Eine Reise nach Rumänien oder: der Weg ist das Ziel

Wenn man nach Rumänien reisen will, so ist schon der Reiseweg ein Ziel, denn diese Anreise ist wie eine Perlenschnur, an der sich etliche Perlen aneinander reihen - wie wir sehen werden. Von den zu durchfahrenden Landschaften gar nicht zu reden. Meine letzte Reise im vergangenen Jahr von Dresden über Prag nach Schlesien hatte mir so viel Spaß gemacht, dass ich für's erste Osteuropa treu bleibe und einen langen Winter Zeit habe, die Reise zu planen. Aber nachher kommt es dann im Detail doch immer anders und zweitens, als man denkt, aber das ist ja der Reiz an der Sache. Und im wesentlichen ist die Reise dann doch so verlaufen, wie man es sich vorgestellt hatte.

Zu meiner Situation - ich oute mich jetzt als Senior: durch Altersteilzeit kann ich zum 1. Mai diesen Jahres nach 34 Jahren Arbeit meinem bzw. unserem Leben (Heidi, Hund Otto oder seit zwei Monaten Enkelin Pauline und all die anderen sind ja auch noch da) neue Inhalte geben. "Unser drittes Leben fängt an", sagen wir, als "freie Unternehmer", soll heißen: wir können unternehmen, wann und was wir wollen. Heidi bekommt zum Ausgleich zwei Wochen Türkei und Sonne spendiert. Nachdem das überstanden ist, genießen wir noch gemeinsam die ersten Ruhestandswochen, doch dann am Donnerstag nach Pfingsten geht es los, als freier Mensch in freie Länder, was ja auch lange Jahrzehnte nicht der Fall war...

1 Donnerstag, 19.5., Görlitz - Olszyna, 16/37 km

Am Morgen ist es 6° kalt, d.h. die Fahrt zum Bahnhof findet mit Handschuhen statt, die man ohnehin mitnehmen muss, falls man irgendwann in die fernen Karpaten kommen sollte. Hastiges Umsteigen in Stendal, also wieder nichts von dieser Stadt zu sehen gekriegt. In Berlin-Ostbahnhof ereignet sich dann leider ein Zwischenfall. Beim Anfahren des Zuges wird jemand verletzt, Notbremse, Vollbremsung und dann wird nach einem Arzt ausgerufen. Wenig später ist der Notfalldienst da und man versorgt den Verletzten. Lange Hälse im Zug. Mehr kann ich dazu nicht sagen, ich bin in solchen Fällen nicht so neugierig. Als es weiter geht, haben wir gehörig Verspätung. Der Zug heißt übrigens WAWEL und fährt von Hamburg über Liegnitz, Breslau bis Krakau. Da hätte ich eigentlich gleich sitzen bleiben können, aber dann wäre der Weg nicht das Ziel gewesen.

So ist der Anschlusszug der Lausitzbahn in Cottbus nicht mehr zu erreichen, der nächste fährt erst in zwei Stunden. Zeit genug für eine Bratwurst und eine Tour in die sehenswerte Innenstadt von Cottbus. Das ist insofern nicht so einfach, indem der Bahnhofsausgang "nach hinten" rausgeht. Gelegenheit, die erste Irrfahrt zu produzieren. Aber irgendwann findet man doch hin, über die Eisenbahnbrücke natürlich. Ein Foto gibt es nicht, denn diese Stadt gehört ja nicht zum Programm.

Schließlich sitzen wir im Zug nach Görlitz, ein gemütlicher Rentner sitzt mir gegenüber. Das ist ein alter Schlesier und der kann einem viel erzählen. Schlesien sei so groß wie Holland z.B. Und die Bevölkerung ist überaltert, vieles in den Dörfern verfällt, weil die jungen Leute abwandern. Dann holt er auch noch packenweise persönliche Bilder aus den Taschen und ich bin gezwungen, sie mit nicht ganz ehrlichen Interessebekundungen zu betrachten. Doch ein Quartier irgendwo östlich von Görlitz bzw. Zgorzelec kann er mir nicht verraten, Görlitz wäre sogar ausgebucht, sagt er. Da kriege ich schon wieder Muffe.

