11 Sonntag, 29.5., Tokaj, 88 km
Für die Weiterfahrt von Kosice gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine
ist, sich östlich auf Nebenstrassen in die Büsche und Berge zu schlagen.
Die andere ist, genau in Richtung Süden auf der E 71 26 km direkt zur
ungarischen Grenze zu fahren. Ab da könnte man - wieder auf
Nebenstrassen - die weltbekannte Weinstadt Tokaj anfahren. Nun ist heute
am Sonntagmorgen kaum Verkehr, ausserdem finde ich die Abzweigung "in
die Büsche und Berge" nicht. Damit steht das Tagesziel ja wohl fest.
Nach
einer guten
Stunde angenehmer Fahrt auf der schnurgeraden Europastrasse ist die
Grenze erreicht. Zu den Grenzformalitäten ist hier wie bei allen
anderen Grenzübergängen nichts weiter zu sagen - sie sind problemlos.
Bald hinter der Grenze kann man nun wieder auf Nebenstrassen begeben,
die ja auch landschaftlich interessanter sind, als die leidigen
Schnellstrassen. Da bietet sich ein netter
Rastplatz an, nebenan eine
Wiese mit Heuhucken, wie wir sie von früher (erstes Leben) kennen,
heute sieht man bei
uns immer nur diese unansehnlichen weissen Plastikpakete. Unter so einer
Heuherberge sollte man mal nächtigen, wenn man nicht zu Heuschnupfen
neigt. An der Strasse sind nun Schilder einer Euroveloroute angebracht.
Dann ist man ja wohl richtig.
Heuhucken |
Eurovelo |
Boldogkö Varalja |
Eurovelo ist eine Organisation, die in ganz Europa Fernrouten
entwickelt, die Nordsee Runde gehört auch dazu. Man kann aber auch vom
Nordkap bis nach Gibraltar gelangen, wenn einem gerade mal danach
ist...
Die Ortschaften sind gemütliche ländliche Strassendörfer. Heute am
Sonntag geben sich die Bewohner der Musse hin, mancher mit einer Flasche
Bier in der Hand. Die kleinen Dorfläden und Bars sind geöffnet. Zur
Linken zieht sich ein bewaldeter Höhenzug dahin, der heisst Zempleny
oder so. über den müssen wir irgendwann hinüber. Das zieht man mal
möglichst lange hinaus. Vorher noch eine Burg, Boldogkö Varalja, da
könnte man einen Abstecher bergauf machen. Das lassen wir lieber, für
ein Foto tut es auch der Zoom, leider ist es etwas dunstig. Nun müssen
wir über das kleine Gebirge. Eine winzige Strasse führt ein Tal hinauf,
gut zu fahren bis auf den Strassenbelag, der ist etwas hoppelig. So ist
auch die Abfahrt, da wird man nicht so schnell.
Zempley |
Komfortables Bushäuschen |
Heuernte |
Die Ungarische Ebene mit dem Fluss Bodrog liegt vor uns. Dort sind "schwimmende Wiesen", die nicht nur nach einem Hochwasser unter Wasser stehen. Daher gibt es hier auch so viele Störche. Wie man später erfährt, reisen auch Ornithologen aus ganz Europa zu Exkursionen hierher an. Die müssen dann ja wohl paddeln. Als ich einmal ein Blumenbeet fotografiere und mich hinterher umdrehe, fährt gerade ein schwer bepackter Radtourist vorbei. Das ist ein rollender Campingplatz, er grüsst nur unwillig und ist schon vorbei, da hätte ich auch gern ein Bild gemacht.
Schwimmende Wiesen am Fluss Bodrog |
Wicken am Strassenrand |
Weinpresse |
Phantasiegebäude |
Wir nähern uns einem hohen Berg mit einem Sendeturm auf dem Gipfel. Das ist der Hausberg von Tokaj, Kopasz (Kahlberg) 515 m, genannt. Damit rollen wir in die Stadt Tokaj ein. Dort findet gerade ein Weinfest - wo auch sonst - statt. Vorher hatte ich ein Pensionsschild gesehen, da kehre ich gleich ein bei Frau Josefne Kovacs. Für 20 EUR samt Frühstück beziehe ich eine ganze Wohnung. Da hätten noch mehr Familien Platz und Frau Josefne ist etwas enttäuscht, dass ich allein bin. Aber sie denkt wohl: "Lieber den Spatz in der Hand als den Storch auf dem Telegrafenmast". Der wohnt gleich nebenan und zuweilen hört man das Klappern. Ich bekomme sogleich etwas zu trinken samt Kuchen, da ist man gleich wie zu Hause.
