Kapitelindex
Kapitel 1: Von der Weser an die Elbe
Kapitel 2: Von der Elbe an die Oder
Bilder zu diesem Kapitel

Mittwoch 14.8. Schwedt - Pyritz 55 km

Unser großer Tag, heute geht es nach Pyritz, der Stadt meiner Väter, jedenfalls derer meiner Mutter genauer gesagt. Der Himmel ist wolkenlos.

Wir rollen quer durch den Oderbruch Richtung Brücke und Grenze. Die Frühnebel hängen noch in den Wiesen. Schon früh am Morgen hat sich vor dem Grenzübergang eine Autoschlange gebildet, die wir lässig abwickeln. Die Personalausweise in der Hand, mehr braucht es nicht. Heidi fährt schon an, da rufe ich "Schieben!". Die Brücke über die Oder, da muß man die geschärften Sinne entfalten, die Gänsehaut spüren, die Landschaft auf sich wirken lassen. Vor uns liegt eine an das Oderufer geduckte Ortschaft, dahinter einige kiefernbestandene Buckel, an denen wir dann nachher unsere Freude haben werden.


Blicke von der Oderbrücke Links

und Rechts
Die geduckte Ortschaft enpuppt sich natürlich als Eldorado der Wechselstuben und Verkaufsstände für allerlei Kram, vor allem Zigarettenstangen. Ich suche mir nicht die erste und zweite, sondern die dritte Wechselstube aus, um vorerst mal 50 DM einzutauschen. Auf einem Display wird angezeigt: 90 Zloty bekomme ich dafür. Das wird ja dann wohl seine Richtigkeit haben, und nachdenklich stecke ich die fremden Scheine ein. Waren vor Jahren nicht mal ein paar mehr Nullen dahinter?

Während wir nun losfahren, grüble ich weiter. Ich zähle noch mal nach: 90 Zloty, das ist alles. Und es fährt sich so schön, hügelig aber ruhig, am Horizont die Schornsteine von Schwedt, das nun schon in einem anderen Land liegt. Wir kommen nach "Nipperwiese", das heute Ögnica" heißt, in Unkenntnis der polnischen Sprache können wir nicht beurteilen, wie gut die Übersetzung gelungen ist. Bei Pyritz ist es einfacher, das heißt heute "Pyrzyce". Aber so weit sind wir noch nicht.

Wir fahren einen Seitenweg links hinunter an das Ufer der Oder. Der Ausblick ist atemberaubend, der blaue Dunst, die Wiesen und die Weite. Heidi nun wieder "Das ist meine Landschaft". Eigentlich ist es ja meine! Aber "Mein" und "Dein", das ist vorbei!


Oder bei Nipperwiese
Ich bin mit dem Grübeln wegen des Geldes noch nicht fertig. Hat man uns übers Ohr gehauen um ein paar Nullen? Heidi schlägt vor, zurück zu fahren und in der Wechselstube ordentlich Rabatz zu machen. "Die kennen uns doch gar nicht mehr" resigniere ich. Wir beschließen, im nächsten "Sklep", das sind die Gemischtwarenläden in jedem Dorf, einen Währungstest vorzunehmen.

Wir fahren nun auch östlich, weg von der Oder. Da erscheint das erste Verkehrsschild nach Pyrzyce, das muß ich fotografieren, wie weiland auf der Tour nach Westpreußen die Sache mit Plochocin. Was sind wir nur für Heimatgucker. Habe ich aber nicht zwei Generationen im Ohr (Mutter und Großmutter), die zu ihrer Zeit davon geträumt hätten?


Hinweisschild Pyrzyce
War es in Krzywin (Kehrberg), wo wir den geeigneten Sklep finden? Ein Straßendorf mit wunderschönen Vorgärten, Malven, Sonnenhut und Dahlien blühen üppig. Wir betreten den Sklep, eine Schachtel Zigaretten please, und ich lege 10 Zl. auf den Tresen. Anstandslos bekomme ich die Papierosy und das Wechselgeld. Wenn man nun genau hinguckt, sind an den Artikeln immer zwei Preise ausgezeichnet, eigentlich gleiche, nur der eine hat 4 Nullen mehr. Ein Preis heißt "nowy" und einer "stare". Das ist der mit den 4 Nullen mehr. Jedenfalls verfügen wir nun doch über kaufkräftige 50 DM in Zlotys.


Sklep mit Vordergarten
Wenn ich die Weiterfahrt beschreiben soll, so würde das einige Seiten füllen, so geschärft sind die Sinne. Alle Augenblicke mache ich ein Foto. Da sind die Storchennester auf den Kirchen. Auf dem Kreuz eines Kirchturms sitzen links und rechts je einer, und im Nest sind noch mal vier davon. "Ich bekomme schon wieder Lust auf eine Radtour in Polen" sage ich zu Heidi. - Das wird uns noch vergehen -



Landschaft
Es muß auch hin und wieder einen Berg hinauf geschoben werden, ich habe schon den Blick gen Pyritz gewendet, immer in Erwartung der Stadtsilhouette. Die läßt noch auf sich warten. Um es kurz zu machen, wir machen eine letzte Rast in dem Ort Bahn (Banie). Auf einer Bank sitzend, entfaltet sich das polnische Leben vor uns. Da wuselt es hin und her, Hauptakteure sind die Hunde, die das Dorfleben kontrollieren. Die Fortschrittlichen darunter haben ein Ohr aufgerichtet, zum Hören, das andere seitlich abgestellt, zum Prüfen der Windrichtung.

Der Ort Bahn

Allee
Nun folgt endgültig die letzte Etappe auf alten Alleen. Über einer Baumgruppe erscheint auch das Dach eines Kirchturms, das muß es sein. Erst passieren wir eine neuere Siedlung, dann einen Friedhof, rechts ein Schornstein mit einem Storchennest obendrauf. Dahinter in einer Grünanlage ein russischer Panzer, wohl im Gedenken an die siegreiche Schlacht, die hier geschlagen wurde. Und vor uns ist eine Stadtmauer und ein Stadttor, das ich bisher nur als Bild an der Wand kenne...das Bahner Tor.


Das Bahner Tor
Wir fahren in die Stadt ein, erstmal links und rechts nichts anderes als Plattenbauten und niedrige Buden mit Geschäften. Schon fahren wir an der Kirche vorbei. Es geht so weiter, meist nur kleine Buden, dann sind wir schon am Stettiner Tor und raus aus dem Ortsinneren. War das alles? Gegenüber liegt ein neueres und vornehmes Gebäude, das könnte ein Hotel sein, aber es entpuppt sich als eine Bank. Wir schieben nun erstmal mit unseren Rädern herum und versuchen, Leute nach einem Hotel zu fragen. Was wir den wortreichen Erklärungen entnehmen können, sind aber nur die Gesten und Richtungszeichen. So werden wir einigermaßen im Kreis herumgeschickt, ohne aber ein Hotel zu finden.

Schließlich gehe ich mal in die vornehme Bank, vielleicht spricht da einer deutsch. Ein livrierter Portier kann tatsächlich ein paar Worte und schickt uns in die gegenüberliegende Straße, die Kosciuszki Straße. Und da sehen wir auch schon das Haus mit dem Schild "Hotel". Es handelt sich um ein ganz normales Wohnhaus, eine Zahnarztpraxis ist da auch untergebracht (Narkotki), allerlei Kinder und Individuen stömen durch den Eingang rein und raus. Als ich das Haus betrete, schlüpft eine dralle Dame hinter einen Schalter, das ist also die Rezeption.

Irgendwie ist mir alles egal, Hauptsache, wir haben erstmal ein Quartier. Nach Vorlage der Personalausweise muß ich gleich zahlen, die Hälfte des umgetauschten Geldes geht drauf, also etwa DM 25. Dafür ist das Zimmer mehr als einfach, besser gesagt schäbig, Duschraum und Toilette schlecht geputzt und hygienisch bedenklich. Barfuß sollte man nicht herumgehen, da muß man sich hinterher die Füße waschen. Die Räder (Rowere) landen im Keller und werden weggeschlossen.


Stadtmauer
Ich denke immer noch, wir finden nachher in Ruhe etwas besseres und können für eine eventuelle weitere Übernachtung umziehen. Ob sich überhaupt lohnt, hier einen Tag zu verbringen, müssen wir erst sehen. Ich schlage vor, uns der Sache in Spiralform zu nähern. Dazu gehen wir vom Stettiner Tor innen an der Stadtmauer entlang. Außer der Mauer ist aber nichts alt, die Häuser sind alle neu. Eine Reihe kleinerer Häuser für ein oder zwei Familien, dahinter beginnen gleich die Plattenbauten. Unsere Spirale endet schon nach einem halben Bogen und wir stehen vor der Mauritiuskirche. In der werde ich ja dann wohl getauft worden sein. Wie überall in Polen ist diese geöffnet und wir treten ein. Alles ist neugemacht, die Säulen und Gewölbe hoch in Backstein hinaufgemauert. Von den Fensterscheiben ist nicht eine einzige alt.


