21.10 - 1.11.2004, 933 km
Album 1
Panorama Album
"Kannst du nicht in diesem Jahr noch irgend eine Radtour machen?" werde ich gefragt. Das liegt daran, dass Heidi mit Enkel Jonathan im November nach Mallorca will, und dann werden unser Hund Otto und ich einsame Strohwitwer sein. Zum Ausgleich darf es also eine Radtour sein, die habe ich schon längst im Kopf. Nach dem "Alten Europa" im Juni mit Belgien, Frankreich, Schweiz und Deutschland könnten es nun zwei Länder des "Neuen Europa" sein, die in diesem Jahr in die EU eingetreten sind. Damit ist der Plan schon fertig: von Dresden nach Prag, dann Richtung Osten durch Tschechien bis zum Riesengebirge und auf dessen Ostseite in Polen, früher Oberschlesien, zurück nach Deutschland. Vielleicht kann man sogar die sagenumwobene Schneekoppe besteigen? Rübezahl und so?
Dresden Elbflorenz Frauenkirche |
So sitze ich an einem Donnerstag im ersten Zug nach Dresden, umsteigen in Leipzig, und gegen 10.45 kann es los gehen. Strahlender Sonnenschein, die Laubfärbung ist in vollem Gange: so was nennt man dann "Goldener Oktober". Der Bahnhofsvorplatz in Dresden ist wohl eine Dauerbaustelle, da muss man sich erst durchwursteln zur Pager Straße, damit die Richtung stimmt. Dafür ist die Frauenkirche fast fertig gestellt und präsentiert sich mit ihrer hohen Kuppel in ihrer ganzen Schönheit. Ich kehre aber dem "Elbflorenz" mit seinen Besucherscharen alsbald den Rücken zu. Ich weiß noch nicht, wo heute mein Tagesziel sein wird. Auf dem "Cockpit" (Lenkertasche) habe ich zunächst eine Radwanderkarte aus einem Satz für ganz Deutschland aufgelegt, den es kürzlich bei Aldi im Angebot gab. Das sind ausgezeichnete Karten (leider ohne Höhenlinien) doch um einiges preiswerter als die offiziellen Radkarten des ADFC. Diese Karte (Blatt 19, 1:100 000) reicht bis hinter Děĉín (Tetschen).
Elbschlösser Das blaue Wunder |
Nun erwartet einen eine der wohl schönsten Radstrecken in Deutschland. Ich habe das Glück, sie zum dritten Mal zu fahren (s. Spree 1998, Saale - Erzgebirge 2000). Bei so einem farbenfrohen Wetter wie heute kann der Genuss nicht größer sein. So präsentieren sich die Elbschlösser, das blaue Wunder, Schloss Pillnitz in Festbeleuchtung.
Schloss Pillnitz Blumenbank Farben vor der Bastei |
Es geht flott voran, ich kann sogar einen Ausflugsschiff, das aussehen soll, wie ein Raddampfer - aber keiner ist, leicht abhängen. Bald hinter Pirna ist dann das berühmte Panorama der Felspartien der Bastei zu bestaunen. Da steht auch eine Bank an der richtigen Stelle, die ist meistens besetzt. Heute nicht, ich treffe keine anderen Radwanderer, leider wird das auch so bleiben.
Gegenüber von Pilna Felsgruppe der Bastei Bad Schandau |
In Königstein sollte man die Elbe per Fähre überqueren. Heute verzichte ich aus Zeitgründen darauf und fahre auf der Bundesstraße bis zu der Elbbrücke bei Bad Schandau - es ist wenig Verkehr.
Basteibrücke Ein echter Raddampfer Hrensko |
Hrensko |
Dann geht es wieder auf den Elberadweg, der bis Dĕčin (Tetschen) auf dem rechten Elbufer (aufwärts gesehen) durchgeführt sein soll. So sieht man das muntere Treiben hinter der Grenze auf der anderen Elbseite nur von weitem. Dort (Hŕensko) befinden sich die Verkaufsstände mit allerlei Krimskrams für die Schnäppchenjäger aus Deutschland. Auf dieser Seite der Elbe ist aber alles ruhig und verkehrsfrei. Dann steht man vor ein paar Eisenpfosten, das ist die grüne Grenze nach Tschechien. Alles ohne Kontrollen, und jetzt sind wir im neuen Europa.