Und nun ab die Post - es ist schon Spätnachmittag -, die Straße runter vorbei an dem ehemaligen Hotel Görlitzer Hof oder so, das steht immer noch in seiner Asche wie vor Jahren schon, als wir das letzte Mal hier waren. Auch Görlitz steht nicht auf dem Programm, obwohl es gute Chancen hat, Kulturhauptstadt 2010 zu werden. Bald bin ich am Grenzübergang, wo die Neiße überquert wird. Der übliche Kulturschock, sagen wir mal so: dieser östliche Teil der Stadt gehört nicht zum Weltkulturerbe. Ich finde die Nationalstraße 30, die genau nach Osten führt. Durch einen breiten Seitenstreifen stört einen der Verkehr kaum. Später schon eher, da gibt es keinen Seitenstreifen mehr, so etwa nach der Stadt Luban.


Pappkamerad

Feld mit Baum

Niederschlesische Landschaft

Aber die Landschaft ist herrlich in der Nachmittagssonne, zur Rechten das Riesengebirge, z.T. noch mit Schneeresten. Leuchtend gelbe Rapsfelder erfreuen das Auge. In dem kleinen Ort Olszyna erfreut mein Auge der Hinweis auf ein Hotel. Nach Bunzlau kann ich heute nicht mehr fahren, nach bereits 37 km ist das zu weit. Damit ist mir die erste "Perle" leider unter den Tisch gefallen. In Hotel ZAULEK darf ich mit Euro bezahlen, denn ich habe noch keine Zlotys. Und zu essen gibt es Schweineroulade mit geriffelten Pommes. Zwei Bier dazu, alles zusammen incl. Zimmer kostet 20 EUR, ich bin begeistert. Der Ort ist ganz niedlich, ein Flüsschen windet sich zwischen den Häusern. Und aus der Kirche ertönt choraler Gesang. Da übt einer, wohl wegen der Akustik. Die Holzdecke ist bunt bemalt, sicherlich künstlerisch wertvoll.

Man kann zufrieden sein mit dem ersten Tag der Reise.


Hotel ZAULEK

Olszyna

2 Freitag, 20.5., Liegnitz, 100 km

Wir haben Kaiserwetter, d.h. keine Wolke am Himmel, nur ein leichter Ostwind. Heute fahre ich ziemlich im Zickzack, um auf Nebenstraßen dem Verkehr auszuweichen. Da geht es ganz schön auf und ab, mit immer wieder schönen Ausblicken auf das Riesengebirge. Es geht nacheinander durch die Städte Gryfow Slaski (Greiffenberg), Lwowek Slaski (Löwenberg), Zlotoryja (Goldberg). In der letztgenannten Stadt hole ich mir tatsächlich die benötigten Zlotys am Bankomat. Um nicht auf der lebhaften Straße 364 nach Liegnitz zu fahren, biege ich in ein Seitental Richtung Jawor (Jauer) ab, da ist es ruhig.


Gryfow Slaski


Lwowek Slaski(?)

Bei Jawor

Liegnitz

Man kommt an einem Stausee raus. Den umfahre ich wohl in der falschen Richtung und lande in Swary Jawor (Alt Jauer) und das ist ein Umweg, noch dazu auf einer holperigen Betonpiste. Und die letzten Kilometer dann doch mit Schwerlastverkehr auf der E 65. Vor Liegnitz eine elende Baustelle, und bis man dann die Innenstadt erreicht, ist man etwas genervt. Auch das Zentrum von Liegnitz ist eine einzige Baustelle, verleihen wir mal das Prädikat "Perle in Arbeit" Ich quartiere mich im Hotel Qubus ein, ein großer Kasten, nicht ganz so billig, aber von innen schön. Es gibt auch einen Wochenendrabatt.

