In den Jahren zwischen meinem 7. und 11. Lebensalter, der besten Kinderzeit also, wohnten wir in Südhorsten im Landkreis Schaumburg-Lippe, einem kleinen durch die Landwirtschaft geprägten Dorf, wo meine Mutter Lehrerin an der Volksschule war. Natürlich mußte ich bei ihr selbst in die Schule gehen. Aber es gab auch Angenehmes. Erstmal gab es damals noch ein intaktes bäuerliches Leben, wo wir beim Kühetreiben, der Ernte und - wenn es hoch kam - beim Treckerfahren helfen durften.
Das schönste war aber der "Kummerschacht". In Schaumburg-Lippe am Rand der Bückeberge gab es nämlich bis in die 50er Jahre den Kohlebergbau, der größte Schacht war der Georgschacht bei Stadthagen. Einmal haben wir Kohlen geholt in Sülbeck, da hatte sich einer hinter seinem Haus einen eigenen Kohleschacht angelegt. Die Kohlen wurden mit einer Winde heraufgezogen und auf einen Bollerwagen verladen.
In Südhorsten hatte es auch einen Kohleschacht gegeben, aber der war schon stillgelegt und zugeschüttet. Nur der Kummerschacht war noch übrig, das ist die Abraumhalde, ein Berg aus Schiefergrusel, etwa 1 ha groß und c.a. 20 m hoch. Alles war überwuchert mit dichtem Gestrüpp, wegen der Dornen oft gänzlich unzugänglich. Angrenzend gab es noch einen Teich mit Molchen und ein kleines Wäldchen. Wie man sich vorstellen kann, war das ein Paradies für die Kinder. Im Sommer konnte man alle erdenklichen Abenteuerspiele dort veranstalten, Buden bauen und Feuerchen machen. Im Winter ließ es sich auf der Halde wunderbar rodeln. Der Höhepunkt kam, als im Himalaya die letzten unbezwungenen Gipfel des Nanga Parbat und Mount Everest bestiegen wurden, die Filme darüber wurden im Kino gezeigt. Wir übernahmen die Rolle von Hermann Buhl und Sherpa Tensing, besorgten uns im Konsum ein paar Fähnchen und erprobten dann an einer steilen Stelle des Kummerschachts unser bergsteigerisches Talent. Sicher war das nicht ungefährlich, aber wir haben zu Hause nichts davon erzählt, und so gelang es uns, wohlbehalten die Konsumfähnchen auf dem Grat über der Steilwand einzupflanzen.
Als ich vor ein paar Jahren einmal mit Stefanie nach Espelkamp unterwegs war, fiel mir ein, den kleinen Umweg über Südhorsten zu machen, und meiner Tochter das Paradies meiner Kindheit zu zeigen. Angetroffen haben wir eine Müllhalde. Der ganze Kummerschacht war abgetragen worden und zum Wegebau oder sonst wofür verwendet worden. Die Wunde in der Landschaft war nun bedeckt mit Bauschutt und Sperrmüll. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre in Tränen ausgebrochen, aber man ist ja nun ein erwachsener Mann.
Zurück zu 1996. Vor vier Jahren haben wir eine Radtour nach Westpreußen gemacht, wo Heidi geboren und bis zur Vertreibung aufgewachsen ist. Bei mir ist die Sache so, daß die Vorfahren väterlicherseits mehrere hundert Jahre in Einbeck dem Gewerbe der Blaudrucker nachgingen, die Blaudruckerei gibt es noch heute und wird von meiner Cousine Gine geführt.
Mütterlicherseits geht es genauso lange zurück, das durchgehende Gewerbe war hier Bunt- oder Kupferschmied. Der Ort ist Pyritz in Hinterpommern, ca. 50 km östlich der Oder. Über einige Vorfahren habe ich von einer längst verstorbenen Tante die Abschrift eines Dokuments, das in den 30er Jahren bei der Restaurierung der Kirchturmkugel gefunden wurde. Ich bin zwar nicht in Pyritz geboren, sondern in Berlinchen - heute Barlinek - weil die Entbindungsstation dort war. Getauft und 1 Jahr gewickelt und gesäugt bin ich aber in Pyritz, bis auch dort die Stalinorgeln die Musik machten.