Hrensko Die grüne Grenze |
Als die Außenbezirke von Tetschen schon in Sichtweite geraten, wird es doch noch abenteuerlich. Der Elbe-Radweg setzt sich fort als holperige Strecke mit ungewissem Ausgang. Die geteerte Fahrstraße führt dagegen eine sog. Killersteigung hinauf, das mögen 25% Steigung sein. Da kann man nur schieben, auch wenn eine Personengruppe gemütlich grillend im Hintergrund neugierig äugt und sich wundern mag, wer da mühselig den Berg hinauf schnauft. Dafür kann man danach alles wieder runter bremsen. So kommt man nach Tetschen, geprägt durch Industrie und entsprechend viel Verkehr. Auf einem Berg liegt auch irgend so was wie ein Kloster oder Schloss. In dem ganzen Gewusel verliere ich schnell die Orientierung und stelle schließlich fest, dass ich mich entlang eines Zuflusses der Elbe (Ploučnice) in Richtung Berge befinde. Also alles wieder zurück, über eine große vierspurige Rampe wie auf einer Autobahn! Ich nehme die nächste Abfahrt und finde dann auch an die Elbe - die heißt ab hier Laba - zurück. Man fährt nun auf einer wenig befahrenen Landstraße durch Ortschaften, deren Namen mehr oder weniger unaussprechlich sind (Křešice, Nebočady, Tĕchlovice, Hoštice usw.). Gegen 17.00 Uhr erreichen wir die große Stadt Ústí (Aussig). Da müsste man nun ein Quartier suchen - irgend wann wird es dann auch ja auch dunkel.
So irrt man in dieser quirligen Stadt herum, ohne zunächst ein Hotel zu erspähen. Doch da, da ist ein "Eurotel", anhalten und reinschauen. Man ist hier sehr beschäftigt, ich stehe ein paar Minuten unbeachtet herum. Schließlich dämmert es einem, das hat nichts mit Hotel zu tun, sondern mit Telefontechnik. Einer jungen Dame werden gerade die technischen Finessen eines Mobiltelefons erklärt. Ehe ich mich blamiere: "Haben sie ein Zimmer?", frage ich einen Wachmann, der mit verschränkten Armen die Szene im Griff hat, nach einem Hotel. Der aber versteht gar nichts. Also kurve ich weiter in dieser Stadt herum. Dann das Hotel Palace, ein alter Kasten aus sozialistischer Zeit. Eine Dame an der Rezeption sitzt mit der Nase auf einem Schreiben, die kann wohl nicht so gut gucken. Alles besetzt, erfahre ich dann, -Boxmeisterschaft - bis zum Wochenende alles ausgebucht. Die Dame tut mir den Gefallen, noch 4-5 andere Etablissements anzurufen, die Telefonnummern muss ich ihr diktieren, weil ihre Augen das nicht mitmachen. Keine Chance - alles besetzt - und ich stehe damit voll auf dem Schlauch.
Es bleibt nur die Weiterfahrt, obwohl es zu dämmern beginnt. Eine Stunde bin ich vergeblich in dieser Stadt rum gegeistert, und bis Litomerice (Leitmeritz) sind es noch über 20 km. Da hilft nun alles nichts, da muss man durch. Meine Fahrradbeleuchtung lässt allerdings zu wünschen übrig. Das Rücklicht ist OK, das hat mit einem Satz Batterien den ganzen vergangenen Winter überstanden, und da habe ich neue Batterien drin. Aber das Frontlicht ist auf den Akku angewiesen, den ich heute morgen schon auf der Fahrt zum Bahnhof strapaziert habe. Da leuchtet auch alsbald die rote Alarmanzeige auf, damit ist mit der Frontbeleuchtung nicht mehr zu rechnen (Wer hat heutzutage noch einen funktionierenden Dynamo?). Obendrein fahren des öfteren Streifenwagen der Polizei vorbei. Das lässt allerdings nach, nachdem ich mich weiter von der Stadt entfernt habe. Vielleicht taucht ja auch in irgendeiner Ortschaft ein Hotel auf? Dem ist nicht so! Nur einen Freund habe ich: das ist der Mond, der an einem klaren Himmel den Halbmond mimt. Damit steht man nicht gänzlich im Dunkeln. Trotzdem hätte ich zweimal fast entgegen kommende Passanten gerammt.
