Oder-Neisse-Radweg

15.7. - 20.7.2001

Versprochen ist versprochen

Bei meiner letzten Radtour im vergangenen Jahr, die mit der Etappe Zittau - Görlitz endete, habe ich mir selber versprochen, noch einmal wieder zu kommen, um ein Foto vom Kloster Marienthal zu machen. Heidi habe ich eine Radtour ohne Berge versprochen. Und Terje - meinem norwegischen Internetfreund - habe ich versprochen... - aber da muss ich weiter ausholen.

Mit Terje Melheim verbindet mich seit einigen Jahren eine sehr produktive E-Mail-Beziehung, die im wesentlichen auf den Austausch von Erfahrungen unserer Radtouren aufbaut. Die letzte Nachricht von Terje war z.B. ein Bericht über die Einweihung der North-Sea-Cycle Route auf der Insel Stord in Norwegen. Die Melheims (Terje + Turid) planen in diesem Jahr eine Tour im Osten Deutschlands, was mich zu der Bemerkung veranlasst hat, dass man sich dann womöglich mal unverhofft auf einer Radroute gegenüber stehen könnte. Antwort von Terje: ...vielen Dank für die erfreuliche Nachicht, dass wir uns auf dem Oder-Neisse-Radweg treffen können.... Am 15. (Juli) fahren wir an der Neisse bis Zittau entlang...

So einfach wird uns diesmal kurzerhand die Entscheidung über den Urlaubszeitpunkt abgenommen! Man könnte nun mit dem Wochenendticket der Deutschen Bahn für nur DM 40.- am Samstag nach Zittau anreisen. Leider mit mindestens dreimal umsteigen. Da man seiner Ehefrau für eine Radtour am besten einen Teppich voraus rollt, lasse ich lieber ein paar Märker mehr springen und spendiere eine "normale" Fahrkarte (Bahncard), mit der man auch den IC benutzen kann und nur einmal in Dresden umsteigen muss.

Soweit so gut. Die Fahrradplätze sind reserviert und es kann los gehen. Diesmal ist es nicht die Schuld der Deutschen Bahn, dass es schon in Braunschweig beim Start turbulent zu geht. Ein Trupp fideler Herren, die den Elbe Radweg fahren wollen, steigt in den falschen (unseren) Waggon ein, wo beim wie immer hektischen Einladen das Fahrradabteil bald von ineinander verkeilten Radgestängen überquillt. Währenddessen schreit sich draußen die Schaffnerin bald die Kehle aus dem Hals: "Wagen zwei ist hier!!"". Keiner hört drauf, und erst als der Zug anfährt, wird den Herren klar, dass da was nicht stimmt. Nun wird ein Rad nach dem anderen durch mehrere Wagengänge gewuchtet, bis sich die Lage ein wenig entspannt hat. Da sind wir fast schon in Magdeburg.

In Dresden steigen wir um. Die Bahnstrecke nach Zittau führt zum Teil an der Spree entlang, wo wir vor ein paar Jahren auch schon einmal entlang geradelt sind. Hinter Putzkau steht der erste Storch auf der Wiese. Das war sicher nicht der letzte auf dieser Tour. Die letzten Orte vor Zittau heißen Oberoderwitz und Niederoderwitz. Und schont summt es einem im Ohr: Heut kommt der Hans zu mir, freut sich die Lies... Das war allerdings irgendwie was mit Ammergau.

Nun sind wir also augenreibend in Zittau und halten vergeblich nach der Zittauer Schmalspurbahn Ausschau, die fährt wohl gerade eben nicht. Aber rund um den Bahnhof ist eine einzige Baustelle. Dann rollen wir hinunter zum Hotel Dreiländereck, wo wir vorgebucht haben. Das Hotel kenne ich von der letzten Tour und es bestätigt sich wieder in jeder Beziehung, dass dieses Haus eines der besten ist, die man so unterwegs antrifft.

Wir machen einen kleinen Rundgang, hauptsächlich um die Gaststätte für das Abendessen aus zu gucken, aber auch um einen Blick auf die Kassettendecke der von Schinkel entworfenen Johanniskirche zu werfen. Doch noch vor 17 Uhr schnell zurück zum Hotel, um den Zieleinlauf bei der Tour de France mit zu bekommen, wo Jan Ulrich nach besten Kräften hinter Lance Armstrong her hechelt.