Zurück zur Radtour diesen Jahres. Den Fahrradzeitschriften ist zu entnehmen, daß der R1 von Zwillbrook an der holländischen Grenze bis Höxter inzwischen am nördlichen Harzrand entlang, durch Sachsen-Anhalt und Brandenburg bis nach Küstrin an der Oder weitergeführt ist. Natürlich geht er auch mitten durch Einbeck, und vom Endort Küstrin bis Pyritz ist es nicht weit. Damit ist das Motto unumstößlich: Einbeck - Pyritz, von Wurzel zu Wurzel!
Leierkastenmann in Höxter |
Gern kehren wir dem Gewusel den Rücken und rollen vor der Weserbrücke links auf den Radweg 1, hier zusammengelegt mit dem Weserradweg. Die gemächlich dahinströmende Weser strahlt Ruhe aus. Entlang einer Allee erreichen wir die erste Attraktion: das Kloster Corvey. Da gibt es nicht nur einen Busparkplatz, sondern auch einen langen Fahrradständer, wo schon eine Menge Radtourer die bepackten Räder abgestellt haben. Um mehr zu sehen, muß man pro Person 11.- DM entrichten, wie immer haben wir damit Schwierigkeiten. Das lohnt sich nur, wenn man genügend Zeit mitbringt - aber wir wollen ja nach Polen und sind erst eine halbe Stunde unterwegs.
So rollen wir weiter und umrunden das Kloster auf einer Abkürzung, bis wir wieder auf den R1 stoßen. Bald schon werden wir dem R1 aber schon untreu, denn bei dem Ort Lüchtringen kann man über die Weserbrücke fahren und durch die Wiesen eine Schleife der Weser abschneiden.
Lüchtringen |
Schloß Bevern |
Da es weiter über die Felder geht, finden wir bald die geeigneten Büsche. Wir queren die Ausläufer des Solling, ich ernte erste Kritik meiner Gattin, als ob ich die Berge da aufgestellt hätte. Schließlich handelt es sich um die Wasserscheide zwischen den Flüssen Weser und Leine.
Dassel |
Mühle in Markoldendorf |
Wer sich nun an die Markierung des R1 hält muß eine einzige Baustelle der B3 passieren und ist gleich wieder aus Einbeck draußen. Hält man sich aber links, gelangt man in die einzigartige Einbecker Innenstadt, alles prächtiges Fachwerk. Inzwischen hat man auch die Autos rausgehalten, da kriegt das Ganze erst Atmosphäre. An der Marktkirche vorbei, mein früherer Kindermund hat deren aufragenden Turm (ein wenig schief) immer als "den großen Einbeck" benannt. An dem dreitürmigen Rathaus vorbei suchen wir sogleich unsere Färberei am Mönckeplatz auf, um dort - allerdings unangemeldet - einen Besuch abzustatten.
Haus Spiegel |
Marktplatz in Einbeck |
Blaudruckerei Wittram |
Leider kriegen wir davon gar nichts mit, es geht verkehrsreich auf der L487 entlang. Hier ist der R1 nicht besonders fahrradfreundlich geführt. Erst vor Kreiensen rollt man wieder geruhsam durch die Auen des Flüßchens Leine. Nun ist es nicht mehr weit bis Bad Gandersheim, rauf und runter durch die Felder, dann meldet Heidi doch schon mal Wünsche auf Quartiersuche an. In Bad Gandersheim gönnen wir uns erstmal einen gemütlichen Kaffee auf dem Marktplatz. Zur Zeit finden gerade die Domfestspiele statt, da ist der Blick auf Dom und Rathaus durch die Zuschauertribüne verstellt Von einer Telefonzelle aus rufen wir wegen eines Quartiers im nächsten Ort Wolperode an, wo man uns für eine Nacht aber nicht haben will. Da müssen wir stattdessen in das Kurparkhotel ziehen. Der Preis ist aber erträglich - und so können wir einmal gemütlich durch Gandersheim bummeln, denkt man. Die Räder werden im "Sesselzimmer" untergebracht, mit Radfahrern hat man hier noch nicht soviel Erfahrung, obwohl der R1 direkt am Hotel vorbei führt.
Nach dem Einchecken machen wir uns auf den Weg und wandern an schönen Teichen vorbei durch den vermeintlichen Kurpark. Nach dem dritten Teich stehen wir vor einem eingezäunten Campingplatz und müssen den ganzen Weg zurück marschieren. So haben wir - unbeabsichtigt - die "Rosenseen" kennengelernt.