Zum Essen geht es nach einigem Suchen in das Lokal Antica Roma und es gibt eine Pizza frutti de mare, wie man das von mir kennt. Das Bier WARKA strong vom Fass kostet 5 Zl (1.30 EUR). Da schmeckt es einem. Das Lokal ist etwas geräuschvoll, weil sich viel Jungvolk eingefunden hat. Das hindert einen Tischgenossen nicht daran, konzentriert in einem Buch über Einstein zu lesen, "E=mc2 leicht gemacht" oder so.

Danach ein Blick in die Kirche, da ist gerade eine Messe und man darf die in sich oder sonstwen versunkenen Beter nicht stören. Danach der Anruf zu Hause mit der Bemerkung "Wir kommen gut voran". Böse Reaktion: das Wort "Wir" will man nicht hören. Als ob ich heimlich mit irgendeiner Tusse unterwegs wäre. Schön wär's ja (?).

3 Samstag, 21.5., Breslau, 100 km

Das Frühstücksbuffet bietet genau das, was ich mir immer wünsche, und das ist Lachs. Und was es sonst alles gibt! Da kann man gut gestärkt ans Werk gehen. Es soll über die Dörfer gehen, z. B. Rogocnik. Da finde ich aber nicht hin. Das liegt daran, dass ich mir eine Karte aus dem Internet ausgedruckt hatte, auf der die kleineren Orte überhaupt nicht eingezeichnet sind. Außerdem sind die Straßen nicht gerade Rollbahnen, besonders in den Dörfern geht es meistens über Kopfsteinpflaster. Und die Route biegt zweimal um 90° nach rechts, das kann doch wohl nicht sein, da fährt man doch wieder zurück? Also lieber umkehren und 10 km verballert! An der Landstraße 94 weiß ich wieder, wo ich bin. Das GPS ist bei mir noch nicht erfunden.

Bei dem Ort Malczyce (Maltsch) gibt es eine schaurige Fabrikruine. Wenn man sich durch die Mauerreste zwängt, kann man ein Panoramafoto vom Inneren machen. Die nächste Stadt ist Sroda Slaska (Neumarkt). Da gibt es eine Gedenktafel wo das Wort hitlerowskim vorkommt, man muss mal sehen, ob sich der Sinn der Inschrift irgendwie entschlüsseln lässt.

Mein (Ex)Kollege Pawel K. hat das freundlicherweise perfekt übersetzt:
*"Zum 35sten Jahrestag *
*der Rückkehr Niederschlesiens zu Polen in Ehre denen,*
*die mit dem hitlerschen Angreifer kämpften*
*und die wiedergewonnene Heimat der Piasten aus den Ruinen hoben.*
*12 X 1980
Die Bevölkerung von (Ortschaft) Malczyc"*

Ich mache daneben Rast und schaue zwei Zeitgenossen zu, die auf ihre Weise auf dem Bordstein sitzend die Zeit totschlagen. Ein Foto aus der Hüfte: so, die habe ich im Kasten.


Zwei Zeitgenossen

 

Vor Breslau

Die Landschaft ist nun flach und auf weiteren Nebenstraßen, die in die gewünschte Richtung führen, nähert man sich Breslau in Erwartung einer Stadtsilhouette voraus. Stattdessen ein Schild: Powiat Wroclawsk direkt an einem Rapsfeld. Dann kann es wohl nicht mehr so weit sein. Wenn man in eine größere Stadt hinein fährt, passiert man immer, und das ist überall so, hässliche Außenbezirke. Immer dem Hinweis "Centrum" nach oder in Richtung Kirchturm. Aber den Marktplatz (Rynek oder Ring) dieser Stadt kann man nicht verfehlen. Staunen! Da ist was los, es wimmelt vor Menschen.


Breslau

Rathaus

Fassaden

Auf meinem Panoramabild finden sich einige Schattenkreaturen, die eilig des Weges ziehen. In der Touristeninformation erkundige ich mich nach einem Quartier. Die lachen mich aus. "Hier gibt es doch auch ein Hotel Qubus" sage ich. Freundlicherweise ruft die zuständige Dame mal dort an und es ist natürlich ein Zimmer frei. Das Hotel ist gleich um die Ecke und jeder Radfahrer weiß, das hebt die Stimmung. Das Fahrrad kommt mit aufs Zimmer, weil es gut in den Fahrstuhl passt.