Wir landen dann im Klosterstübl bei Spanferkel und Sachsenbräu. Das Handy liegt entsichert in der Lenkertasche, die ich statt Handtäschchen immer mit führe. Ein abendlicher Telefonanruf war zwar vereinbart worden, trotzdem schrecke ich zusammen, als es in der Lenkertasche vernehmlich quiekt. Das kommt sonst nie vor, weil das Handy immer ausgeschaltet ist. Und das schon seit letzten Weihnachten, wo die Kinder es sich nehmen ließen, mir so ein Utensiel anzudrehen... na ja! So nun quiekt es, und wo muss ich jetzt drücken? Ach da, und was nun? Ach so, ans Ohr halten:

"Hallo!" -
"Hallo, hier ist Terje Melheim. Wir sind schon über Nacht im Kloster Marienthal." -
"Und wir sitzen gerade in Zittau".

Damit lassen sich die nötigen Absprachen für den nächsten Tag vornehmen. Heidi lacht sich währenddessen über meine Aufregung mit dem Handy kaputt. Terje hatte auch schon eine "Message" aufgesprochen, aber die kann ich nicht abrufen, da muss man erst eine "Mailbox" einrichten lassen oder sowas.

Als wir fertig gespeist haben und das zweite Bier nur mit Mühe seinen Weg gefunden hat, kann man sagen: der Urlaub hat begonnen. Um das Spanferkel etwas sacken zu lassen, wandeln wir noch ein wenig herum. Wir bestaunen die riesigen vorbildlich restaurierten Gebäudekomplexe des Realgymnasiums Johanneum. Ob die so viele Schüler haben? Zwischen ein paar Büschen steht der versteinerte Rest eines Mammutbaumes aus dem Tertiär oder so. Dann gibt es da noch ein altes Badehaus von 1873, das wäre sicher interessant, wie es da drinnen aussieht. Ansonsten sind es die stillen Ecken und manchmal schaurig romantischen Details, die den Reiz dieser noch nicht einheitlich glattgebügelten Städte im Osten ausmachen.

Das Internet-Rendezvous

Nun beginnt die Tour, und das gleich mit dem Treffen, auf das wir ganz gespannt sind. Es ist ja immer etwas aufregend, wenn man sich mit Menschen verabredet hat, die man noch nicht von Angesicht kennt. Wir wollen uns auf der Strecke zwischen Marienthal und Zittau begegnen, wo genau ist offen.

Beim Losfahren vor dem Hotel kommen wir noch mit ein paar Wanderern aus der Schweiz ins Gespräch, die wollen zu Fuß nach Dresden und brauchen dafür eine Woche. Wir fahren lieber mit dem Rad, da ist man doch viel mobiler. Gleich nach dem Start vertun wir uns unten an dem Flüsschen namens Mandau gleich etwas mit der Uferseite. Wir lassen den Grenzübergang an der Neisse rechts liegen und fahren durch einen Sportpark.
Danach folgt ein weniger schön zu fahrendes Stück über die Bundesstraße B 96, voraus die Schlote des polnischen Kraftwerkes bei dem Ort mit dem einfachen Namen Trzcieniec. In Hirschfelde kann ich Heidi die ersten Umgebindehäuser zeigen. Da kommt ein Radfahrer mit Gepäck entgegen. "Hallo, bist du Terje?" fragen wir. "Nu, ich bin von Görlitz" sagt er aber. Er wolle nach Bayern, sagt er weiter. 