Nun hat Heidi bei Gandersheim auch eine Wurzel, indem sie auf der Domäne Clus ein Haushaltsjahr absolviert hat. Aber die liegt hoch auf einem Berg, das wird diesmal nichts. Etwas müde äugen wir in den Straßen nach einem geeigneten Lokal für das Abendessen aus. Erstmal machen wir eine schaurige Entdeckung. Da steht ein Haus mit ausgebranntem Dachstuhl, unten war ein Lokal, die "Roswitha Stuben". Vor dem Hauseingang liegen Blumen, ein paar Kinderfotos und Teddybären. Dunkel dämmert uns, daß es hier vor ein paar Wochen eine Katastrophe gegeben hat. Wie wenig es einen berührt, wenn man das mal eben in den Nachrichten hört.
Wir landen im Chinarestaurant "Jade", wo der Radfahrerhunger zu seinem Recht kommt.
Das Frühstück nehmen wir in Gesellschaft eines Damenkränzchens ein. Zitat: "Is dat Ei schön weich? Na dann jibbet her". Wir bewundern den "Kränzchenlook": frisch ondulierte meist graue Locken, Brille, Bluse, Rock oder ausladende Beinkleider. Da kann man kaum eine von der anderen unterscheiden.
Wir begeben uns wieder auf den R1 direkt vor der Haustür. Die Morgensonne kämpft mit den Nebelschwaden. Nun müssen wir rauf nach Wolperode, was gestern nicht mehr möglich war. Frühsport, Heidi schiebt tapfer. Die 5-Gang- Schaltung reicht für diese Steigungen nicht aus. Ich fotografiere ein Spinngewebe mit Morgentau und kurbele hinterher.
Morgentau |
Dorf |
Am Horizont schälen sich ein paar Windräder aus dem Nebel. Als wir die Höhe bei dem Wasserwerk Heber erreicht haben, scheint die schönste Sonne. Unten im Tal der Nette liegt der Ort Bilderlahe. Wie der Name dieses Ortes ist die Abfahrt hinunter: bildschön. In weiten Kurven schwingt man hinab, die Landschaft wie geputzt, der Harz bläulich im Morgendunst. In einer Senke liegt der Ort Bornhausen, der Kirchturm ragt vorwitzig über die Hügel empor. Dann geht es lange durch einen Wald bis zum Ort Hahausen an der B248. Hier sind wir schon zichmal mit dem Auto durchgefahren, haben aber noch nie dort in der Sonne auf einer Bank gesessen. Aber heute!
Bei Bilderlahe |
Bornhausen |
Endlich erreichen wir Goslar durch eine Bahnunterführung. Goslar ist fest in der Hand der Touristen, mit Recht, denn es bietet auch eine der malerischsten Stadtbilder Norddeutschlands. Wir schieben hindurch, rauf zur Kaiserpfalz, wo wir wieder auf einer Bank verpusten.
Goslar Marktplatz |
Kaiserpfalz |
Die Drachenfliegerwiese |
Selbstredend fahren wir nun wieder auf die Landstraße über Schlewecke bis Bad Harzburg. Links liegt die "geologische Bannmeile", wo die Fachleute aus der ganzen Welt herbeieilen, um eine geologische Sensation zu bestaunen. Hier hat die Scholle des Harzgebirges die Gesteinsschichen wie in einem Bilderbuch steil aufgeschoben, die kann man dann numerieren, datieren und studieren. Nichts für uns heute. Nachdem wir eine ewige Steigung aus dem Ort Oker heraus geschoben haben und in Bad Harzburg angelangt sind, machen wir eine denkwürdige Rast vor dem Harzburger Bahnhof. Ich bin einigermaßen sauer: "In einer halben Stunde bist Du mit der Bahn zu Hause" wage ich vorzuschlagen. Das komme aber gar nicht in Frage, ist die Antwort. Um weiteren Auseinandersetzungen zu entgehen, verziehe ich mich in einen Laden und kaufe ein paar Dosen Fanta.