Tokaj |
Frau Josefne |
Weinfest |
Nach dem Duschen geht es natürlich sogleich zum Weinfest. Dort sind
viele
Weinstände, wo man den berühmten Tokajerwein verkosten kann. Ich gerate
aber
in die Touristeninformation, die heute natürlich geöffnet ist. Ich
frage nach einem Quartier auf der weiteren Strecke, und die netten
Damen melden mich gleich telefonisch für den nächsten Abend in einer
Pension an in einem Ort, den man am besten mit einem Schluck Wasser im
Mund aussprechen sollte: Gergelyiugornya.
Das hebt die Stimmung. Wenig weiter ist ein schönes Restaurant mit
Freisitz. Dort wird uns nun eine gebratene Forelle gereicht, aufrecht
platziert
mit Kussmaul und Zitronenscheiben auf dem Rücken. Nun kann man bei
einer gebratenen
Forelle ja die Flossen, kleinen Gräten und sogar den Schwanz mitessen.
Da bleibt nicht viel übrig.
Ein Rundgang ist angesagt. Es gibt viele Restaurants (Tavernen), die
befinden sich in unterirdischen Gängen. Diese Gänge hat man zur
Weinlagerung angelegt, in diesem feuchtkalten Klima soll sich dort ein
aromatisierender Edelschimmelpilz (Botrytis
cinera) entwickeln und dem Tokajerwein dadurch zu
seiner Berühmtheit verhelfen. Im Rakoczkikeller
sollen 24 derartige
Gänge zusammentreffen. An der Brücke ist der
Zusammenfluss von Bodrog
und Theiss. Wenig weiter ein munterer Platz, der nicht mehr zum
alten
Stadtkern von Tokaj gehört. Letzterer ist übrigens unerwartet klein,
gerade mal längs einer Strasse von vielleicht 700 m Länge. Der besagte
Platz ist heute von einer Motorradmeute beherrscht, denen es
hauptsächlich darum zu tun ist, im Pulk möglichst geräuschvoll ihre
Macht - was immer sie dafür halten mögen - zu demonstrieren.
Auf dem Rückweg erstehe ich, wie es sich gehört, zwei Flaschen
Tokajerwein: "2003 Tokaj Muscot
Lunel". Ich muss Frau Josefne
schliesslich eine Freude machen. Eine Weile verweile ich noch auf dem
Kirchplatz, da erklingt Musik, wie wir sie auf dem Oktoberfest in
München erwarten würden. Später versucht ein Moderator, einige Leute zu
einem gemeinsamen Tänzchen zu animieren. Das gelingt auch so halbwegs
unter den Kommandos - in Ungarisch natürlich: Vor, zurück und links und
rechts usw. Ein Herr schnallt das nicht und wieder nicht,
bedankt sich
aber nach Ende
des Tanzes überschwänglich mit Handschlag bei dem Moderator. Danach
singt der Moderator, anscheinend auch des Sanges mächtig: "Dirty old
Town", was der schönen Stadt Tokaj alles
andere als gerecht wird. Seit heute morgen habe ich dagegen das Lied im
Ohr:
"Dort drunt im schönen Ungarland,
wohl an dem schönen Donaustrand,
da liegt das Land Magyar...
Dunja Dunja Dunja Tisa,
Bas maderem trem kordijar
Te-de-rei, te-de-ra, te-de-rei, te-de-ra
Als Blankenstein-Husar. ".
Fragt sich noch, was es mit dem "Blankenstein Husar" auf sich
hat.
Im Internet kann man ermitteln, dass die letzte Strophe dieses Liedes
wegen "Türkenfeindlichkeit" heute aus den Liederbüchern verbannt werden
sollte. Sie lautet:
"Im letzten Dorf da
kehrt ich ein
und trank dort den Tokajerwein,
Tokajer aus Magyar,
Tokajer du bist mild und gut,
du bist das reinste Türkenblut
fürn Blankensteinhusar."
Das Blankensteiner war eines der Ungarischen Husarenregimenter (um
1792), die wohl nicht nur gegen die Türken sondern auch gegen die
Franzosen zu Felde gezogen sind.
Als ich zurück im Quartier bin, wartet Frau Josefne schon, sie hat ja
sonst nichts zu tun. Dass die eine Flasche Wein für sie sein soll, kann
sie
gar nicht glauben, freut sich dann aber doch. Leider kann sie ihn nicht
trinken: neue Hüfte und Arztverbot. Wir können uns nur durch
Zeichensprache oder aufgemalte Symbole (ich habe Fisch gegessen)
verständigen. Einmal meine ich zu verstehen "Papa kaputt" soll wohl
heissen, sie sei Witwe. Man kann bei der heutigen Wärme schön
draussen sitzen, aber dann vertreiben einen die Mücken. Ich ziehe mich
dann auch bald in meine Wohnung zurück, ich müsse noch schreiben, mache
ich klar, so eine Unterhaltung ohne gemeinsame Sprache ist eben doch
anstrengend. Endlich allein lasse ich mir das Fläschchen Wein
schmecken, man wird sich vorstellen können, dass es mir nicht schlecht
dabei geht.