Endlich kann man die Bundesstraße verlassen und rollt nun im Wald direkt am Ufer der Neisse dahin. Jeder entgegenkommende Radfahrer wird genauestens inspiziert, aber die haben alle kein Gepäck dabei. Wir nähern uns bereits bedrohlich dem Kloster Marienthal und machen uns schon auf einen Empfang in der Klosterschänke gefasst. Hinter einer Kurve stoßen wir unvermittelt auf eine Bank, wo im Halbschatten ein Radlerpaar es sich gemütlich gemacht und allerlei Utensilien zum Freiluftdinieren um sich gebreitet hat. "Ihr seid die Melheims" sagen wir. "Ja, ja, und ihr die Martin Wittrams" sagen die. Herzliche Begrüßung. "Hier gibt es nun gerade kein Bier" sagt Terje. Das ist am frühen Morgen eigentlich auch weniger schlimm. "Aber der Platz ist strategisch so günstig" sagt Turid. Nun wird erst mal fotografiert. Dann ein Blick auf die Karten, wo kommt ihr her und wie fahrt ihr weiter? So sind wir sofort in das angeregteste Gespräch vertieft, als ob wir uns schon lange kennen würden, was ja eigentlich auch stimmt.

Zur Verständigung ist zu sagen, dass Terje Deutsch studiert hat und heute Deutsch unterrichtet, die Sprache daher perfekt beherrscht, was man auch an seinen Reiseberichten bewundern kann. Auch Turid spricht sehr gut und so gibt es keine Probleme. Eine Stunde vergeht wie im Fluge. Schließlich verabschieden wir uns mit Umarmungen, Terje fotografiert uns bei der Abfahrt, und dann verschwinden wir um die Ecke. Heidi und ich schauen uns an: "Das war ja toll!". Wie bei den Melheims die Tour verlief, kann man hier nachlesen.

Noch ganz im Eindruck dieser Begegnung erreichen wir Kloster Marienthal. Das Kloster kann leider nur genau gegen die Sonne fotografiert werden, auf der Rückseite ist es wenig fotogen. Wir lassen uns in einem Biergarten nieder, das wird billig, weil sich keine Bedienung blicken lässt. 

Wir geraten nun nach Ostritz, ein Ort der überregional durch ein Expo-Ökologieprojekt bekannt ist. Wir gucken uns den Marktplatz mit dem grün angestrichenen Rathaus an und finden uns wenig später mit schlafwandlerischer Sicherheit an der Neissebrücke und dem Grenzübergang nach Polen wieder. Aber da wollten wir eigentlich nicht hin! Aber wir finden den richtigen Weg auch bald wieder. Wenig später rollen wir an einem Badeteich mit nackerten Menschen entlang und angesichts der Schlote des abgewickelten Kraftwerks Hagenwerder erinnere ich mich an den Baumstubben aus der Eiszeit, der im vergangenen Jahr an einer Kieskuhle zu sehen war. Tatsächlich, er ist noch da. Draußen am Bagger liegt ein weiterer fossiler Baumstamm, sicher auch aus der Eiszeit.

Nun fahren wir auf dieser eigenartigen Einrichtung dahin, wo man Neisse- und Tagebauwässer voneinander getrennt hält. Auf einer Hinweistafel ist alles Wissenswerte vermerkt. Weiter geht es auf ein paar Hinterstraßen und durch Gartengelände, dann hat man schon mit einem großen Park und vielen Teichen Görlitz erreicht. Die große Eisenbahnbrücke mit den vielen Bogen bietet sich heute als Fotoobjekt an. An der Neisse findet sich ein wunderschönes Plätzchen, da mache ich gleich drei Aufnahmen auf einmal (Panorama).

Und schon wieder stehen wir an einem Grenzübergang. Da kommen die Deutschen mit vollbeladenen Autos aus Polen zurück, andererseits aber auch die Polen mit vollen Plastiktüten aus Deutschland. Wo kann man denn nun günstiger einkaufen? Das lässt sich zunächst nicht klären, stattdessen versuchen uns einige Matkas wort- und gestenreich den Weg zu erklären, obwohl wir ihnen gar nicht gesagt haben, wohin wir wollen. Wir wollen zum Obermarkt zur Touristeninformation, aber die hat uns gerade vor der Nase zu gemacht. Und es gibt heute am Sonntag auch keine Stadtführung mehr. Das Quartier ist allerdings wieder vorgebucht: "Goldener Engel" wie im letzten Jahr.