Schautafel
Neben der Kirche liegt der Plac Ratuszowy, das heißt ja wohl Rathausplatz. Und das Urzad Miasta ist das Rathaus. Man findet eine Schautafel mit einem Stadtplan, aber kein Informationsbüro oder sowas. Vielleicht hätte man einfach in das Sekretariat gehen sollen, aber wir sind zu durcheinander. Ich gehe nochmal in eine Bank und tausche Geld. Auf dem weiteren Rundgang ergibt sich nichts neues außer den Plattenbauten und den niedrigen Ladenbuden. Man sieht weder ein weiteres Hotel noch ein Restaurant, wo man essen könnte.

Wir müssen noch in die Stargarder Straße, dort stand mit Hausnummer 35 mal das Haus meiner Großmutter. Ich selbst soll im Kinderwagen immer unter einem Nußbaum gestanden haben. Also schauen wir nach der Hausnummer und einem Nußbaum aus. Die "Stargardzka" ist eine einzige geräuschvolle Baustelle. Bei einer Gemüsebude kaufen wir ein paar Bananen. Die Hausnummern sind auf der einern Straßenseite gerade, auf der anderen ungerade. Ob die Numerierung noch der vor 50 Jahren entspricht, läßt sich nicht sagen. Wir finden die Hausnummer 34. Gegenüber befindet sich ein angefangenes und nicht weitergebautes Fabrikggebäude, weit dahinter ein Nußbaum, aber das mag nichts besagen. Gegenüber von unserer Nummer 35 soll der Schlachthof gewesen sein (?), da steht noch ein altes Fabrikgebäude, das rot angestrichen ist.

Wir gehen lieber zurück. Hinter einer rumorenden und qualmenden Dampfwalze finden wir endlich eine Würstchenbude, da gibt es Schaschlik und Hähnchen (Rozen). Wir können etwas unseren Hunger stillen.

Was wir nun den ganzen Nachmittag in dieser Stadt machen sollen, ist uns nicht ganz klar. Jetzt versuchen wir es einmal mit dem Weg den Wall entlang. Zwischen dem Wall und der Stadtmauer liegen im ehemaligen Wehrgraben gepflegte Gärten. Die Mauer ist vollständig erhalten, manchmal sind nur kreisrunde Löcher darin, also ob da eine Kanonenkugel durchgepfiffen wäre. Wir kommen dann wieder am Bahner Tor raus und laufen auf einem Trampelpfad zu dem Friedhof vor der Stadt. Das ist aber ein neuer Friedhof, alte Vorfahren kann man da nicht entdecken. Die ersten Begräbnisse datieren hier auf die späten 50 er Jahre zurück. In der hinteren Ecke des Friedhofs hat man ein Kastell restauriert.

Auf dem Rückweg finden wir hinter dem Bahner Tor endlich eine Kaffeebude. Und an diesem Ende ist tatsächlich noch eine "Pensionacia" in einem schmucken Neubau. Aber nun ist es zu spät, noch einen Tag werden wir nicht hier bleiben. Eigentlich wollte ich noch Werben am Madüsee besuchen, wo meine Mutter Lehrerin war. Auch Stargard wäre nicht schlecht. Aber wir sind jetzt urlaubsreif und beschließen, möglichst rasch auf die Inseln zu kommen, wo wir mit etwas Glück noch ein paar schöne Tage am Strand genießen können.

In einem Supermarkt kaufen wir ein paar Dosen Bier, damit man für den Abend was hat. In dem Laden finden wir auch ein Übersichtsblatt mit einem Stadtplan von Pyritz. Dem können wir entnehmen: wir haben nichts übersehen.

Am Stettiner Tor setzen wir uns vor einen Sklep. Das geht so: drinnen holt man sich ein Bier vom Tresen und draußen auf einem Gartenstuhl trinkt man es aus. Dabei kann man geruhsam dem Treiben ringsum zuschauen. Der Krach durch den Verkehr ist zwar enorm, das muß man hinnehmen. Einmal fährt ein Bus vorbei, "Barlinek" steht da dran, das ist meine Geburtsstadt. Heidi hatte mich schon vorher gefragt, wie meine Mutter seinerzeit zur Entbindung nach Berlinchen gekommen sei. Nun kann ich wenigstens mutmaßen: "Mit dem Bus!".

Am Nebentisch sitzen ein paar Jugendliche, erst drei, dann fünf, dann sieben. Sie rücken immer näher heran. Dann beginnen sie ein seltsames Spiel, dessen Sinn wir nicht ganz erraten. Eine Getränkedose wird geknickt, bis sie ein Loch bekommt, dann wird da etwas angezündet und durch das ovale Loch inhaliert, wo man sonst draus trinkt. Danach wird gehustet, was das Zeug hält. Wir machen uns mit unserem Rucksack voll Bierdosen auf den Weg zu unserem Etablissement, auf den Straßen wollen wir den Abend nicht verbringen, und wo soll man sonst hingehen..

Zeit ist also genug und wir kramen nochmal in den Unterlagen. Ich besitze eine Touristenkarte vom Kreis Stettin aus dem Jahre 89. Darin steht (in Stichworten wiedergegeben): Pyrzyce, 12000 Einwohner, 1000 jährige Geschichte, im Jahre 1945 zu 80 % zerstört, später wiederhergestellt und ausgebaut. Größtenteils erhalten gebliebene Festungsanlagen, die zu den mächtigsten in Pommern zählen. Kirche 1958-60 wieder aufgebaut. Slawische Burganlage, heute Friedhof, usw. Für uns stellt diese Stadt trotz oder wegen der hohen persönlichen Erwartungen nur ein Kuriosum dar, wo eine fast vollständige Stadtmauer paradoxerweise ein Sammelsurium sozialistischer Zweckbauten umschließt. Für uns ist der Besuch in Pyritz beendet.

Heidi versucht sich noch an der "Rezeption" gestikulierend verständlich zu machen, daß wir morgen früh um 7 Uhr der "Rowere" bedürfen.

Kapitel 3: Inselhopping

Donnerstag, 15.8. Pyritz - Stettin 63 km

Wir versammeln uns mit unserem Gepäck gegen 7.30 vor der Glasscheibe alias Rezeption. Das Drücken der Klingel bewirkt nichts. Erst nach ein paar geräuschvollen Klopfsignalen kommt ein verschlafener Mann die Treppe runter. Er hat den nötigen Schlüssel und wir können unsere Räder in Empfang nehmen.

Was ich nun an einer Tür des Kellers auf einem handgeschriebenen Pappschild lese - da muß ich mir erst die Augen reiben. "Kulturelle Gesellschaft der Deutschen Minderheit. Treffen Mittwochs 17-19 Uhr". Zu dem Zeitpunkt fristeten wir gestern unser Dasein gerade neben den Kiffern beim Sklep. Was hätte man da womöglich erfahren können. Vielleicht wäre unser Besuch ganz anders verlaufen. Bedenklich ist nur, daß diese Gesellschaft in so einem Kellerloch haust, was mag dahinterstecken? Für diesmal resignieren wir, wir hatten uns weder auf diesen Besuch vorbereitet, noch hatten wir irgendwelche besonderen Absichten. Das ganze war eine spontane Aktion, und das ist auch gut so. Vielleicht doch ein anderes Mal...?

Um unsere Eindrücke an diesen Besuch mit der richtigen Stimmung zu bedenken, regnet es bei unserem Aufbruch auch recht heftig. Wir radeln unter den Regenumhängen aus der Stadt auf der Stettiner Straße und biegen dann bald links auf eine Nebenstrecke ab. Der Regen läßt nach, dafür haben wir nun das, was wir uns auf der Herfahrt gewünscht haben : Westwind. Alles ist grau in grau - kein Vergleich mit der Radfahrt gestern. Wir lernen etliche Bushaltestellen schätzen, in deren Häuschen wir uns vor dem Regen verkriechen. Einmal sehen wir dabei einer Kuh beim Wiederkäuen zu, die apathisch im Regen steht.

In den Dörfern streben die Leute festlich gekleidet der Kirche zu. Alle Skleps sind geschlossen. Es muß ein Feiertag sein, nach einigem Nachdenken kommen wir auf Mariä Himmelfahrt, das war im letzten Jahr in Bayern auch so am 15.8. Wir als Protestanten sind da nicht so darauf dressiert.