12 Montag, 30.5., Gergelyiugornya, 100
km
Nach dem Frühstück mit Rührei und Schinken kann ich gut gestärkt
aufbrechen. Meine Trinkflasche fülle ich an einem der Brunnen auf.
Somit kann ich den Verbrauch eines Radfahrers "eichen": 1.5 Liter
Tokajer Brunnenwasser auf 60 km! Zunächst geht es auf die stark
befahrene Strasse 38, die man aber bald verlassen kann. Dann gibt es
streckenweise sogar gute Radwege neben der Strasse, das würde man in
Ungarn gar nicht erwarten.
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Blühende Akazien, ungezählte Storchennester,
urige Dorfbilder. Hinter den Häusern (vorne die Giebel und Hoftore,
dahinter die Hühnerwirtschaft) sieht man immer wieder eigenartige
Schuppen. Allmählich finde ich heraus, dass sie wohl zur Lagerung von
Brennholz, vielleicht auch von Maiskolben dienen. Ansonsten kommt man
an einer
Schafherde mit Schäfer vorbei, und dann sehe ich mein
Mohnfeld. Für die
Panoramaufnahme sind 5 Fotos nötig. Auch einer dieser
Ziehbrunnen taucht auf, der gehört ja nun unbedingt zum Klischee über
Ungarn. Hier ist aber keine Puszta, sondern es gibt hauptsächlich
Maisfelder oder Wiesen.
Aus
dem Internet:
Echte Puszta, fast baumloses öd- und Weideland, überlebte nur in den
Naturschutzgebieten Hortobágy und Bugac. Länger als
anderswo ist
der Weg, den die Sonne hier zurücklegt. Unendlich ist der Horizont, er
ist wie ein runder Tisch über den sich die hellblaue
Glasglocke des Himmels, von keinem Wölkchen getrübt, wölbt. Im Sommer
wird
die
endlose weite Steppe hitzeflimmerndes
Pferde- und Reiterland, über dem die >déli-bab<, die ungarische
Fata-Morgana, in der Luft zerflossene Erscheinungen
inszeniert, weisse Häuser, grasende Rinder, ein Ziehbrunnen, hinter dem sich die
dunstrote Sonne
dem Untergang nähert.
Ich fahre heute nur in Turnhose mit freiem Oberkörper. Die
Einheimischen tun das auch, da fällt man wohl nicht aus der Rolle. Vor
einem grösseren Ort aber sollte man das Hemd überstreifen. Dieser eine
Tag reicht immerhin für einen kleinen Sonnenbrand.
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Irgendwann gibt es dann auch Storchengulasch, d.h. rein symbolisch,
Gulasc heisst der Ort und ein
Storchennest ist gleich über dem
Ortsschild. Wir nähern uns der Grenze nach Rumänien, dem Land der
Träume, die noch ohne Inhalt sind. Da wird man problemlos abgefertigt -
keine weiteren Fragen. Auf der schnurgeraden Hauptstrasse 19A fahren wir
nach Satu Mare (Sothmer). Die
deutsche Partnerstadt ist Wolfenbüttel
(10 km von zu Hause),
na das ist ja eine überraschung. Leider empfängt mich der Staat
Rumänien mit ein wenig Regen und in der quirligen Stadt suche ich nun
wieder ein Hotel. An dreien davon bin ich vorbei gestolpert, wie später
festzustellen ist.
Zunächst findet man mich an einem Bankomat wieder, wo ich für's erste
2.500 Lei ziehe. Mit dieser Währung muss man sich erst mal vertraut
machen, denn ich verfüge nun gerade über die Barschaft von umgerechnet
10 EUR. Später bin ich schlauer und ziehe 4.000.000 in Worten: vier
Millionen, das sind ca. 115 EUR, der Höchstbetrag, den man hier
in
einem Bankomat bekommen kann. Dafür reicht das bei einigermassen
sparsamem Auskommen eine Woche. Ab erstem Juli d.J. wird man - wie
überall
ausgeschildert ist - dieser Währung kurzerhand vier Nullen
entziehen. Das wird sich dann Leu Nou (Singular) oder Lei Noi
(Plural) nennen und drei neue Lei werden etwa ein EUR sein. In Polen
hat man das vor etlichen Jahren auch schon praktiziert, als man mit den
Gigazlotys nicht mehr zurande kam.