Dann geht es weiter, schweigend die lange Steigung hinauf Richtung Stapelburg. Links liegt das Dialyseheim. Mir geht so durch den Kopf, wie gut es uns geht, wenn wir so eine Steigung hinaufschieben können. Aber eine diesbezügliche Diskussion vermeide ich lieber. Ausgangs Harzburgs bietet der R1 zwei Varianten an: entlang der B6 auf dem Radweg oder rechts hinauf und durch die Wälder. Jeder wird raten können welche Route wir gewählt haben.
Schließlich sind wir in Ecker direkt vor der ehmaligen Grenze. Es geht rechts ab, und als wir eine Wandergruppe überholen, die uns von hinten nicht kommen hört, erschallt ein lustiges Tönchen. Das hebt die Stimmung wieder. Bald erreicht man die obere Variante des R1. Nun kreuzt man den ehmaligen Todesstreifen, auf dessen Mitte wir wieder kurz rasten. Es geht weiter auf und ab, auf Waldwegen bis Ilsenburg. Dort gibt es die Blochauer Brücke. Laut Beschilderung führt der R1 dort hinüber, wie es weiter geht, bleibt aber ungewiß. Steil den Wald hoch oder lieber über eine Treppe? Das kann es wohl nicht sein, so trassieren wir uns unseren Radweg selbst und fahren am Waldrand hinter Ilsenburg weiter. Irgendwann erscheint auch wieder eine R1-Markierung. Bis Wernigerode gibt es dann keine weiteren Probleme.
In der Touristen-Information gibt es erstmal etwas Schwierigkeiten. Privatzimmer werden nicht vermittelt. Hotels ab 150 DM aufwärts. Schließlich hat man inzwischen das "Gothische Haus" am Marktplatz aufwendig restauriert, wenn auch architektonisch nicht sonderlich gelungen, indem der neu angebaute Trakt in seiner Nüchternheit dem alten Haus den Charme raubt. Als ich dem Herrn in der Information sage, daß wir mit den Rädern unterwegs seien, fällt ihm plötzlich etwas ein. 100 m weiter sei das Hotel Tanne, da gäbe es ein Zimmer für 60.- DM. Na also - als wir daselbst eintreffen, schließt gerade ein paar Gäste die Haustür auf, heute ist nämlich Ruhetag. Als wir hören, daß die Klingel kaputt ist, finden wir wieder, daß wir mal wieder Glück gehabt haben und die Mißstimmungen des Tages verfliegen so langsam. Das Zimmer ist dann auch klein aber niedlich.
Markt in Wernigerode |
Auf dem Rückweg schließen wir unseren Rundgang ab, durch die Grüne Straße, da reiht sich wie überall ein Fachwerkhaus an das andere. Ein Haus ist als typisches Ackerbürgerhaus gekennzeichnet, mit der Fachwerkverzierung Ändreaskreuz und geschweifter Raute". Das Haus ist so typisch, daß es in dieser Straße nur einmal anzutreffen ist. Wir gucken uns noch die Kirche St. Johannis, erbaut 1280-89 von außen an. Als wir danach zu Hause die Kinder anrufen, da lachen die sich kaputt, daß wir nach zwei Tagen erst in Wernigerode sind, da fährt man ja von Braunschweig in gut einer halben Stunde mit dem Auto hin!
Im Hotel Tanne genießen wir ein ausgezeichnetes Frühstück. Bei dem Preis finden wir das ganz hervorragend. Dann begeben wir uns wieder an den Frühsprort, hinter dem "Lustgarten", einem schönen Park, schieben wir hinauf. Oben liegt die Burg, die man von der Bierwerbung für das "Hasselröder" kennt. Aber da wollen wir nicht auch noch hinauf. Stattdessen geht es zwar schön durch den Wald, aber immer auf und ab weiter. Heidi fängt schon wieder an zu schnauben. Hinter Benzingerode hinauf durch ein Wiesental mit Magerrasen, ein Jogger zeigt uns die Fersen auf dem grob geschotterten Weg. Als wir wieder eine fahrbare Straße erreichen, sehe ich es auch ein, das ist kein Vorankommen, wenn man nach Polen will. Wir einigen uns darauf, nun endgültig eher Kompromisse einzugehen, um uns das Leben leichter zu machen. Nach Michaelstein müssen wir aber noch, da ist ein Kloster.