Salva Guarda in Leitmeritz |
Ich habe außerdem doch gewaltige Angst vor der Polizei, die mich mit der mangelhaften Beleuchtung womöglich aufgreifen und des Landes verweisen könnte? Wenn ein Auto von irgendwoher erscheint - besser anhalten und auf den Seitenstreifen ausweichen, bis wieder Ruhe ist. Nach zwei Stunden habe ich die 22 km hinter mir, es ist stockdunkel und schon nach 20 Uhr. In Leitmeritz frage ich die ersten Passanten nach einem Hotel. Zum Glück können die Deutsch. "Ja, gleich da vorne am Marktplatz". Und tatsächlich, es handelt sich um das berühmteste Haus der Stadt (Salva Guarda, Haus zum Schwarzen Adler mit Sgrafitti), so irgendwie mit Bemalungen versehen, alles sehr vornehm.
Das Haus SALVA GUARDA (ein
bedeutendes nationales Kulturdenkmal) wurde im 14. Jh. für die Familie
Dionysios Houska errichtet und im Jahre 1564 vom italienischen Architekten
Ambrogio Balli im Renaissancestil umgebaut. Die Fassade verzieren reiche
Renaissance Sgraffiti mit biblischen Motiven.
Kaiser Ferdinand III., der
hier im Jahre 1650 verweilte verlieh dem Haus die Rechte eines Rittersitzes und
den Titel "SALVA GUARDA" als sichtbares Zeichen seines nunmehr
dauerhaften Schutzes und seiner gleichzeitigen Herrschaftsprivilegien. Die
Hausbewohner sollten so vor Pflünderungen und vor Soldaten geschützt werden.
Und die Rezeption ist noch besetzt, das Zimmer bekomme ich für 30 EUR, das kann man sich sogar leisten. 128 km habe ich nun in den Beinen, man kann sich vorstellen, dass man da fertig ist, ausgekühlt obendrein. Die heiße Dusche war selten nötiger. Zum Essen gehen habe ich keine Kraft mehr, außerdem verfüge ich nicht über eine Münze tschechischer Währung in den Taschen. Also gibt es noch die geschmierten Brote und gekochten Eier von zu Hause, eine Tüte Isostar (die stammt noch aus Norwegen) zum Bereiten eines Erfrischungsgetränks - das war's dann, und ich glaube, da kann man dann auch aufatmend aus den Latschen fallen. Zum Glück habe ich das morgige Quartier in Prag über Internet bereits für drei übernachtungen vorgebucht, da wird es derlei Abenteuer erst mal nicht mehr geben.
(Ich hatte auch versucht, in einem Hotel (Helena) in Litomerice die übernachtung zu reservieren, doch die Bestätigung hatte mich nicht mehr rechtzeitig erreicht, die habe ich erst nach meiner Rückkehr in den Emails gefunden.)
Die am Zusammenfluss Labe/Elbe und Ohre/Eger liegende Königstadt Litomerice ist von den gotischen Befestigungsmauern umgeben; innerhalb der Stadt bieten viele gotische, Rennaisance- und Barokgebäude ihr neuerhaltenes Angesicht an. Zu den Zierlichkeiten der Stadt gehören erhaltener Markt, historische Kellerräume, Kirchen, Museen, Galerien.
Mit den Reservierungen per Internet ist das in Sachen Prag perfekt geregelt. Solange man keine verbindliche Buchung durchgeführt hat, bekommt man automatisch zahlreiche Angebote per Email. Ich habe mir die Pension Wurm am Weißen Berge ausgesucht, da kostet das Zimmer mit Frühstück 20.- EUR.
