinen, die kosten so gut wie nichts. Sogar Bananen gibt es, die auf Kreta wachsen sollen, womöglich "Eurobananen"? Zitronen, Äpfel, Birnen, Käse, Zwiebeln, Knoblauch, Lauch, Gewürze, Kartoffeln, Tomaten, Oliven, Mispelfrüchte, Artischocken, Pistazien, Erdnüsse, geröstete Kichererbsen, Produkte, die wir gar nicht kennen.

Dann wechselt, weiter oben auf der Marktstraße das Angebot. Schuhe, Handtaschen, Gürtel, Badetücher, Handarbeiten wie gehäkelte Tischdecken, Teppiche, Kopftücher, Halstücher, Busentücher, Plastikblumen, der Antike nachempfundene Imitationen von Gesetzestafeln, auch in Plastik gehalten. Wir kaufen ein paar Sandalen für Heidi, damit sich das mit dem heißen Kiesstrand besser anläßt.

Allmählich wird man sich wieder bewußt, daß man selber Tourist ist, man deutlich als solcher zu erkennen ist, wie jeder andere dieser Spezies auch. Man kann jeder Figur in diesem Getümmel auf den Kopf zusagen, ob einheimisch oder Tourist. Obwohl das mit dem Kopf nicht ganz stimmt, auch Einheimische tragen Baseballmützen (die Jüngeren), aber senkt man den Blick tiefer, so ist spätestens bei den Beinkleidern die Sache entschieden. Vor allem beleibte zugereiste Figuren verbergen nur mühsam manche Wülste unter stramm sitzenden Shorts oder Bermudas. Die kretischen Frauen sind durchweg schwarz verhüllt, wir haben bis heute nicht herausgefunden, warum die Farbe Schwarz in den heißen Ländern so bevorzugt wird.

Wir gehen die gleiche Straße zurück, verdoppeln die Eindrücke. Wir haben zwei Stunden Zeit - jeder Tourist mißt seine Zeit genau - um Ierapetra, abgesehen vom Wochenmarkt, zu sehen. Wir sind offen für alle Eindrücke, geraten ans Meer, hier heißt es: das Libysche Meer. Man hat dann den Panoramablick, die Promenade, die sich hinauf zum Hafen erstreckt. Zwischen der Ufergasse und der Promenade befinden sich eine zeltüberdachte Taverne nach der anderen. Einladend gepolsterte Sitzhöhlen laden ein zu der Aussicht hinüber zu der Insel Krissi - oder Hrisi - wer wird aus diesen Schreibweisen schlau. Eingeladen wird man aber auch immer wieder unvermittelt von aus dem Nichts auftauchenden nett "Guten Morgen" wünschenden Anmachern. Die können alle ihre europäische Sprache: "Une Cafe, one Espresso, bitteschön, kein Problem". Man kann dann nur den Kopf wegdrehen, abwinken oder schnell weiterstreben.

So bewältigen wir mit Mühen die eigentlich doch sehenswerte Uferpromenade . Am Ende der Hafen und das venezianische Kastell. Die Fischerboote im Hafen sind hübsch, die Fangnetze gelb, gut für ein Foto. Dahinter die verschachtelte Altstadt. Man wandelt in engen verwinkelten Gassen herum, es geht um viele Ecken. Und die Busstation finden wir sogar auch wieder.

Den Nachmittag verbringen wir auf angenehme Weise auf der Krautwiese. Wir wagen uns auch ein erstes Mal in das Meer, die Latschen haben wir natürlich dabei. Beim Schwimmen in der See spürt man spätestens: jetzt ist Urlaub.

Später am Nachmittag ist aber noch der obligate Empfangstermin des Reiseveranstalters angesetzt. Eine ganze Reihe bereits leicht angebratener Gäste findet sich ein. Diesmal lauten die ersten Worte der Neckerfrau: "Es gibt auch noch gleich was zu trinken". Nachdem sie sich dann auch noch vorstellt, kommt auch das Getränk: frisch gepreßter Orangensaft. Vielleicht aber auch nur naturtrübe aus der Zapfanlage. Im Wesentlichen ist der Empfang eine Werbung für die organisierten Inselreisen, als da sind: Knossos, Lasithi, Ostkreta, Spinalonga, Samaria Schlucht, Jeepsafari und Santorini Kreuzfahrt. Die Preise bewegen sich allerdings zwischen 10.000 und 20.000 Drachmen (der Preis in DM ergibt sich, wenn man durch 1000 teilt und mal 7 nimmt).

Am Abend hören wir ein Gespräch mit, wo Teilnehmer der Samaria Schlucht von ihrer Unternehmung berichten. Die Samaria Schlucht ist mit 16 km die längste Schlucht Europas. Sie beginnt hoch oben in den weißen Bergen im Distrikt Chania. Um von unserem Ort dorthin zu kommen, muß man bald nach Mitternacht aufbrechen. Dafür ist man kurz vor Mitternacht wieder zurück. Die eigentliche Wanderung durch die Schlucht mag vier Stunden dauern. Es gäbe aber auch Leute, die machten das auf Zeit, mit der Stopuhr in der Hand. Die rufen dann wohl "Bahn frei - Kartoffelbrei" oder sowas, jedenfalls muß man dann schnell zur Seite treten, um den Expreß passieren zu lassen. Aber die Besucher der Samaria Schlucht haben durchweg leuchtende Augen, es ist wohl ein einzigartiges Erlebnis. Wir sparen das für unser späteres Leben auf, wenn wir mal in einem zu dieser Schlucht verkehrsgünstigeren Ort Urlaub auf Kreta machen sollten.