Kloster Michaelstein |
Gartenzwerge an der Straße |
In Ballenstedt |
Wir kommen in den größeren Ort namens Hoym, da machen wir telefonisch unser Quartier fest. Es handelt sich um den Freizeitpark Gänsefurth kurz vor Staßfurt, was immer das sein mag. Auf meinen Hinweis auf den Preis, wie er im R1-Führer steht, heißt es: "Das war einmal". Doppelt so teuer ist es inzwischen. Aber egal, heute brauchen wir die Sicherheit, abends nicht noch suchen zu müssen. Die Dame am Telefon quängelt etwas herum, befragt den Computer und sagt dann zu, es wäre noch etwas frei. Wir sagen auch zu.
In Hoym gibt es eine Burg, die finden wir auch, aber da ist alles Bruch. Wir müssen dann wieder nach dem Weg fragen. "Sind sie nicht neulich mit drei Holländerinnen hier schon mal langgekommen?" werde ich gefragt. "Schön wärs" sage ich mutig mit einem Seitenblick auf Heidi. "Bis zum nächsten Mal" sage ich beim Weiterfahren. Der weitere Weg ist sehr schön an der Selke entlang, sorgfältig für die Radfahrer präpariert. So wünscht man es sich.
Ab Gatersleben geht es wieder Richtung Osten, unsere Hauptrichtung. Der Gegenwind ist uns eher willkommen, denn es ist recht heiß, wie man bei jedem Halt spürt. In einem Dorfladen kaufen wir etwas Trinkbares und setzen uns auf die Stufen. Da machen auch zwei Dachdecker, wie sich rausstellt, eine Rast und stöhnen über die Hitze auf ihrem Teerdach. Die letzte Etappe ist ein nicht enden wollender Feldweg, schnurgerade aber schön zu fahren. Die Städte Hecklingen und Staßfurt sind schon in Sicht, und dann erreichen wir den Freizeitpark Gänsefurth. Der besteht aus einer riesigen Tennishalle und einem Restaurant. Dahinter hat man auf eine Wiese Blockhäuser gestellt, das ist unser Quartier, wie die Bedienung nach Befragen ihres Computers feststellt. Daß wir die einzigen Gäste sind, merken wir erst später. An einem Tisch macht einer hinter seinem Bier einen Spruch: Ängela, mach schon mal nen Bungalow frei, mir ist heut so komisch".
Uns ist auch komisch, aber dann finden wir das Innere unseres Blockhauses urgemütlich. Da ist alles aus Holzbalken, Dusche und Toilette sind vorhanden und es herrscht eine himmlische Ruhe rings herum. Auch können wir im Restaurant prima essen und ein paar Bierchen verputzen. Und die Leute, die am Abend mit ihren schnellen Autos anrollen um eine Partie Tennis zu absolvieren oder sich nur zu zeigen, die sind auch ganz interessant. Einer hat eine schwarzgelockte (nicht blonde!) Gespielin dabei, die ihrem Gebieter wie ein Haustier folgt und auch lieber gar nichts sagt. Wir lästern ja immer gern.
Beim Frühstück sind wir die einzigen Gäste, wie schon erwähnt. Die Bedienung Angela muß nur für uns extra Brötchen holen, Eier kochen und das Frühstück herrichten. Und das macht sie ganz ausgezeichnet, ohne zu murren. Wir checken auch nach dem modernsten Stand der Technik aus, mit Rechnung aus dem Computer und Visa Card.
Bis Staßfurt sind es noch ein paar km, diesmal entlang der Bode als letztem Gruß aus dem Harz. Leider endet der R1 jetzt sozusagen auf dem Parkplatz von ALDI, den weiteren Weg muß man selber rausfinden. Wir überqueren die Bode, wie es der Karte zu entnehmen ist. Ein Rollstuhlfahrer mit Motor fährt neben uns und biegt dann rechts ab. Wir fahren weiter geradeaus, immer auf der Suche nach dem R1. Schließlich landen wir auf einer Kreuzung, wo es nur noch nach Magdeburg geht. Da Heidi immer vertrauensvoll meinen Spuren folgt und ich merke, wir sind wieder ganz falsch, da kommen mir fast die Tränen vor Wut. Schließlich will ich auch nicht, daß man von einer Enttäuschung in die andere stolpert. Aber wir müssen zurück und biegen auf Verdacht in die nächste Straße links. Etwas öde Fabrikgebäude, wer weiß, wo man da raus kommt. Der Rollstuhlfahrer kommt aus einer Seitenstraße und fährt hinter uns. Dann sieht man schon, die Straße ist zuende, aber ein kleines quadratisches Schild an einem Pfosten, und da steht drauf: R1! Was bin ich froh. Der Rollstuhlfahrer biegt nun ab, der will ja wohl auch woanders hin. Wir haben unseren Feldweg wieder.