Man darf raten, wie das Nachmittagsprogramm verläuft - richtig: Stadtbummel, Tour de France gucken, Abendessen. Der Stadtbummel führt zuerst hinauf zur Stadtkirche St. Peter und Paul. Deren Stolz ist eine gerade für teures Geld neu erbaute, die vormals elektro pneumatische und später unbrauchbare "Sonnenorgel" ersetzend. Heidi fängt schon wieder an zu politisieren, ob man das Geld nicht sinnvoller anlegen könnte - aber diskutieren wir das besser nicht weiter. An einer Hausecke hat man eine Wand errichtet, wo Fachwerk- und Dachdeckertechniken demonstriert werden. Gegenüber liegt das polnische Görlitz, und das heißt dann flott von der Zunge Zgorzelec. Zur Versinnbildlichung der Trennung hat man ein eigenartiges "Kunstwerk" errichtet. Zum Glück steht etwas im Internet, sonst wüsste ich nichts mehr, weil ich nichts aufgeschrieben habe. Also: das ganze soll einen Brückenschlag über die Neisse symbolisieren, heißt "Abwägende Beobachter" und stammt von dem italienischen Künstler Giuliani Mauri. Von nahem sieht es aus wie überdimensionale Fischreusen.

Nun, das war ja schon mal interessant. Berühmt ist nun auch der Flüsterbogen am unteren Markt, dem wir uns vorsichtig nähern. Da flüstern schon welche. Ein anderer fotografiert die Flüsternden. Ein Herr, der sicher nicht aus Görlitz stammt, geht vorbei und sagt "Ja ja, Flüstelboge". Leider kann ich meine liebe Frau nicht zu einem Flüsterexperiment überreden: "Ich mache mich doch hier nicht zum Horst". 

Damit wollen wir es mit der Beschreibung des historischen Görlitz bewenden lassen, sonst hätte man viel zu tun. Schließlich ist die Innenstadt von Görlitz Welt-Europa-Kultur-Erbe oder sowas und Heidi ist sichtlich beeindruckt und das will was heißen. Aber ein Blick in das Karstadt-Warenhaus sei noch gestattet, da gibt es noch erhaltene Jugendstilgalerien, die man durch die verschlossenen Türen schlecht, auf den Postkarten dagegen leidlich erkennen kann. Die eigentliche Geschäftszeile zieht sich zum Bahnhof hoch. Eine nagelneue Einkaufspassage repräsentiert bereits das sterile Flair einer amerikanisierten Welt (MacDonaldisierung). Dagegen verursacht einem der Anblick eines leerstehenden dahin rottenden Hotels gleich schräg gegenüber fast eine Gänsehaut. Das sieht aus wie vor dem Krieg, die Vorhänge hängen noch - ob die auch von damals sind? Ähnlich sieht es bei dem ehemaligen Hotel Monopol aus, wovon ich sogar ein Foto habe. Die Görlitzer mögen mir verzeihen, aber ich liebe diese Relikte, die es irgendwann auch nicht mehr geben wird.

Das Abendessen nehmen wir in bewährter Manier mit Eibauer, Landskron, Bratwurst und Feuerfleisch im Freien vor dem Schwibbogen ein. Leider wird es kein linder Sommerabend, denn als eine verselbstständigte Coladose laut klackernd den halben Obermarkt vor dem Wind überquert und die Wirte die Sonnenschirme bergen, müssen auch wir unsere Freiluftsitzung beenden.

Nieseltag

Wir werden wieder einmal erleben, dass Höhen und Tiefen beim Radfahren sehr nah beieinander liegen. Da wir bei Nieselregen starten, ist die Stimmung gedrückt und wir sind wenig gesprächig. Dummerweise legen wir das Regenzeug nicht rechtzeitig an, auch Nieselregen macht nass, wie man nach einiger Zeit feststellen kann. Der offizielle Radweg über Klingewalde weist einen Steigungspfeil auf und biegt an der Autobahn wieder auf die Landstraße ein, da bleiben wir gleich auf der Landstraße. Heute können wir die Bushäuschen zum Rasten gut brauchen.