Zimmeraussicht (Bahnhof) |
Hello Margot |
Mittlerweile bin ich am Bahnhof angelangt, und gegenüber befindet sich
ein Hotel namens Casablanca.
Tatsächlich kann man sich dort
einquartieren und zwar für 20 EUR, die ich wegen zunächst fehlender Lei
wundersamerweise auch in der EUR-Währung bezahlen kann, ein paar davon
sollte man ja immer im Brustbeutel haben. Nun dürfen wir unser Zimmer
betreten - und das ist ja ganz erstaunlich komfortabel. Ein richtiger
Tisch mit vier Stühlen, da kann man ja richtig "arbeiten". Nach dem
üblichen Duschen und Sockenwaschen ("Laundry" sagt der Engländer) kann
man sich in die Stadt aufmachen, um etliche Einkäufe zu tätigen. Als da
sind: Strassenkarten im nächsten Bücherladen. Die beste ist die
Huberkarte von ganz Rumänien
im Massstab 1:6000.000, aber sehr
detailliert. Die andere Karte - die letzte im Regal - ist eine Karte
von Siebenbürgen (Szekelyföld, M 1:250.000) auch mit den deutschen
Ortsnamen. Das ist ein Glücksfall, beide Karten kosten je ca. 3 EUR,
für den Preis hätte man die zu Hause kaum bekommen, ausserdem hätte man
sie die ganze Zeit mitschleppen müssen.
Das ist auch ein Problem des Radtouristen: wenn man die
verfügbaren
Unterlagen schon zu Hause besorgt, tut das dem mitgeführtem Gewicht
nicht gut. Unterwegs erhält man mitunter bessere und preiswertere
Karten (z.B. in Touristeninformationen oder Tankstellen), die man bei
uns gar nicht bekommen würde. Und das beeinflusst wiederum die
Routenplanung, aber so bleibt es auch unterwegs immer spannend.
Wir müssen noch weitere Besorgungen machen. Eine Telefonkarte für die
öffentlichen Telefone gibt es für 100.000 Lei = 3 EUR. Damit habe ich
dann später vier Gespräche nach Deutschland geführt und die Karte ist
noch nicht alle geworden. In einem vorher übersehenen Hotel bekomme ich
einen Stadtplan (City Map), und danach kann ich mich endlich um ein
Restaurant kümmern. Auf dem Wege bettelt mich ein Junge an, aber ich
habe keine Lust, die Geldbörse aus sicheren Tiefen an die Oberfläche zu
befördern und womöglich um mehr als ein Almosen erleichtert zu werden.
Eine Weile läuft er neben mir her, bis man ihn abschütteln kann. Man
weiss noch nicht, wie es hier so läuft. Nun finde ich eine weniger
elegante Fast Food Station, die heisst "Hello
Margot", und da muss man
am Tresen bestellen, gleich bezahlen, und wird dann draussen im Freien
unter dem Vordach versorgt. Als ich gerade die letzten Bissen hinunter
schlinge, taucht ein Kopf über der Abzäunung zur Strasse auf, und das
ist der bettelnde Junge von vorhin, nun möchte er mitspeisen.
Es wird in Rumänien weniger gebettelt, als wir es noch vor
Jahren in Polen erlebt hatten ("Tochter krank, keine Rente..."). Im
folgenden wird ja zu lesen sein, was sich meinerseits noch ereignet
hat. Und das hält sich in Grenzen. Das nur als Anmerkung, falls jemand
wegen solcher Befürchtungen nicht so gern nach Rumänien reisen würde...
Damit findet man mich in der Unterkunft wieder, wo ich gut versehen mit
Kartenmaterial alles weitere in Augenschein nehmen kann. Eine sehr
wertvolle Unterlage ist noch das Kartenblatt "Rumänien per Rad" (s.
Linkliste). Die hatte ich mir nun tatsächlich schon zu Hause besorgt
und die liegt nun ausgebreitet auf meinem Zimmerbett in Satu Mare. Da
gibt es vorgezeichnete Radrouten kreuz und quer durch Rumänien, da hat
man geradezu die freie Auswahl.
Vor dem zu Bett gehen, noch ein Blick auf den gegenüberliegenden
Bahnhof,
da ist natürlich auch eine Uhr - so spät ist es schon? Na ja,
wir haben eine Zeitgrenze überschritten und müssen die Uhr eine Stunde
vor stellen. So hat die Nacht eine Stunde weniger, aber davon bekommt
man noch keinen "Jet-Lag".