Aber so weit sind wir noch nicht - jedenfalls gibt es heute kein mulmiges Gefühl, was das Tagesziel angeht. Zunächst ist es recht neblig, sodass das Foto von dem schönen Sgrafitti-Haus nur trübe ausfällt. Außerdem ist der ganze Marktplatz wohl sehenswert doch heute ist nicht so viel davon zu sehen. Und als ich die Rechnung bezahlen will, ist leider der Leser für die Visacard defekt. Nebenan ist aber eine Bank, da lässt sich per Eurochequekarte am Bankomat ein ausreichender Betrag an tschechischen Kronen ziehen.
Stimmungen an der Elbe... ...im Morgendunst Obst und Gemüse |
Dann geht es ab in den morgendlichen Dunst, was an den Ufern der Elbe zuweilen auch ganz romantische Stimmungen und Ansichten erzeugt. Ab und zu zeigen sich verschwommen auch eine Burg oder Ruine oder Kirche. Außerdem gibt es irgendwo in der Ferne kegelartige Erhebungen, wie wir sie aus dem Schwabenland als sog. Zeugenberge kennen. Das sind ehemalige Vulkanschlote, die der Verwitterung des umgebenden weicheren Gesteins getrotzt haben. In Roudnice (Raudnitz) wird die Elbe überquert und so langsam kommt die Sonne raus. Ab hier wird die Strecke langweiliger, es handelt sich um die Straße 240, die direkt auf Prag zu führt.
Raudnitz an der Elbe Raudnitz |
In dem Ort Velvary (Welwarn) trifft man wieder auf so einen großzügigen Marktplatz mit einer skulptur-verzierten Säule in der Mitte. Hier lässt es sich gut rasten und man läuft nicht Gefahr, unter Platzangst zu leiden. Ansonsten bietet die Landschaft nicht so viel. Abwechslung kommt auf, als ein paar Jäger in Lodengrün auf der Bildfläche erscheinen und in der Luft rumballern. Da hatte ich bisher nur Krähen gesehen. Andererseits fegen ein paar Hasen über das Feld, womöglich laufen die um ihr Leben.
Welwarn Da grübelt einer |
Irgendwann zeigen sich die ersten Türme der Stadt Prag - die sich, wie üblich natürlich durch ausgedehnte Wohnblocksiedlungen ankündigt. Oder durch tief fliegende Flugzeuge, die sich auf den im Westen gelegenen Flughafen herab senken. Die Türme - das sind die vom Hradschin, aber das müssen wir noch lernen und deshalb sind wir hier. Erst mal stellt sich das Problem, die Pension Wurm zu finden. Nun ist der Weiße Berg (Bilá Hora) eine bekannte Gegend, so dass man von den Passanten einigermaßen brauchbare Hinweise bekommt. Bald merkt man, dass die Stadt Prag bergiger ist, als man es erwartet hat (Prag rühmt sich wie Rom, auf sieben Hügeln angesiedelt zu sein).
Irgendwo Prag in Sicht |
Aus dem Lexikon:
Weißer Berg (Bilá Hora), Prag (Tschechische Republik). Dort fand am 8. 11. 1620 die 1. entscheidende Schlacht des Dreißigjährigen Kriegs statt, bei der das böhmische Ständeheer von den Truppen Kaiser Ferdinands II. und der katholischen Liga vernichtend geschlagen wurde (auf kaiserlicher Seite fielen 1500 Mann, auf böhmischer Seite 3000). Am Ort der Schlacht wurde eine Kapelle und 1704-14 eine barocke Marienkirche errichtet.
Bila Hora Marienkirche Zimmeraussicht |
Nach ein paar abschließenden Klettereien findet man sich dann auf der Straße mit dem Namen Belohorska wieder - das ist dann wohl schon ziemlich richtig. Anhand vorher erstellter Ortspläne finde ich dann auch die Pension, aber nicht gleich den Klingelknopf. Doch schließlich auch diesen und der Betreiber der Pension lässt mich hinein. Er spricht kein Deutsch, da geht es nur mit Zeichensprache. Doch dann kommt doch ein Satz: "Frau Direktor ist krank". Heißt das, dass seine Frau krank und daher nicht anwesend ist? Dann werde ich in Ruhe gelassen und nach dem Auspacken mache ich mich sogleich an eine Erkundungsfahrt.