Irgendwann kommen wir an einem "Kunstpark" oder so vorbei, von dem uns die Melheims erzählt haben. Da hat man aus Holz und anderem natürlichen Material allerlei Kunstwerke zusammen gezimmert. Das können wir heute durch die herabrinnenden Regentropfen im Gesicht nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Immerhin darf ich von einem an einen Pfahl genagelten Paar Schuhe am Strassenrand berichten - alles Kunst!

So geht es weiter bis zu dem Ort Rothenburg, wo die Ortsdurchfahrt wegen einer Baustelle gesperrt ist. Vielleicht hätte man doch versuchen sollen, da durch zu kommen, denn die Umleitung führt über Orte mit Namen wie Dunkelhäuser, Neusorge, Spreeaufwurf oder Ungünst. Erst ist die Straße geteert, dann wird es Schotter, dann Sand und dann eine gelegentliche Seenplatte. Alles entlang an dem Truppenübungsgelände Muskauer Heide: "Betreten verboten, Lebensgefahr, Blindgänger". Es lebe der Weltfrieden! Die Orientierung nach der Karte habe ich längst verloren. Erst in Steinbach erreicht man wieder eine reguläre Straße. Wir fahren der wieder einsetzenden Beschilderung nach. Und nicht zu glauben, was jetzt passiert. Man fährt wie zum Pilzesuchen im Zickzack durch den Wald, bald stellen sich die Räder im Sand quer - so geht das einfach nicht. Wir müssen umkehren. Unsere derzeitige Stimmung brauche ich wohl nicht zu schildern.

Als wir die Straße wieder erreichen, jubiliert Heidi auf einmal. "Da sind lauter Schwarzstörche". So an die zwanzig. Nur sind sie nicht schwarz, eher grau. Aber Graureiher sind es auch nicht. Wir einigen uns auf Kraniche, zumal sie so eine kleine Haube auf dem Kopf haben. Außerdem sind wir kurz zuvor an einer Straußenzucht vorbei gefahren - wie Heidi vermeldet -, das habe ich allerdings übersehen, weil ich wohl gerade wieder in die Karte geschaut habe. Nun ist die Stimmung etwas besser, aber nicht lange.

Wir fahren auf der Landstraße, die ist zwar nicht stark befahren, aber die Leute haben es wohl alle sehr eilig. Heidi ruft noch: "Fahr nicht so weit in der Mitte". Ich weiß allerdings, dass die politbewussten Radfahrer durchaus das Fahren nicht ganz am Rand propagieren. Da quietscht es auch schon hinter uns, jemand macht eine Vollbremsung. Anscheinend erfolgreich, denn wir bleiben am Leben. Kaum hat das Fahrzeug uns unter Protestbekundungen überholt, quietscht es schon wieder, Vollbremsung in der Gegenrichtung. Da ist einer zu langsam gefahren. Es ist nichts weiter passiert, aber man hat mental einigermaßen zu tun, solche Vorkommnisse wieder zu verdrängen. 

Laut Karte wird die autofreie Strecke ab dem Ort Pechern wieder besser. Nun bietet sich auch in Pechern mit der Fachwerkkirche das erste Fotomotiv des heutigen Tages an. Der Rest des Weges bis Bad Muskau ist nun schön auf dem Deich der Neisse oder auf Feldwegen zu fahren. Eine ausgediente Eisenbahnbrücke ist sorgfältig gegen illegale Grenzübertritte durch ein Drahtverhau geschützt.

In Bad Muskau ist ein Grenzübergang, entsprechend stark ist der Verkehr. Eine Baustelle sorgt für noch mehr Konfusion. Wir finden einen Herrn, der mit dem Fahrrad ein Stück Richtung Touristen-Info mit fährt. Ab jetzt haben wir nicht mehr vorgebucht und lassen uns vor Ort überraschen. Die Überraschung in Bad Muskau besteht darin, dass der Ort einen überaus enttäuschenden Eindruck macht. Im Verkehrsbüro versichert man mir, dass man nicht befugt sei, ein Quartier zu empfehlen. Nachdem ich ein wenig von ruhige Lage und fix und fertig gemurmelt habe, schlägt man uns aber doch das Moorbad um die Ecke mitten im Fürst Pückler Park vor. Ein Telefonanruf regelt alles weitere.