Gegen Mittag erreichen wir wieder die Oder und die Stadt Gryfino (Greifenhagen). Hier ist die Bevölkerung, besonders die männliche, wieder anders dressiert. Alle laufen mit Plastiktüten rum, in denen es klimpert. Viele Skleps sind geöffnet, das Geschäft läßt man sich nicht entgehen. Wir betreten auch so einen Laden, erstehen aber nichts, was klimpert, sondern ein paar Bananen und Fanta. Auf einem Steinsims lassen wir uns nieder. Wenig weiter sitzt ein Mann, der scheint schon etwas fertig zu sein. Als seine Frau erscheint, haut sie ihm erstmal ein paar runter. Zum Glück ohne Gegenwehr, doch wir machen, daß wir weiterkommen.

Die Straße nach Stettin führt zwar nun längs der Oder, aber die bekommt man hinter den vorgelagerten Wiesen kaum zu Gesicht. Im Weichbild Stettins geraten wir auf die vierspurig ausgebauten Zufahrtstrassen, das wird durch die Feiertagsraser bald lebensgefährlich. Über die Oderbrücke, dann schlagen wir uns auf Seitenwegen zwischen Brücken und Gleisanlagen durch. Schließlich geraten wir auf eine große Rampe, von der aus man die Kulisse Stettins gut studieren kann. Sie führt direkt in die Innenstadt, wo wir Mühe haben, von der Rampe wieder hinunter auf den Boden der Tatsachen zu kommen.


Stettiner Schloß
Mit der Übernachtung denken wir, hier doch keine Schwierigkeiten zu bekommen. Wir schieben noch etwas unsicher eine kleine Gasse entlang, da jubelt Heidi auf: "Da ist ein Orbis Hotel!" "Orbis bedeutet Zivilisation aber auch erhöhtes Preisniveau. Das Doppelzimmer kostet 200 Zl. Nach diesem Regentag sei es uns gegönnt. Es gibt dann neben der Dusche auch eine Badewanne.

Der Stadtgang, den wir zwischen zwei Regengüssen absolvieren. Oberhalb des Hotels, "Arkona" heißt es übrigens, liegt das Schloß. Das hat man wohl wieder hergerichtet, im Stil einer gewollt repräsentativen Architektur wohl aber etwas zuviel des Guten getan.

Zieruhr
Auffällig eine große Uhr, wo im aufgerissenen Mund eines grün umkränzten Gesichts die Stunde angezeigt wird. In Ziffern, also digital. Heidi liest eine Jahreszahl ab: 1864. Ich lese auch eine Jahreszahl ab: 1736. "Da habe ich gewonnen" sage ich. Über die Innenhöfe des Schlosses - Opern werden derzeit dort aufgeführt - erreichen wir die weiträumigen Straßen der Innenstadt. Da ist nichts Anheimelndes. Vereinzelt stehen Baudenkmäler in der Gegend, eine kleine Kirche und ein paar barocke Tore, deren Sinn einem nicht klar wird. Wir marschieren auch noch zur Marienkirche, die ist leider verschlossen.

Wo werden wir speisen? Neben zwei Mc Donalds Restaurant und einem weiteren Fast Food Tempel finden wir ein Balkan Restaurant, wo uns ein devoter Ober Plätze im menschenleeren Gastraum zuweist. Er spricht gut deutsch, so können wir die in polnisch abgefaßte Speisekarte diskutieren und etwas Geeignetes zusammenstellen. Der Gastraum ist bemerkenswert eingerichtet. Vom Alter geschwärzte Holzvertäfelung, eine Balkendecke und Rundbögen. Vielleicht ist alles wirklich alt, vielleicht aber auch nur Attrappe. Nehmen wir lieber ersteres an.

Eine deutsche Reisegruppe betritt das Lokal. Da geht es hin und her mit Karl-Heinz und Erwin und den Damen im Schlepptau, bis jeder seinen Platz hat. Angesichts der polnischen Speisekarte beschließt man aber sogleich, doch lieber im Mc Donalds zu speisen. Und schon sprudelt es los, welche Mc Donalds man in ganz Europa schon besucht habe, das hört sich wie in einem Reiseführer an. Bald brechen Karl- Heinz und Erwin und die Damen im Schlepptau wieder auf, der Ober bekommt noch ein Trinkgeld auf die Kralle. Wir zahlen auch.

Schön gemütlich machen wir es uns in der Badewanne, draußen rauscht der Regen.

Freitag, 16.8. Stettin - Kölpinsee Bahnfahrt + 30 km

Draußen rauscht immer noch der Regen. Wir lassen uns Zeit mit dem Frühstück. Heidi hat keine Lust zum Radfahren, ich auch nicht. Wir wollten nun eigentlich das Stettiner Haff südlich umrunden und über Uckermünde gen Usedom vorstoßen. Heidi redet vom Bahnfahren und ich frage "Nach Hause?". "Wir wollen doch nach Usedom!" ist die Antwort. Ich gucke abenteuerliche Bahnverbindungen auf der Landkarte aus. Dann gehe ich, es ist exakt 9.45 Uhr, zur Rezeption. Ich gebe schon mal meine Visa Card ab, schließlich sind wir in einem Orbis Hotel. Da entdecke ich eine Abfahrtstafel des Stettiner Bahnhofs. Es fährt ein Zug nach Swinemünde um 10.10 Uhr. Das wärs doch, dann wäre man ja schon so gut wie auf Usedom. Nun aber hastig. Die Dame an der Rezeption kommt mit der Visa Card nicht klar. Endlich klappt es. Gepäck geschnappt, auf die Räder und Richtung Bahnhof, mal sehen wo der ist.

Ich fahre nur nach Gefühl, Heidi fährt hinterher wie immer. Tatsächlich finden wir den Bahnhof, schnell auf den vermeintlich richtigen Bahnsteig, zum Lösen der Fahrkarten ist keine Zeit. Ein paar Minuten haben wir zum Verschnaufen. Die nutzen wir damit, Zweifel zu entwickeln, ob wir auf dem richtigen Bahnsteig sind. Da rollt der Zug schon ein, "Swinoujscie", na also. Wir stopfen die Räder in den ersten Wagen, da kommt erstmal keiner vor und zurück. Der Zug fährt an. Der Schaffner lächelt uns zu und bleibt ganz gelassen, wo hat man das schon erlebt! Allmählich gerät Ordnung in das Durcheinander, die Packtaschen werden verstaut, die Räder wackelsicher festgezurrt.

Aufatmend lassen wir uns nieder. Wieder eine Etappe dieser Reise, von der wir vor einer Stunde noch nichts wußten. So sitzen wir ohne Fahrkarten in einem Zug nach Swinemünde, was kann uns schon passieren. Irgendwann kommt der Schaffner, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Ich zücke die Geldbörse, um zu zeigen, daß wir die Fahrkarten nachlösen müssen. Darauf werde ich in den Vorraum beordert, die Ausweise muß ich herzeigen. Dann wird eine Preisliste hervorgeholt und aus vielen Zahlen eine Summe addiert. 36.75 Zl. lese ich. Ich zücke 40 von der Sorte, aber der Schaffner erzählt mir eine lange Geschichte auf polnisch, und ich sage immer nur OK und zeige ein heiteres Gesicht. Dann werde ich wieder auf meinen Platz expediert, das Geld will er erstmal nicht haben.

Nun stellt sich heraus, neben uns sitzt ein Mädchen, die hat einen deutschen Freund und kann uns alles in der Sprache ihres Freundes erklären. Wenn man in Polen im Zug nachlöst, dann kostet jedes Tarifgut umgerechnet 3 DM Zuschlag. Das sind bei zwei Personen und zwei Fahrrädern 12 DM. Das muß ja nicht sein. Man einigt sich besser darauf, daß man einen angemessenen Fahrpreis in bar bezahlt, dafür aber keinen Beleg bekommt. Das kann man aber erst kurz vor dem Aussteigeort abwickeln, falls noch eine übergeordnete Kontrolle erscheint. Dann kann der Schaffner immer sagen, man sei gerade zugestiegen. Wir brauchen eine Weile, bis wir das so alles begriffen haben.

Kurz vor Swinemünde, der Endstation, erscheint der Schaffner dann auch, zwinkert mir zu und beordert mich wieder in den Vorraum. Ich zwinkere wissend zurück, überreiche ihm 40 Zloty, "OK" sagt er. Als wir aussteigen, kann er sich gar nicht genug tun, uns beim Herrausreichen der Räder und Gepäckstücke behilflich zu sein. Wir sind sehr erfrischt von dieser Affäre.