Jetzt kommen wir nach Hohenerxleben, da gibt es eine Burg. Um dorthin zu gelangen, muß man der Beschilderung zufolge anscheinend über aufgeworfene Schotterhügel klettern oder grobes Felssteinpflaster abholpern. Heidi läßt schon wieder einen Spruch los, den ich lieber weglasse, um keine rassistischen Voruteile aufkommen zu lassen. Eine Frau am Straßenrand guckt ganz verdutzt, die kann ja sicher auch nichts dafür. Wir biegen auf die Landstraße ein, da hat man zwar auch Kopfsteinpflaster, aber auf dem Sandstreifen daneben läßt sich ganz gut fahren. Als wir in Neugatersleben ankommen,da gibt es schon wieder eine Burg, sagt Heidi: "Na, das ging doch prima!" Wir begeben uns also zu der Burg, leider ist das Tor zum Innenhof verschlossen. Da können wir nur auf die Brückenmauer klettern und ein beim Frühstück heimlich weggepacktes Wurstbrot verzehren.
Burgturm Neugatersleben |
Als wir die Brücke über die Saale passieren, stellen wir fest: festlich gekleidete Familien im Verband sind unterwegs, mittelgroße Kinder tragen große Schultüten, kleinere tragen kleinere Schultüten. Und wir erraten es: heute ist Einschultag in Sachsen Anhalt. Wir begeben uns auf den geräumigen Marktplatz, unter Bäumen finden wir Schatten und eine Bank. Gerne würden wir etwas Informationsmaterial sammeln, aber das Touristenbüro hat heute geschlossen, wie eine Kioskfrau mitteilt. Eines ist klar, wir fahren den R1 einmal später in Ruhe, dann nehmen wir das alles wahr, was wir jetzt nicht schaffen - wir wollen noch nach Polen. Bei der Hitze heute ist mir unklar, ob wir das jemals schaffen.
Bei der Weiterfahrt genießen wir wieder den Gegenwind, wir erreichen den Ort Latdorf. Dort mäht ein Mann geräuschvoll den Rasen am Dorfanger, als wir anhalten, stellt er sofort den Motor ab. Bisher und weiterhin - muß ich jetzt einfügen - sind die Leute so freundlich, daß man nur beim Fragen nach dem Weg immer kaum aus dem Gespräch herauskommt. Der Mann erklärt uns, wie wir am besten weiterfahren, leider habe man die schattenspendenden Pappeln entlang des Weges inzwischen gefällt und Schlaglöcher gebe es auch. Trotzdem finden wir eine wunderschöne Strecke vor, um die Schlaglöcher kurven wir herum und Schatten spenden ab und zu Hecken und Obstbäume.
Wir kommen in dem Ort Drosa an, wo eine Bank unter einer Linde - oder war es eine Eiche? - uns einläd. Nun gibt es hier ein 5000 Jahre altes Hünengrab, auf dem Weg dorthin merken wir aber, das uns das aus der vorgesehenen Richtung abbringt, und wir verzichten auf die Sensation, wie so manches Mal. Mit unserer neugewonnenen Freiheit fahren wir die Stadt Aken an der Elbe an. Schnurgeradeaus gegen den Wind, dann auf der Bundesstraße, die ist recht holperig. Aber wir kommen an, der Torturm, den ich im letzten Jahr auf meiner Fahrt nach Dresden schon bewundert und fotografiert habe.
Aken: Torturm |
Kirche |
Elbfähre |
Nachdem die paar Autos auf der Fähre und auch unser Hilfsmotorfahrer abgedampft sind, fahren wir in völliger Ruhe durch den Auwald der Elbe. "Ist das schön!" sagt Heidi. "Meine Landschaft!" sagt sie. In Steutz schieben wir aber dann wieder - und das an der Elbe. Zwei Radfahrer kommen entgegen und rufen uns zu: "Fahren muß man!" Aber müssen muß man gar nichts. Wenig später überholen wir sogar eine Gruppe von Radfahrern, die noch gemächlicher dahinrollen. Und gemeinsam biegen wir im nächsten Ort rechts ab, denn da geht es zu den "Elbterrassen". Großer Bahnhof daselbst, viele Autos, Schultüten auf den Rücksitzen. Gekleidet ist man wie zu einer Hochzeitsfeier. Auf der Sitzterrasse über der Elbe bestellen wir gleich eine Soljanka und zwei Spezis. Unten gleitet ein Lastkahn vorbei, auf der Wiese meckern Ziegen.