Da kommt Heidi herein gestürmt: "Lass uns weiter fahren, hier bleibe ich nicht, lauter Glatzen..." Die Dame im Touristenbüro ist ganz betroffen. "Das sind die Leute, die über die Grenze zum Einkaufen fahren" sagt sie. Außerdem haben wir das Quartier schon, und da kommen keine Glatzen hin. Mit Mühe und Not kann ich Heidi in den Fürst Pückler Park zerren, wo das ehemalige Herrenhaus auf uns wartet. Da werden mir erst mal einige Zimmer gezeigt, die dem mittlerweile gewohnten Komfort nicht so ganz entsprechen (bei gleichem Preis wohlbemerkt). "Wollen sie das Appartement sehen?" fragt die Dame noch. "Da ist WC , Dusche und Fernseher dabei." Als ich nach dem Preis frage muss ich schlucken, aber angesichts der angespannten Lagemuss man auch mal tiefer in die Tasche greifen. Hier zahlt man nicht für Komfort oder Service a la Holiday Inn, sondern für Tradition, da können auch schon mal die Dielen knarren.

Das "Moorbad" erweist sich als eine Mischung zwischen Kureinrichtung, Altersheim und Hotel. Immerhin ist es umgeben von dem ausgedehnten Landschaftspark mit den alten Bäumen aus Fürst Pücklers Zeiten. Sicher braucht man eine ganze Weile, bis man da alles gesehen hat. Gegenüber ist das Neue, ein wenig weiter das Alte Schloss. Da wird gehämmert und gezimmert und in der Nacht hört man dann auch dann und wann ein paar Steinchen aus den Gemäuern herabfallen.

Zum Essen landen wir beim Chinesen "Hau Hau", viel was anderes an Restaurants findet sich gar nicht. Mit Chop-Suey, Szechuan und Patzenhofer lassen wir ein paar Lebensgeister zurück kehren.

Der große Regen

Mit ein paar älteren Damen am Nebentisch nehmen wir das Frühstück ein. Bei den Damen geht es hauptsächlich um Hausrezepte. Ein Herr, der sich als Geschäftsführer vorstellt, schaut nach dem Rechten. Während die älteren Damen sich zum Patiencelegen verändern, brechen wir auf. Kurz bei der Orangerie und dem Tropenhaus vorbeigeschaut. Kaum sind wir über eine steile Rampe aus dem Park raus, fängt es an zu regnen, aber richtig. Gleich bei den ersten Tropfen legen wir die Capes an, man ist ja nicht von gestern. Wir treffen auf ein anderes Radlerpaar, auch die sehen aus wie die Außerirdischen.

Komischerweise schlägt es uns heute nicht aufs Gemüt. Vielleicht liegt es an einem Gedanken, den ich auch meiner lieben Frau nicht vorenthalte. Solange ich es kann, fahre ich lieber bei Regen durch die Gegend, als mich wie die alten Damen vom Frühstück zum Patiencelegen zu begeben - und das Tag für Tag. Es ist aber schade um die Landschaft, die wir bei diesem Wetter nicht so recht genießen können. Dieses Teilstück ist wunderschön, Wiesen und Wälder wechseln sich ab, die Strecke ist optimal asphaltiert und verkehrsfrei. Ab und zu kann man sich in einem Rasthäuschen ein wenig abtropfen lassen. Zwei Orte mit putzigem Namen, wo es für uns aber nicht viel zu sehen gibt: Klein und Groß Bademeusel.

Wir erreichen die Stadt Forst, wo es einen Ostdeutschen Rosengarten gibt. Wie die Rosen bei dem Regen wohl aussehen? In Forst wäre eine längere Aufwärmrast angesagt gewesen, aber bevor wir uns entschließen, in die Innenstadt abzubiegen, stellen wir fest, dass wir längst an Forst vorbei gefahren sind. Ist jetzt auch egal - und der Regen hält an. Nun muss aber etwas passieren. Der Dammweg ist zwar schön aber außer Natur steht da erst mal nichts auf dem Programm. Wir biegen vom Radweg ab in der Hoffnung, in einem Dorf irgend eine Kneipe zu finden. Schon im zweiten werden wir fündig: die Bauernstube in Naundorf. Jetzt was essen und trinken, etwas trockenes anziehen und aus dem Fenster schauen, ob es immer noch regnet. Als wir uns an die Weiterfahrt machen, hat der Regen tatsächlich aufgehört. Der Wirt hat uns übrigens einiges über das Radfahren in der Gegend erzählt, u.a. etwas über das Schlaubetal, das bei Radfahrern sehr beliebt sein soll.