Natürlich begrüßt uns in Swinemünde ein Regenschauer. Wir begeben uns auf die Fähre, wir müssen ja noch von der Insel Wollin nach Usedom übersetzen. Die Fähre ist kostenfrei, da bleibt uns ein weiteres Theater mit den Zlotys erspart. Unter den Regenumhängen stehen wir wieder mal wie die begossenen Pudel im Wind, kein Vergnügen eigentlich. Links liegen in einem Militärhafen vier Invasionsschiffe der polnischen Marine. Die haben Bugklappen, über die bei einer Anlandung schwere Fahrzeuge an Land gebracht werden können. Wir überlegen uns, gegen welche Länder Polen eine Invasion starten könnte. Aber Europa ist groß.

An der Kirche in Swinemünde fahren wir geradeaus. Als uns nach 4 km ein Auto begegnet und nach dem Weg zur Ortsmitte fragt, fragen wir unsererseits nach dem Weg zur Grenze. Ja, die sei dahinten. Nach einem weiteren km stehen wir auch an der Grenze und einer verbarrikadierten Brücke, hier ist natürlich nicht der Grenzübergang. Wir müssen ganz zurück bis zur Kirche, um uns richtig einzuordnen. Natürlich ist es hier auch viel belebter, besonders in der Nähe des Polenmarkts. Wir ziehen uns noch einen Kaffee und etwas Eßbares rein, dann ab zurück nach Deutschland. An der Straße steht noch die gleiche blonde Polin und musiziert auf dem Schifferklavier, die wir schon im Januar beobachtet haben. Scheint ein Langzeitarbeitsplatz zu sein.

An der ersten Telefonzelle rufen wir bei Anke und Achim in Koelpinsee an, ob eine Ferienwohnung frei sei. "Das nicht, aber kommt man." Sicher kann man in der Nachbarschaft noch ein freies Zimmer bekommen. Wir bummeln zwar kurz durch Ahlbeck, halten uns aber dann an die Bundesstraße in der Befürchtung, uns wieder zu verfransen. Ich weiß, daß es einen Radwanderweg durch die Wälder gibt, daher hat man an der Hauptstraße wohl keinen Radweg angelegt. So radeln wir mit wenig Vergnügen vom Verkehr umtost dahin. Einmal passieren wir ein Auto, da sitzt ein kahlköpfiger Jugendlicher drin. Durch die Windschutzscheiben wummert es heraus. "Deutschland, sei stolz auf Deutschland..." Wir kriegen eine Gänsehaut. (Inzwischen hat mich Stefanie ins Bild gesetzt: es gibt auch eine als Parodie verstandene Version von den Toten Hosen oder Ärzten oder was weiß ich).

Endlich sind wir in Koelpinsee. Anke und Achim sind noch einkaufen, aber bald können wir uns begrüßen und sitzen bald am Kaffeetisch. Erst nach einiger Zeit rückt Anke damit heraus, daß sie für uns die Ehebetten geräumt haben. Nun muß Achim eine Nacht zum Fischen raus, da sei das nicht so schlimm. Zum Abendessen gehen wir zusammen in das Restaurant "Waterblick" am Achterwasser. Dort ist normalerweise kein Platz frei, und dann muß man solange in die "Fischerklause" nach dem Motto: jedes Getränk 2 DM. Beim Essen sitzt neben uns eine fidele Gesellschaft älterer Herrschaften. Die treffen wir nachher noch mal wieder. Da schleppen sie mit einer Kiste rum, die ist voller lebendiger Krebse. Die seien aus der Türkei eingeflogen und von Hamburg hergebracht worden. Morgen sei Krebstag.

Wir sind ganz verdattert und verziehen uns lieber noch mal in die Fischerklause.

Sonnabend, 17.8. Koelpinsee

Viel zu erzählen gibt es von so einem Tag ja nicht. Vormittags fahren wir nach Koserow, heben Geld ab und erkundigen uns nach einer Schiffsverbindung von Usedom nach Rügen am Sonntag. Da soll ein Schiff von Karlshagen nach Lauterbach gehen. In Koelpinsee gehen wir dann sicherheitshalber in die Info, da erfahren wir eine weitere Möglichkeit: von Peenemünde nach Binz.

Als Optimisten mieten wir uns einen Strandkorb für 5 DM. Da sitzen wir eine Weile frierend unsere Zeit ab. Gleich neben der Imbißbude hat sich bei dem Sturm im November eine neue senkrechte Hangkante gebildet. Da brüten unbeeindruckt vom Strandgetümmel Hunderte von Seeschwalben. Am Spätnachmittag kommt doch noch etwas Sonne auf. Eine Dame im Nachbarstrandkorb bittet uns, auf ihre Sachen aufzupassen. "Will nur mal sehen, wo meiner ist" sagt sie. Sie kommt dann aber ohne "ihren" und mit einem Eis zurück.

Wir essen abends in der "Ostsee", um Achim und Anke nicht zu viel auf den Wecker zu fallen. Achim ist dann auch bald weg, er will um 23 Uhr rausfahren.

Sonntag, 18.8. Koelpinsee - Mukran 30 + 20 km

Wir müssen zeitig los, um das Schiff um 9.30 Uhr in Peenemünde zu erreichen. Diesmal fahren wir auf dem Radweg wunderschön durch die Kiefernwälder. In Zinnowitz stehen doll herausgeputzte Villen am Strand. Bis Karlshagen ist es dann sehr ruhig, da gibt es keine Orte mehr.

Von Karlshagen nach Peenemünde geht es auf der Landstraße. Wir sind 45 Minuten vor der Abfahrt da, da kann man alles in Ruhe arrangieren. Die Fahrgäste trudeln nach und nach ein. Viel ist heute nicht los. Ein Fahrgast mit Goldkettchen ist besonders schlau, der weiß genau, wo man sich am besten hinsetzt. "Ganz nach vorn" sagt er zu seinen Begleitern. "Wenn das Schiff untergeht, guckt der Bug zuletzt raus." Wir sitzen auch vorn. Ich erspähe ein paar Wimpel hinter der Hafenmole und gehe nochmal an Land. Da liegt es auch, Achims rotes Fischerboot, "Kö 2" steht darauf. Man wundert sich immer wieder, daß man mit dieser Nußschale auf der offenen See herumschippern kann.


Peenemündung
Der Blick ringsum ist ganz hübsch, gegenüber liegt der Ort Kröslin mit seinem Kirchturm im Morgendunst. Schon scheint die Sonne. Nachdem wir abgelegt haben, nebelt es sich aber so richtig wieder ein. Die Küstenlienie bleibt hinter uns zurück und wir fahren an der Insel Ruden entlang. Seltsame kreisrund gemauerte Leuchtfeuer markieren die Fahrrinne. Ein Baggerschiff sorgt für Tiefgang. Dann werden wir auf einen Schlepper aufmerksam gemacht, der schleppt gerade ein Brückenteil nach Wolgast, wo die Peenebrücke erneuert wird.


Schlepper mit Brückenteil
Zur Linken erkennt man auf dem Festland die ausgedehnten Anlagen des ehemaligen Atomkraftwerks Lubmin. Nun, da es stillgelegt ist, fühlt man sich schon wohler in dieser Gegend. Bald taucht die Küste von Rügen auf, wir fahren am Thießower Haken vorbei, der südlichen Spitze des Mönchguts. Man erkennt auch schon den Kasten jenes Hotels, das schon zu DDR-Zeiten eine besondere Rolle auf Rügen spielte. Es fällt uns der Name nicht mehr ein. Ich begebe mich in die Innenräume und finde an der Bar eine Informationsbroschüre über Rügen. Nach kurzem Blättern eile ich thriumphierend zu meiner Gattin zurück, die mich mit den Worten empfängt: "Mir ist der Name des Hotels wieder eingefallen". " Cliff Hotel" sage ich. Jedenfalls hat das Cliff Hotel einen Aufzug zum Strand hinunter, hat schon immer edle Gäste beherbergt und kommt für uns als Unterkunft heute nicht in Frage.

Unser Schiff legt nun an der Seebrücke von Göhren an. Der Strand ist verwaist, die Sonne hat sich noch nicht durchsetzen können. Über den Bordlautsprecher werden die Gäste beruhigt, das kann sich nur um eine halbe Stunde handeln, dann hätte man den schönsten Sonnenschein für den Rest des Tages. So kommt es dann auch. Während des Aufenthalts gucken wir zu, wie Schlauchboote Besucher zu einem Versorgungsschiff der Bundesmarine bringen, da ist heute Tag der offenen Kombüse. Stolz stehen die Kadetten am Bug der Schlauchboote, den Blick seemännisch in die Ferne gerichtet. Wer weiß, bei welchen ernsthaften Einsätzen man sich noch zu bewähren hat.