Die anderen Tagesreisen kann man auf preiswertere Weise unternehmen, wie wir sehen werden. Und die Jeep Safari, die werde ich auf meine Weise machen.

Sonntag

Heute wollen wir uns erst mal akklimatisieren. Der Himmel ist strahlend blau, in der Sonne ist es so heiß, daß man nichts weiter unternehmen kann, als im Schatten zu liegen und ins Wasser zu springen. Irgendwann am Nachmittag fällt uns auch mal ein, daß heute ja Pfingsten ist. Höhepunkt des Nachmittags ist ein Sturzangriff eines nicht identifizierbaren Flugobjekts auf Heidi. Es geht so schnell, daß ich leider nichts zu sehen bekomme. Der Beschreibung nach handelt es sich um ein etwa zigarrenlanges Insekt, dessen schwarzes Beingewirr im Flug senkrecht herabhängt. Schon ist das sonderbare Vieh wieder weg, wir erfinden den Arbeitstitel "Stabzikade". (In der Braunschweiger Zeitung war kürzlich ein Bericht über solche Tiere zu lesen. Da suchte eine Frau nach Abnehmern, weil die Anzahl ihrer Zöglinge durch ständiges Vermehren überhand zu nehmen drohte.)

Abends machen wir dann unseren Gang zu den beiden Supermärkten. Dort gibt es neben einem reichhaltigen Weinangebot natürlich auch Zeitungen, Postkarten und Bücher. Wir haben zwar reichlich Lesestoff mitgenommen, aber jetzt entdecken wir doch drei entscheidende Bücher, die wir sogleich kaufen und die uns in den nächsten Tagen die angenehmste Lektüre bieten werden. (Ich kämpfe gerade mit Peter Handke, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Da bleiben bei allem Verständnis für anspruchsvolle Literatur manche Passagen reichlich mysteriös verfremdet, um es vorsichtig auszudrücken).

Machen wir also eine kleine Buchbesprechung der drei Werke, die wir nun verschlingen werden. Das erste Buch ist - wie könnte es anders sein: Nikos Kazantzakis, Alexis Sorbas. Den Film kennt jeder, er wurde in den 60er Jahren in der Gegend von Chania gedreht. Die Handlung spielt sich aber in einer ganz anderen Gegend ab. Aus den Schilderungen geht hervor, daß es die Südküste Kretas am Libyschen Meer sein muß. An einer einzigen Stelle, als nach einem Arzt geschickt wird, wird ein Ortsname genannt: Kalo Horio. Auf der Karte ist der Ort zu finden, ganz im Südosten in den Bergen. Das Dorf an der Küste müßte demnach Ag. Irini sein, alles vorausgesetzt, der Ortsname stimmt und es gibt nicht einen weiteren Ort gleichen Namens. Was soll man sagen, ist es nicht ein herrliches Gefühl, so von der Strandliege aus im Dunst in der Ferne die Berge zu erblicken, die in dem Buch beschrieben werden, das man gerade liest? Nebenbemerkung: heute wird der Name Sorbas gern bei der Namensgebung von Tavernen und Kafeterions verwendet, obwohl die Kreter auf N. Kazantzakis schlecht zu sprechen sind. Nach seinem Tod hat man sich geweigert, ihn in Herakleion im städtischen Friedhof beizusetzen. Stattdessen ist sein Grab an der venezianischen Stadtmauer zu finden und heute, wie wir vermuten, auch werbewirksam in Stadtführungen einbezogen.

Das zweite Buch ist: Hans Einsle, Die Nachtbäume von Kreta. Es handelt von einem deutschen Archäologen, der ein halbes Jahr auf Kreta zubringt, dabei unter anderem als Teilnehmer der Schlacht um Kreta 1941 mit der Vergangenheit konfrontiert wird. Das Buch ist als Roman geschrieben, die Handlung scheint etwas konstruiert und ist von etwas gefühlsduseligen philosopischen Betrachtungen durchsetzt. Wenn man darüber hinwegsieht, erfährt man eine Menge über die kretische Geschichte und archäologische Besonderheiten.

Das dritte und schönste Buch über Kreta ist: David MacNeil Doren, Wind auf Kreta. Es beschreibt, wie ein junges Paar sechs Jahre lang Kreta kennen und lieben gelernt hat. Es ist schön geschrieben und schildert die Insel und ihre Bewohner, wie man sie heute gern erleben würde. Vor allem der Kontakt zu den Menschen bis hinauf in die entlegensten Bergdörfer ist sehr beeindruckend. Der Wermutstropfen leider, es handelt sich um die frühen 60er Jahre, als der Tourismus erst zaghaft anfing, auf Kreta Fuß zu fassen. Heute wird man vieles so nicht wiederfinden, manches Unzerstörbare aber doch.

Zurück zur Gegenwart. Das nächste Thema ist die Mobilität. Ein Auto mieten kann man an jeder Ecke. Mit einem Fahrrad ist das in unserem Ort schon schwieriger. Die Neckerfrau weiß nichts, an der Rezeption des Hotels weiß man auch nichts. Der Autovermieter neben einem der Supermärkte hat Fahrräder nicht mehr im Programm, seit der benachbarte Club - alles inklusive - auch Moutainbike-Touren anbietet. Da werden die Teilnehmer mit einem Fahrzeug in die Berge gekarrt und können dann, ohne einen Schweißtropfen zu vergießen, einen flotten Downhill hinlegen.

Zwei Häuser von unserem Hotel sehe ich dann aber vier Moutainbikes an der Wand lehnen. Mietpreis für einen Tag: 2.000 Drachmen (DM 14.-). Damit sind die Aussichten für die nächste Woche günstig.


Kapitel 2: Sitia, 7 Bergdörfer