Jetzt wird das Radfahren richtig schön und es bietet sich auch ein nettes Fotomotiv, wie die Neisse sich durch die Wiesen schlängelt. Gleich gegenüber in westlicher Richtung erstrecken sich kilometerweit die Abbaugebiete der Braunkohle. Ein Ort auf einem Berg, der heisst Horno, der wird schon von allen Seiten angenagt. Inzwischen fahren wir komfortabel auf der Trasse einer stillgelegten Eisenbahn dahin. Man passiert das Wasserkraftwerk bei Griessen. Dann fährt man auf ewas zu, das sieht von weitem aus wie ein Kirchturm, wenn man aber näher kommt, handelt es sich um die Spitze eines Vorratssilos. Wenig später machen wir Rast in Schlagsdorf, wo auch die Reste von Brückenpfeilern zu sehen sind. An einem Tischbein des Rastplatzes krabbeln Unmengen von roten Käfern.

Schliesslich erreichen wir Guben, wo für heute Schluss sein soll. Da wir ohnehin wieder einmal an einem Grenzübergang rauskommen, ergreifen wir kurzentschlossen die Gelegenheit - mal eben "Zigaretten holen". Das geht ruck zuck, nach 20 Minuten ist man nach viermaliger Pass- und Gesichtskontrolle wieder zurück.

Die Quartiersuche gestaltet sich wieder problemlos über die Touristen-Information, wir landen in der Pension zur Neisse. Nachdem wir uns durch die zahlreichen künstlichen Blumen in diesem Etablissement durchgekämpft haben, finden wir auch Gelegenheit, einige Absonderlichekeiten der Stadt Guben zu studieren. Wir befinden uns in der Alten Poststrasse, und da sind noch die Relikte der ehemaligen Textilindustrie zu bestaunen. Das sind mächtig aufragende Fabrikgebäude, wie geduckt rotten dazwischen ein paar ehemalige Fabrikantenvillen dahin.  Es ist die Frage, wer das Geld aufbringen will, um diese reich verzierten Fassaden zu restaurieren. Die zweite Frage ist immer, was macht man dann mit so einem Haus. Früher war es ja wohl so, dass der Fabrikant, wenn er auf den Balkon trat und umher schaute, sagen konnte "Alles meins!"

Damit man auch weiss, was in Guben hergestellt wurde, noch ein abgeschriebener Spruch:

"Gubener Tuche, Gubener Hüte - weltbekannt für ihre Güte."

Der Hausherr in unserer Pension erzählt dann später, dass nach der Wende auch hier dunkle Machenschaften herrschten, die Subventionen abgeschöpft wurden und die Industrie schliesslich ruiniert danieder lag. Dennoch sind eine ganze Menge klassizistische oder Jugendstil-Hausfassaden wieder sorgsam restauriert.

Zum Abendessen landen wir im Restaurant Stadt-Cafe (bei Karin), wo wir bestens bedient werden.
 

Von der Neisse an die Oder

Aus Guben raus geht es zunächst etwas langweilig auf der Strasse dahin, bis man bei der Badeanlage von Bresinchen das erste Mal verschnaufen kann. Nun ist man schnell in Ratzdorf einem viel genannten Ort, wenn die Oder Hochwasser führt. Und hier mündet die Neisse dann in die Oder. Von einem Rastplatz kann man die Einmündung von weitem sehen. An diesem schönen Ort hat es sich ein weiteres Radlerpärchen gemütlich gemacht, die haben sogar ein Radio an dem Lenker eines Rades montiert. Das wird dann auch sogleich abgedreht, um die Ruhe an diesem besinnlichen Ort nicht zu stören. Als sie aufbrechen, legt die Frau eine Sitzdecke so über den Sattel, dass ein Sofa-artiges Gebilde entsteht. So kann man es auch machen.