Kurhaus in Binz
Das Schiff legt wieder ab, umrundet nun die Granitz und legt an der Seebrücke in Binz an. Die gab es 1990, unserem ersten Besuch hier, natürlich noch nicht. Wir betreten mit unseren Rädern nun Rügen, genauer gesagt die Planken der Seebrücke. Das Wahrzeichen von Binz, das Kurhaus mit seinen zwei Türmen liegt im schönsten Sonnenschein. Am Strand ist eine Tribüne aufgebaut, da wird ein Beach-Volleyballturnier ausgetragen. Da kommen uns grollende Geräusche entgegen. Es handelt sich um Roller-Skate Fahrer, die Schirmmütze stilgerecht verkehrt herum aufgesetzt. In hohem Tempo werden die schlendernden Gäste umkurvt. Wir schieben unsere Räder lieber.

Wir haben natürlich fest vor, diesen Tag in Binz zu verbringen und schlagen sogleich den Weg zu der Zimmervermittlung ein. Da können wir nur in den Augenwinkeln beurteilen, was sich seit 1990 hier alles verändert hat. Lokale und Straßencafes, daran herrscht kein Mangel mehr. Viele Häuser sind in Ordnung gebracht worden - aber nicht alle, einige haben es nach wie vor dringend nötig. Und schon befinden wir uns in der Straße, wo wir seinerzeit unser Quartier hatten, "Weinert Str." hieß sie damals, heute heißt sie "Dollahnerstraße". Und die Bräunigs gibt es noch, wir stehen vor ihrem Haus. Es ist aber Sonntag, 14 Uhr, nicht so die richtige Besuchszeit, und wir ziehen weiter zur Zimmervermittlung. Ein Gast wird gerade abgefertigt, da hört man schon, was los ist. Hotelpreise um die 200 DM, privat alles ausgebucht Da können wir uns den Aufenthalt in Binz gleich abschmücken.

Aus dem Stehgreif wird umdisponiert. Man kann mit dem Schiff von Breege im Norden der Insel nach Hiddensee fahren. In die Richtung könnte man sich orientieren. Nach einigem Hin und Her versteht die uns bedienende Dame auch unser Anliegen und schlägt für eine Übernachtung den Mukraner Hof vor, das liegt in unsere weitere Richtung und sei - so sagt sie - gerade man 5 km Weges. Telefonisch werden wir angemeldet. Wir atmen auf, so sind wir für heute mal wieder untergebracht. Mit Binz haben wir schon abgeschlossen, die vielen Menschen hier und der Nepp gehen uns schon wieder auf den Wecker.

Für die Weiterfahrt wählen wir die Strandpromenade, sicher ist hier Radfahren verboten, doch wir setzen uns darüber hinweg. Die alten FDGB-Heime hat man zum Teil zu schmucken Bettenburgen umgestaltet. Binz ist inzwischen sicher die erste Adresse der östlichen Ostsee geworden. Auf der See sehen wir unser Schiff, wie es der Stubnitz zustrebt, um die dortigen Keidefelsen dem Ah und Oh der Fahrgäste auszusetzen. Dann geht es wieder zurück nach Peenemünde, das alles ohne uns, und wir haben inzwischen schon ein Quartier!

Die Strandpromenade endet dann irgendwann in den Dünen und man kann nur auf dem Badestrand weiter. Also links ab, da kurven wir dann zwischen den Blocks der ehemaligen NVA-Behausungen herum. Hier soll es doch auch den "Koloß von Prora" geben, das ist ein 4.5 km langes Gebäude, erbaut zur Nazizeit für die KdF-Urlauber (Kraft durch Freude). Dazu ist es nie gekommen, im Krieg hat sich das mit der Kraft durch Freude dann ein wenig anders entwickelt. Heute steht das Gebäude weitgehend ungenutzt und dem Verfall preisgegeben herum. Ich nehme vorweg, zu Gesicht haben wir es nicht bekommen. (Beim Nachlesen des Rügenberichts von 1990 lese ich was von einem 1 km langen Gebäude, vielleicht war es das).

Wir sind froh, daß wir die Hauptstraße nach Prora finden und Richtung Mukraner Hof rollen können. Da geht es auf der Schmalen Heide dahin, einem schmalen Landstrich zwischen dem Kleinen Jasmunder Bodden und dem Prorer Wiek. Überall sind Autos von Badegästen geparkt, die sich an dem unendlichen Strand ein Plätzchen suchen. Wir genießen die Fahrt eigentlich weniger, es geht schnurgeradeaus, immerhin mit Rückenwind. Aus den angekündigten 5 km werden so an die 15, bis wir Mukran erreichen. Die ausgedehnten Anlagen des Fährhafens von Neu Mukran sind schon in Sicht. Den Mukraner Hof finden wir in einer Seitenstraße, damit aber in ruhiger Lage. Auch dieses ist kein Dorfrestaurant, wie der Name vermuten läßt, sondern ein alter Komplex aus DDR-Zeiten, zwei Blocks und ein Mitteltrakt mit dem Restaurant.

Wir beziehen unser Zimmer und fahren dann mit den Rädern los, zu Fuß kann man hier nichts werden. Ein Besuch des Fährhafens ist wenig ergiebig, recht lieblos hat man die Anlagen in die Gegend gesetzt. Hinter einem großen Parkplatz stehen wir vor Maschendraht und müssen den ganzen Weg zur Hauptstraße zurück. Wenig später finden wir einen Zugang zum Badestrand, berauschend ist die Atmosphäre hier nicht. Wir lagern uns in den Sand und rücken aus dem Schatten der Fahrräder in die Sonne. Immerhin gibt es einiges zu beobachten. Da erscheint erst ein kleiner weißer Punkt am Horizont und kommt schnell näher. Das ist das Tragflügelboot, das täglich mehrmals von Swinemünde heranrauscht. Dann erscheint eine Fähre, die kommt wohl aus Skandinavien und entläßt eine endlose Karawane von Bussen, Lastwagen, Wohnmobilen, Fahrzeugen mit Wohnanhänger und Pkws. Ein vorwitziger Hubschrauber umkreist die ganze Angelegenheit mehrmals. Schließlich legt auch noch ein Frachtschiff an. Wir sind zufrieden mit unseren Beobachtungen und begeben uns in ein nahegelegenes Strandrestaurant, wo wir wieder bestens essen können (Brathering).

Zurück im Mukraner Hof lassen wir den Abend nicht lang werden, denn morgen haben wir für die Fahrt nach Hiddensee noch eine ordentliche Strecke am frühen Morgen zu bewältigen. Die Räder werden in einem Wellblechschuppen mit Vorhängeschloß untergebracht.

Montag, 19. 8. Mukrane Neuendorf 25 + 15 km

Pümktlich um 6.30 finden wir uns zu dem reichhaltigen Frühstücksbuffet ein. Den Weg nach Sagard lassen wir uns von der Hotelfrau erklären, es gibt da eine Abkürzing hinter der Bahn. Meine Rügenkarte ist noch vom VEB Tourist Verlag 1988, auf die ist nicht unbedingt Verlaß. Wir kommen an der B96 raus, können diese in der Nähe eines Hünengrabes mit dem Namen Dobberworth wieder verlassen. Ein Hotel hat man auch gleich an diese Stelle hingebaut. Hinter Sagard müssen wir ein wenig klettern, dafür genießt man eine schöne Aussicht. Links liegt Schloß Spyker, auch da ist jetzt ein Hotel drin. Nach dem Ort Glowe beginnt die Schaabe, das ist wieder eine kiefernbewaldete Landzunge von etwa 10 km Länge. Die Fahrt dort ist etwas eintönig aber flach.


Landschaft auf Rügen


Hafen in Breege
Das letzte Stück nach Breege ist etwas unwegsam, man fährt besser auf dem Bürgersteig. Der Ort macht einen netten, etwas verschlafenen Eindruck. Am Hafen geht es allerdings wenig verschlafen zu, eine Menge Leute befindet sich schon auf dem Schiff nach Hiddensee. Wir lösen die Fahrkarten, da werden unsere Räder auch schon verladen und wir bringen unser Gepäck an Bord. Wir kommen gerade rechtzeitig, um noch zwei Plätze auf dem Oberdeck zu ergattern. Die Fahrt führt durch Breeger und Breetzer Bodden. Hin und wieder sehen wir schwarze Vögel auf Pfosten im Wasser sitzen, die haben wir schnell identifiziert: Kormorane.


Wittower Fähre
An der Wittower Fähre gibt es wieder was zu sehen, man hat neue Anleger gebaut und ein vielfach größeres Fährschiff angeschafft. Das alte Gefährt liegt als historisches Unikum an der Mole. Inzwischen ist der Fahrtwind so forsch, daß wir uns in das Innere verziehen. Da brät einen die Sonne wiederum durch die Fensterscheiben. Mit einem Ehepaar kommen wir ins Gespräch über Kormorane und andere Vögel. Wir fahren zwischen Steinort und dem Bug hindurch und nicht viel später legt das Schiff im Hafen von Vitte an.