Elbufer |
Burg in Rosslau |
Wir richten uns ein und machen uns dann gleich auf den Weg zum Essen. Dazu gehen wir die paar Häuser zum "Bräu Stübl" zurück, wo wir vorzüglich bewirtet werden. Wir bedanken uns nochmal für den Tip mit dem Quartier. Ja, wir hätten einen harten Tag hinter uns, mit dem Gegenwind, die Wirtin bestätigt das, sie hätte auch jedesmal "fliegende Teppiche" gehabt, wenn es Durchzug gegeben hätte. Auch über den Einschultag in Sachsen- Anhalt erfahren wir noch ein wenig. Das wird gefeiert wie eine Taufe oder Konfirmation, 60 Personen zu Mittag mit allen Schikanen, 10 Kalte Platten habe man heute schon ausgeliefert, weitere werden gestapelt und rausgetragen. Und zwei Familien werden noch erwartet.
Wir begeben uns - gut gesättigt - auf einen Rundgang durch das anfangs geschmähte Rosslau. Wenn es auch auf den ersten Blick nichts Bemerkenswertes zu sehen gibt, so täuscht das. Wir machen es einem lieben Freund aus Ulm nach, der ist Architekt. Der pflegt vor jedem Haus einer unbekannten Stadt stehen zu bleiben, dieses genau zu betrachten und über Vorgeschichte, Substanz und evtl. vorhandene Eigentümlichkeiten zu philosophieren. So machen wir das auch. Als erstes fallen uns die Haustüren auf, mal gut mal schlechter erhalten, aber sie zeugen von handwerklichem Geschick, als die Haustür noch die Visitenkarte eines Hauses war. Die Bauweise der Häuser läßt weitere Schlüsse zu, Heidi tipt meistens auf Jugendstil, 1906-08.
Dann stoßen wir auf den Komplex der Roßlauer Feuerwehr. Das ist ein hochmoderner Neubau, und im dazugehörigen Fahrhof kann man die Spezialfahrzeuge gar nicht zählen, die hinter verglasten Toren auf ihren Einsatz warten. Auf dem Balkon des Gebäudes wird gegrillt, das kann man an den aufsteigenden Rauchwolken erkennen.
Wir zerbrechen uns den Kopf, was dahinter stecken mag. Nachdem wir alle entscheidenden Haustüren und Hausfassaden studiert haben, finden wir uns wieder in unserem Quartier ein. Wir werden persönlich begrüßt - na, dann können wir ja auch noch ein Bier trinken. Das werden mehrere. Nebenan wirft ein Dart-Club seine Pfeile auf kleine runde Scheiben. Als man bemerkt, daß da an der Theke zwei komische Vögel sitzen, als die wir uns vorkommen, wird das mit dem Pfeilewerfen nach und nach aufgegeben und dann sitzen wir in einer Runde mit so 10 Leuten vis a vis. Erstes Thema: das hier ausgeschenkte Bier. "Dessauer Bier", das kommt direkt aus München, erfahren wir. In Dessau hat die Brauerei Paulaner Bräu, München alles Brauereigelände aufgekauft, abgewickelt und wieder aufgewickelt, indem die schönsten Industriestandorte "Filetstücke", wie es heißt, mit Millionengewinnen wieder veräußert wurden. Und dann die Geschichte mit der Feuerwehr. Da hatte man plötzlich 15 Millionen an der Hand, ein anderer Verwendungszweck war finanztechnisch nicht möglich, und so ist man zu der am besten ausgerüsteten Feuerwehr in Sachsen-Anhalt gekommen. Und es ist nicht mal eine Berufs- sondern eine Freiwillige Feuerwehr.
So vergeht der Abend an der Theke mit Diskussionen und den eigentlich längst überholten, aber immer wiederkehrenden Wendungen: "bei uns" und "bei euch". "Treuhand" kommt auch vor.