Die Strecke führt weiter am Deichfuss entlang, wenn man einen Blick auf die Oder werfen will, muss man eine der Auffahrtsrampen auf den Deich benutzen. Zur Linken erkennt man das Kloster Neuzell, über das mancher einen Abstecher machen mag. Dann erreicht man Eisenhüttenstadt, ein Ort dessen Namen auf verschärftes Industrie-Flair schliessen lässt. Doch der Ortskern ist erstaunlich malerisch. Die Ansicht der Kirche ziert sogar das Titelbild der bikeline-Broschüre zum Oder-Neisse-Radweg. Man überquert hier auf einer hohen Brücke den Oder-Spree-Kanal.

Nun geht es immer geradeaus am Deich entlang. Der Fahrweg ist gerade erst fertig gestellt, vermutlich war das ganze vor den Deicherneuerungen nach der Flut 1997 noch ein Betonplattenweg und nicht so gut zu fahren. Landeinwärts vom Deich erstrecken sich Auwälder, die allerdings trocken gefallen sind. Vielleicht hat man auch Einrichtungen geschaffen, die früheren Überschwemmungsgebiete bei Hochwasser zu fluten, zu sehen ist nichts davon.

Wir kommen an einem stillgelegten Kraftwerk vorbei und rasten dann an einem idyllischen Plätzchen bei Aurith, wo man am gegenüberliegenden Ufer einem Polen beim Angeln zusehen kann. Die schöne Strecke am Deich entlang endet in dem Ort mit dem schönen Namen Brieskow-Finkenherd. Hier ist aber eine grosse Baustelle, ausserdem muss man von hier ein paar Kilometer auf der stark befahrenen B 112 fahren, das nervt. Nach 3 km hat der Spuk ein Ende und man kann sich in Lossow zu Füssen der maroden Kirche niederlassen - erinnert ein wenig an Eldena, Greifswald. Es folgt nun noch eine "rasante Abfahrt" wie es im bike-Führer heisst. Es handelt sich dabei um den Abschluss der Lossower Berge, und ab dann geht es schnurstracks nach Frankfurt/Oder.

In der Karl-Marx-Strasse findet sich das Touristenbüro, wir werden gleich an das Hotel Gallus vermittelt. Wir müssen dorthin zwar noch ein ganzes Stück bergauf stiefeln (so irgendwo hinterm Bahnhof), doch wir finden eine ganz toll restaurierte Jugendstilvilla vor. Marmor, Stuck und so. Die Fenster sind schallisoliert und das ist auch nötig. Der Hotelangestellte ist sehr mitteilungsfreudig. Als wir uns über das Teilstück auf der Bundesstrasse beklagen, hat er sofort einen Vorschlag parat, wie wir morgen eine ähnliche Partie vermeiden können. Das geht dann irgendwie durch die Schwemmwiesen der Oder, ist nicht ausgeschildert und auf keiner Karte eingezeichnet.

Dann gibt es noch einen weiteren Tip: Die Innenstadt von Frankfurt sei ja fad, alles neu und so. Nicht weit von hier gebe es aber das Viertel Altberesinchen, da herrsche noch so eine etwas romantischere Atmosphäre. Mit "Das beste ist die erste Dusche und das zweite Bier" werden wir in unserem verschwitzten Zustand in unser Zimmer entlassen. Frisch gemacht machen wir uns auf nach Altberesinchen. Entweder finden wir es nicht oder laufen die falschen Strassen oder sind zu wenig aufnahmefähig: etwas besonderes finden wir nicht, auch kein geeignetes Restaurant. Also doch in die Innenstadt, einmal durch die Lenné Passagen, da gibt es auch ein Aldi, und dort ist es billiger als in der Mini Bar. Ausserdem suche ich noch eine Karte, um nicht im Oderbruch verloren zu gehen. Die gibt es direkt bei der Info für DM 5.-

Und jetzt gehn wir zum Griechen (Olympia) an der Marienkirche und setzen uns unter einen Sonnenschirm. Dass am Nebentisch einer gleichzeitig raucht und isst soll uns mal nicht so stören.


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