Wie jedesmal entwickeln wir erstmal für nichts weiteres Interesse als für die Quartiersuche. Die vielen herumhuschenden Touristen lassen nichts gutes ahnen. Zwei Tage wollen wir schon bleiben. Bei der Zimmervermittlung kann man uns eine Wohnung für mindestens drei Übernachtungen in Neuendorf vermitteln. Draußen liegende Toilette, etwas einfach, DM 34 pro Tag. Da machen wir uns gleich auf den Weg.

Nun kann man erstmal die Ohren aufsperren, irgendwas ist hier anders. Es ist die Stille, Autoverkehr gibt es außer Lieferfahrzeugen und Notarzt nicht. Hauptverkehrsmittel ist das Fahrrad, dann kommen die Pferdewagen. Der Weg von Vitte nach Neuendorf ist natürlich wunderschön entlang dem NSG. Dünenheide. An einem Tümpel macht eine junge Dame ein Foto, da halte ich an und mache auch eins. Hinter mir wartet schon der nächste.


NSG. Dünenheide

Tümpel

Im Plogshagen
Ich mache Heidi gleich darauf aufmerksam: "Hier fahren wir noch öfter lang". In Neuendorf gibt es auch eine Zimmervermittlung, da frage ich rein interessehalber. "Heute nichts mehr" ist die lapidare Antwort. Wir finden das Haus von Frau Thürke im Plogshagen, das ist schon mal bildhübsch und steht wie die meisten Häuser hier mitten in der Wiese. Leider würden die Zäune aber auch immer mehr, erfahren wir. "Muß man wegen der Sickergruben noch immer Wasser sparen?" frage ich. Nein inzwischen sei alles an die Kläranlage angeschlossen, aber man wisse nicht, wie man nun die alten Sickergruben entsorgen solle, sagt Frau Thürke. Als wir unsere Wohnung betreten, geraten wir in Entzücken, das ist ja wunderhübsch. Alles ist für die Selbstversorgung vorhanden, nur ein Fernseher fehlt, was ich besonders begrüße. Als erstes gehen wir einkaufen und besorgen uns das Nötigste für Abend und Frühstück. Hier ist die Gastwirtschaft "Haus am Meer", gegenüber das Haus, wo wir vor vier Jahren übernachtet haben.


Hafen in Neuendorf
Wir begeben uns sogleich zum Strand, der zieht sich endlos dahin. Man findet schnell ein Plätzchen zwischen den Badegästen, deren Bademode nicht von Mode- Designern gemacht ist. Ich fange bald an zu schnarchen, aber dann machen ein paar Kinder unter pädagogisch vorbildlich geführter Regie der Eltern einen solchen Lärm, da muß man sich schon mal aufsetzen und blinzeln. Dann kann man sich wieder hinlegen. Das Wasser ist glasklar aber sehr frisch, so um die 15 Grad schätzen wir. So vergeht der Nachmittag.

Am Abend gehen wir essen in ein Restaurant schräg gegenüber. Da alle Tische besetzt sind, setzen wir uns zu einem Ehepaar aus Wuppertal, wie wir bald erfahren. Da kann man sich schon mal umhören, was es so alles an Möglichkeiten gibt. Ein Strandkorb in Vitte, das wäre doch was für morgen.

Dienstag - Mittwoch: Hiddensee

Wir frühstücken vor dem Haus in der Sonne. Heidi muß etwas gegen ihren Husten tun, wo es schon so still hier ist. In Vitte ist ein Arzt, eine Apotheke gibt es allerdings nicht auf der Insel. Wir gehen gleich zu der Arztpraxis, da warten schon zwei, aber der Arzt ist noch nicht da. Bald kommen immer zahlreicher die Patienten, da wird das Wartezimmer auf die Bänke im Hof verlegt, weil die Sonne so schön scheint. Die Regie führt eine resolute Sprechstundenhilfe, die erinnert an Oberschwester Hildegard in der Schwarzwaldklinik, wie Heidi meint. Ich gehe inzwischen einen Strandkorb mieten, das kostet hier 10 DM. Ich gucke mich noch beim Hafen um, da ist der Notarztwagen zugange. Ein Schiff legt gerade ab. Zurück in der Arztpraxis berichtet Heidi, es habe einen Notfall gegeben mit einer Krankenhauseinweisung, deswegen habe die Sprechstunde immer noch nicht angefangen. Zeit für eine weitere Runde über den Deich, dann können wir endlich zu unserem Strandkorb ziehen. Heidi hat ein hustenlösendes Mittel bekommen.


Vitte: Windmühle
Gleich im zweiten Strandkorb treffen wir unsere Bekannten wieder. Die sind aber züchtig bekleidet. Weil das aber die Ausnahme ist, hängen wir bei unserem Strandkorb ein paar Kleidungsstücke mehr weg, als sonst üblich. Dan guckt man den Strand entlang, mal in die eine, dann in die andere Richtung. Die Wassertemperatur ist 13 Grad, wie auf einer Tafel zu lesen ist. Als es fast schon langweilig zu werden droht, erscheint ganz nah ein Kormoran, begibt sich dann auf das Wasser und taucht ein paar Runden. Als er damit fertig ist, setzt er sich zu den Möwen auf die Buhne, richtet sich auf und breitet ganz ruhig die Schwingen aus und hält sie in den Wind. So was hat man ja noch nie gesehen. Leider ist eine Frau mit klopsartiger Figur zu neugierig und vertreibt unseren Freund.


Vitte: Strand
Gegen 15 Uhr packt mich dann doch der Rappel. Ich lasse mir für eine Stunde Urlaub geben, schwinge mich auf das Fahrrad und fahre schnurstracks nach Kloster am Nordende. Bis zum Leutchtturm müßte man es in der zeit eigentlich schaffen, weit ist es nicht, aber steil bergauf. Ich lege eine Trainingseinheit auf und bin einer der wenigen Bekloppten, die da mit dem Rad rauffahren und erst recht wieder hinunter, denn da sind breite Lücken zwischen den Betonplatten, die einen so richtig durchschütteln. Oben am Rand des Dornbuschs, einem kleinen Kiefernwäldchen, öffnet sich der Inselblick nach Süden. weiter am Leuchtturm öffnet sich der Blick nach Norden und Osten hinüber nach Rügen. Ich nehme das alles nur kurz zur Kenntnis, hier muß ich Heidi raufschleifen, koste es was es wolle.


Inselblick nach Süden

Leuchtturm
Weil während der Rückfahrt noch ein Hubschrauber am Hafen landet, bin ich 10 Minuten über die Zeit. Es geht aber nochmal gut. Wir fahren dann bald zurück, ein drittes Mal die Nationalstraße von Hiddensee. Dafür sind wir etwas früher beim Essen im gleichen Restaurant wie gestern. Und siehe da, unser Ehepaar aus Wuppertal erscheint auch bald und kann sich gleich mit an unseren Tisch setzen.

Am Abend rufen wir die Kinder an und teilen ihnen unsere voraussichtliche Rückkehr für Donnerstag mit.


Blick nach unten
Inzwischen habe ich Heidi überzeugen können, daß sie mit nach Kloster und auf den Dornbusch kommt. Das machen wir dann gleich am nächsten Morgen, vorher wird der Strandkorb aber schon gebucht. In Kloster ist der Weg sandig. Weil es noch früh ist, laufen noch nicht so viele Tagesgäste herum. Wir kommen an der Villa von Gerhart Hauptmann vorbei, dann sind wir an der Kirche. Die Tür steht offen und wir schauen hinein. Uns schlägt schon sowas wie der Klang Gregorianischer Gesänge entgegen, dargebracht von einer Gruppe junger Herren. Dann vernehmen wir aber einen eigenartigen Text der Weise:"Rammele Rommele Rammele Rommele...." und immer so weiter. (Ob sich diese Aufforderung an den Oberbürgermeister von Stuttgart richtet?) Der Gesang endet dann in der tiefsten Baßstufe, die möglich ist. Wir verlassen kopfschüttelnd den Raum und ziehen uns noch das Grab von Gerhart Hauptmann rein. Die Lebensdaten hat man weggelassen, die setzt man wohl voraus. Der Gedenkstein an seine Frau ist aber vollständig ausgefüllt. Dann geht es bergan. Wir schließen die Räder an einem Parkplatz für Fahrräder ab und wandern hinauf. 10 Minuten, länger dauert das nicht. Neben Insel- und Leuchtturmblick ist besonders der Blick nach Osten interessant. Da wechseln sich ständig Land und Wasser ab, weil man über die Halbinseln Alt- und Neubessin bis nach Rügen hinüber guckt.


Blick nach Norden
Zu schnell sind wir wieder unten und fahren über den Hafen von Kloster zurück. An unserem letzten Tag wollen wir noch soviel Sonne am Strand tanken, wie wir mitnehmen können. Dabei passiert wieder nicht viel. Einmal kommt ein junger Mann vorbeigeschlendert, der sieht aus wie ein Schauspieler vom "Tatort", vielleicht hat er Hiddensee mit Sylt verwechselt. Gegen Mittag wird unsere Aufmerksamkeit von zwei Männern gefesselt, die die Buhnen ausmessen, die am Strand entlang dem Küstenschutz dienen. Anhand der Vermessung kann man sicher Rückschlüsse auf Veränderungen der Strandverhältnisse schließen.

Dann wandert da noch ein Herr entlang, der sieht aus wie aus einer Chefetage. Nur daß er bis auf einen riesigen roten Rucksack nichts anhat. Eine ebenso luftige Vietnamesin läuft gehorsam hinterher. "Der kommt bestimmt direkt aus Berchtesgaden" sage ich zu Heidi.

Als wir nach Hause fahren wollen, rutscht Heidi mit ihrem Sattel plötzlich hinunter in Kinderposition und macht runde Augen. Da hat man doch tatsächlich am Strand den Schnellspannhebel für die Sattelbefestigung geklaut! Daß sowas auch auf Hiddensee möglich ist, verwundert uns einigermaßen. So muß Heidi heute mit einem etwas krummen Rücken zurückfahren. In Neuendorf findet sich schnell eine Schraube zur Reparatur.

Wir sind im Geiste schon beim Einpacken, da läßt Frau Thürke nebenbei die Bemerkung fallen, daß unsere Wohnung nach uns noch nicht vermietet sei. Äber da können wir ja noch einen Tag länger bleiben!" Das muß man erstmal in den Kopf kriegen, zu sehr klammert man sich innerlich immer an die Vorausplanung. Es herrscht aber derzeit ein so herrliches Wetter und wir sind auf Hiddensee, da wäre man ja bescheuert, wenn man den Tag nicht noch bleibt..

Unser Restaurant hat heute Ruhetag, da begeben wir uns in die "Stranddistel". Ohne daß man sich verabredet hätte, sitzt schon bald unser Ehepaar aus Wuppertal mit am Tisch. Die waren heute ganz im Süden am Strand, da gibt es natürlich keine Strandkörbe und es ist viel ruhiger. Wir beschließen, den nächsten Tag auch dorthin zu wandern. Wir diskutieren noch die Lokale von Neuendorf durch, 7 soll es geben, wir kommen aber nur auf 6.

Am Abend rufen wir die Kinder an und teilen ihnen unsere voraussichtliche Rückkehr für Freitag, 16.33 Uhr mit. Ich mache Heidi darauf aufmerksam, daß sie sich mit der Ankunftszeit um eine Stunde vertan hat, aber da haben wir schon aufgelegt.

Donnerstag: ein geschenkter Tag auf Hiddensee

Der nun wirklich letzte Tag bricht wieder wolkenlos an wie die anderen Tage auch. Wir müssen noch zum Einkaufen, dabei treffen wir unser Ehepaar aus Wuppertal. Die haben das 7. Lokal entdeckt, da wollen wir heute abend zusammen essen, so wird es ausgemacht.

Dann marschieren wir am Strand entlang. Ich habe die Regenumhänge als Strandunterlage mitgenommen. Den größten Fehler mache ich, indem ich den Fotoapparat zurücklasse. Aber das hat man ja auch nicht wissen können, was einen heute erwartet. Zuerst mal inspizieren wir leerstehene Strandburgen. Es ist hier wohl Usus, daß man mit einem Datum aus Muscheln oder Hölzchen kennzeichnet, wie lange man die Burg zu nutzen gedenkt. 22.8. ist da meistens aufmodelliert, und das ist heute.

Nach einer halben Stunde Fußmarsch durch den Sand finden wir eine schöne Burg, da steht nichts dran, wie wir meinen, und wir richten uns häuslich ein. Nach einer Weile mache ich die erste Erkundungstour. An der landseitigen Strandkante ist ein kleiner Aufstieg, da hat man zum Schutz der Dünen Strandhafer angepflanzt. Mancher hat dort wohl auch sein Bedürfnis erledigt. Als ich gerade ein paar liegengebliebene Dosen und Flaschen einsammle, sehe ich schon die Katastrophe kommen. Eine Dame und ein jüngerer Herr nähern sich im Dragonerschritt unserer Burg und pochen in barschem Ton auf ihr Recht. An einem Stöckchen sei das Datum angebracht gewesen. Da habe man wohl mutwillig jene Kleidungsstücke rübergehängt. Inzwischen bin ich auch herangekommen. Ob ich wüßte, daß es verboten sei, auf den Dünen herumzulaufen, hält mir der jüngere Herr entgegen. Heidi rafft schon alle Sachen zusammen, ich tue ahnungslos (bin es aber nicht). "Sehen Sie, was Sie da angerichtet haben!" wirft mir der jüngere Herr weiter vor. Nun, den Aufgang gab es ja schon. Ich bin ja auch einsichtig. "Haben Sie diese Burg gebaut?" versuche ich zu kontern. "Das schadet genauso dem Küstenschutz!" "Das ist hier schon immer so Sitte" und man müsse 10 m von der Düne wegbleiben. Äußerdem haben Sie sich da ja reingelegt!" Wir drehen ab und Heidi giftet noch zurück: "Manche brauchen einfach ihren Ärger, und wenn es im Urlaub ist". Die Dame hat das letzte Wort: "Den Ärger machen Sie ja!"

So ziehen wir mit schleifenden Klamotten dahin, in der Hoffnung, daß es nicht allzu viele Augenzeugen unserer schmählichen Vertreibung gibt. Und da sitzen sie schon, unser Ehepaar aus Wuppertal, hier in der Abgeschiedenheit auch mal entblättert. Wir halten Abstand und geben winkend zu verstehen, daß wir noch ein ordentliches Stück weitermarschieren, das ersscheint uns vorteilhafter. Wir finden eine Burg, das ist mehr eine Ruine und Reste einer Feuerstelle sind erkennbar. Wenig weiter eine prima intakte Burg, die wir, eingeschüchtert wie wir sind, nicht zu beziehen wagen. Wir beschäftigen uns mit der Burgruine, entfernen die Aschereste und schütten die Burgwälle so halbwegs wieder auf. Als wir uns solchermaßen verteidigungsfähig fühlen, breiten wir unsere Klamotten wieder aus und schauen erstmal aufatmend in die Sonne.

Nun haben wir einen interessanten Platz gewählt. An der Buhne liegt ein blau angestrichener Kutter, dessen Bug ist etwas sonderbar zwischen den Pfosten der Buhne verkeilt. Alsbald erscheinen ein paar Personen im Adamskostüm und umstellen den Kutter. Ein freundlicher Schäferhund ist an Bord, der ist froh über jede Abwechslung und begrüßt die Besucher schweifwedelnd. Dann erscheint der Eigner des Kutters, ein uralter Mann mit Vollbart und dicker Brille. Er tappt an Deck herum und muß sich bei jedem Schritt an der Reling festhalten. Es werden ein paar Worte gewechselt, wovon wir aber trotz hoch aufgestellter Lauscher nichts mitbekommen. Die paradiesisch gekleidete Gesellschaft entfernt sich wieder, die gehören zu einem weiter hinten geankerten Boot. Der alte Mann verschwindet wieder in seiner Kajüte, der Hund übernimmt die Wache und wir blinzeln weiter in die Sonne. Wir versuchen, anhand unserer Phantasie eine Handlung in diese Geschichte zu weben. Es handelt sich doch sicher um einen Aussteiger, der auf beneidenswerte Weise seinen Lebensabend auf der See verlebt. Es gipfelt darin, daß Heidi den älten Griese" aus der frühen "Lindenstraße" (Fernsehsendung) anführt, der sei ja schließlich auf den Weltmeeren verschollen. Ich habe auch einen Klassenkameraden mit dem Namen Fritz Köhler, der ist auch seit Jahrzehnten auf See verschollen, aber der kann es nicht sein.

Als es uns zu langweilig wird, machen wir einen Marsch nach Süden, bis es am Naturschutzgebiet nicht weiter geht. Die südliche Landspitze von Hiddensee heißt "Gellen" und ist von Heide- und Salzwiesenflächen bedeckt. Wir sind kaum wieder in unserer Burgruine und ich bereite mich auf ein Schnarchstündchen vor, da schreckt mich Heidi auf: "Jetzt wird es interessant!" Ein Schlauchboot der Polizei macht längsseits am Kutter fest. Drei Beamten testen erstmal den Schäferhund. Zum Glück ist der freundlich und läßt sich bereitwillig tätscheln. Man stelle sich vor, der wäre bissig, da hätten wir nicht zuschauen mögen. Ein Polizeibeamter klettert an Bord und klopft an das Fenster der Kajüte. Die anderen beiden inspizieren inzwischen dieses und jenes, aus den abwinkenden Gesten kann man schließen, daß da nicht alles seine vorbildliche Ordnung an Bord hat. Dann erscheint der alte Mann endlich, der blickt offensichtlich nicht ganz durch.

Die Polizisten telefonieren mit dem Streifenboot, das weiter draußen geankert hat. Wir können ein paar Wortfetzen verstehen: "Macht einen verwirrten Eindruck, muß abgeborgen werden...". Inzwischen hat sich eine kleine Versammlung an diesem ansonsten fast menschenleeren Strand gebildet. Wir haben uns auf den Sand gesetzt, um nichts zu verpassen, vor uns steht ein allseits brauner Herr, den haut Heidi an: "Wielange liegt denn der schon da?" Endlich erfahren wir ein paar Einzelheiten. Der allseits braune Herr war auch gestern schon da und wohnt in einem Boot eine Buhne weiter. Er kommt aus Stralsund, eine halbe Stunde nur, sagt er. Beneidenswert, wir haben ja etwas länger gebraucht um bis hier zu kommen...

Also der alte Mann ist gestern hier reingefahren, hat den Kutter unsachgemäß vertäut, sodaß er nach einer Weile auf den Sand gelaufen ist und sich mittlerweile schon eine richtige Wanne geschubbert hat. Der Rückwärtsgang sei kaputt, da könne man ihn ohne Motorunterstützung auch nicht freischleppen. Die Leute von heute morgen, die hätten die Wasserpolizei per Handy alarmiert. Allerdings sind inzwischen fast 5 Stunden vergangen. "Ein Hörgerät hat er, und ins Wasser gefallen ist er auch noch. Nach der Brille mußten wir tauchen" erfahren wir weiter. Nach Stralsund habe er wollen, wo er jetzt sei, wisse er gar nicht. Der Kutter heißt "Milli" und trägt noch die Aufschrift "Lexfähr, Eider". Damit endet die aktuelle Stunde erstmal, das Polizeiboot pendelt ein paar mal zwischen dem Streifenboot und dem Kutter, die Polizisten sitzen gelangweilt in der Sonne. "Ein schöner Job" philosophieren wir. Die Polizisten begeben sich dann wohl zum Kaffeetrinken auf ihr Streifenboot und wir blinzeln wieder in die Sonne.

Fas ist es schon Zeit zum Aufbrechen, da können wir doch noch Augenzeuge werden, wie die Sache endet. Am Horizont erscheint ein schnelles Boot, dann erkennt man - ein Seenotkreuzer. Ich gerate in Verzückung, noch nie hat man ja ein solches Boot bei einem ernsthaften Einsatz gesehen. Draußen am Streifenschiff wird kurz beigedreht, dann rauschen sie heran. SAR (Seenot Abteilung Rügen phantasiere ich zusammen), das Boot heißt "Zander". Drei in feurrote Overalls gekleidete Männer (sicher sturmerprobt), drehen schäumend ihren Kreuzer bei, hantieren mit Trossen und verzurren die Abschleppseile. Der alte Mann tappt herum, als ob ihn das nichts anginge. Der Hund findet alles prima.

Der erste Schleppversuch. Mit aufschäumenden Schrauben versucht der Seenotkreuzer unter voller Kraft den Kutter frei zu schleppen. Keine Chance. Ich sage schon als Landratte "Die schaffen das nie". Doch die kennen noch einen Trick. Auf ein paar Meter fahren sie an den Kutter ran, ziehen die Leinen stramm, und unterspülen dann den Kutter durch die aufwirbelnden Schrauben. Und er ruckt, krängt über, dreht sich und ist frei.

Stundenlang haben wir nun an diesem Drama teilgenommen, in Minutenschnelle ist es vorbei. Der blaue Kutter, der alte Mann und der Schäferhund entschwinden im Schlepptau des Seenotkreuzers. Lange noch schauen wir ihnen nach. "Der alte Mann und das Meer" - auf eine andere Art. Heidi ist den Tränen nahe. Der letzte Tag für diesen alten Mann auf See, wo wird er landen, im Altersheim und der Hund im Tierheim?

Schwermütig treten wir den langen Rückmarsch an. Und ich hatte meinen Fotoapparat nicht dabei, Knirrrsch und Ärrgerr! Dieser Zusatztag, was haben wir da noch erlebt!

Nun können wir natürlich übersprudelnd unsererm Ehepaar aus Wuppertal die ganze Geschichte erzählen. Wir sitzen im 7. Lokal von Neuendorf, da hat man seinen Ehrgeiz darin gesetzt, übergroße Portionen zu servieren. Das macht sich gut, doch sind die Einzelheiten des jeweiligen Gerichts in dem Gesuppe des Sammelsuriums irgendwann aufgeweicht, vermengt und erkaltet. Am Nebentisch wird ein hutgroßer Gemüseteller von nach und nach vier Personen nicht bewältigt. Wir verabschieden uns von unserem Ehepaar aus Wuppertal, die wollen anschließend noch in den Spreewald und in das Erzgebirge. So gut geht es uns nicht.

Wir rufen noch die Kinder an, daß wir am Freitag erst 18.33 am Braunschweiger Bahnhof eintreffen.

Rückfahrt

Man kann es immer nicht verstehen heute ein Frühstück auf Hiddensee, die Fahrt über das Meer nach Stralsund - und abends soll man schon zu Hause sein? Die Silhouette von Stralsund ist allein eine Reise wert.


Stralsund
Vom Hafen schieben wir hinauf, wie es sich gehört, kommt man vor dem Rathaus mit seinem löcherigen Giebel raus. Wir schieben durch die Rathauspassage, verzierte Säulen und Gewölbe, gab es die vor 6 Jahren auch schon? Die Plätze Stralsunds sind zur Zeit von Jahrmärkten, Verkaufsbuden und Karussells verstellt. An der Marienkirche vorbei, dann ist Stralsund für uns heute zuende. Am Bahnhof versuche ich mich im Lösen der Fahrkarten. Eine kurzfristige Reservierung eines Fahrradtransports in einem InterRegio Zug ist nicht mehr möglich. Zudem kommt der von uns geplante Zug direkt aus Binz, da sind die Fahrradplätze doch sowieso ausgebucht, wir haben da so unsere Erfahrungen. Dank HACON, das ist das Fahrplanprogramm im Computer, wird uns statt der geplanten Strecke über Dessau - Magdeburg aber eine viel einfachere Verbindung über Berlin in Regionalzügen angeboten. Es gibt noch Gelegenheit, den Zug aus Binz zu inspizieren, da sind gerade zwei Fahrräder drin, aber inzwischen haben wir und schon für den Zug über Berlin entschieden. Wir müssen nur mal wieder die Kinder anrufen, daß wir nun erst um 18.44 Uhr in Braunschweig ankommen.

Eine letzte Episode zu Ungunsten der Deutschen Bahn. Um auf den richtigen Bahnsteig zu kommen muß man in Stralsund entweder die Räder und Gepäck Treppen runter und rauf schleppen, oder man kann, mit Einverständnis des Kontrollpersonals, ebenerdig eine Schranke benutzen, die allerdings durch ein Vorhängeschloß gesichert ist. Auf eine diesbezügliche Frage beim Kontrollpersonal, da trinkt man gerade Kaffee, heißt es: "Nur für Rollstuhlfahrer!" . Ich bin froh, daß nicht Heidi diese Verhandlung geführt hat, da hätten wir noch die "Schlacht von Stralsund" vom Zaun gebrochen. Ich schleppe lieber, Trainingseinheit!

Eine Bahnfahrt zu beschreiben, ist nicht Sache des Radreisenden, die Landschaften und Städte huschen vorbei. Mit der Karte auf dem Schoß kann man immerhin noch verkünden:" Da kommt gleich ein See." Meistens stimmt das auch, aber dann huschen schon wieder Bäume in das Blickfeld.

In Berlin müssen wir nochmal die S-Bahn als Transit vom Bahnhof Lichtenberg bis Wannsee benutzen. Um die Bahnsteige zu wechseln, gibt es einmal eine schräge Rampe, das andere Mal einen Aufzug.

Pünktlich kommen wir in Braunschweig an, unsere Kinder empfangen uns mit Blumen. Wir radeln die 8 km noch aus eigener Kraft nach Hause.

Keine Panne, kein Unfall, kein Überfall, ein Reinfall, 700 km gefahren und am Schluß 4 Tage auf einer Trauminsel, was will man mehr.


Zurück zurHomePage