Wenn man anschließend das berühmt Rathaus umrundet, muss man darauf achten, nicht zu sehr mit offenem Mund vor Staunen herumzulaufen. Deshalb begebe ich mich in das Restaurant Peking. Wer mich kennt, weiß: ich liebe die regionale Küche. Danach finde ich einen Buchladen, da kann man nun endlich die notwendigen Straßenkarten erstehen. Die werden dann später mit der Schere von allen Regionen befreit, in die man sowieso nicht zu kommen gedenkt. So lassen sie sich leichter falten und man spart Gewicht, das auf einer solchen Reise stetig zunimmt, wenn man alle Straßenkarten, Stadtpläne, Prospekte, Flyer oder Eintrittskarten, Rechnungen und Quittungen mit sich führt. Noch eine unschöne Beobachtung, die nicht kennzeichnend für die Stadt Breslau sein soll, aber die Begebenheit hat sich nun einmal so zugetragen.

Da sind sich zwei ins Gehege gekommen, mitten auf dem Platz. Der eine eher schmächtig mit offenem Hemd und Goldkettchen. Der andere mit Muskeln bepackt, T-Shirt und Stiefeln. Ehe man sich versieht, klatscht es kurz und letzterer geht zu Boden. "Das kann nicht angehen" denkt der wohl, erhebt sich und geht erneut zum Angriff über. Und da kann man einen sehen, der seine Kampfsporteinheiten wohl erfolgreich gelernt hat: erneut zwei drei gezielte Schläge und der Muskelprotz wälzt sich schon wieder auf dem erlesenen Pflaster. "Das geht nun wohl doch an's Limit" mag er denken und zieht sich schmollend zu einem seiner Kumpels zurück. Der Sieger schüttelt sich nur kurz die Hände, leider ist aber sein Goldkettchen gerissen. Dann treffe ich noch auf eine Gruppe Biker (Motorradfahrer), die haben Schilder an ihren Fahrzeugen: Polen - Ungarn - Ukraine. Da mögen sie stolz drauf sein, aber ich bin stolzer.

Zurück im Quartier gibt es gut zu tun mit dem neuen Kartenmaterial (s.o.). Dann entdecke ich eine Perspektive, die vermitteln mag, meine Lenkertasche sei ans Internet angeschlossen. Je später der Abend, desto alberner die Gäste. Im übrigen ist mir klar, dass die "Perle" Breslau einen gewissenhafteren Aufenthalt verdient hätte, Dominsel und so. In meiner Unruhe scharre ich zuviel mit den Füßen und so wird es am nächsten Morgen gleich wieder weiter gehen.

4 Sonntag, 22.5., Kluczbork (Kreuzburg), 118 km

Um aus Breslau heraus zu finden, vertraut man sich am besten den Uferpromenaden der Oder an. Da lässt sich herrlich radfahren. Heute am Sonntagmorgen bei schönem Wetter finden dort allerlei Aktivitäten statt. Radler, Jogger, Skater, Hundeausführer, Angler und Kanuten rüsten sich. Am Himmel hängen sogar ein paar Fallschirmspringer. So geht es den Schleifen der Oder folgend in wechselnde Richtungen dahin, bis ich wieder mal nicht weiß, wo ich bin. Ich suche mir eine Landstraße, um ein Ortsschild auszumachen. Nach bereits 25 km verkündet das erste Hinweisschild jedoch, dass man nun gerade die Stadt Breslau hinter sich lässt. Da bin ich ja noch nicht weit gekommen, trotzdem war diese Oderpartie sehr schön.

Jetzt haben wir es mit den Maikäfern. Die meisten liegen zermatscht auf der Straße (Akazienallee). Aber einer fliegt auch schon mal ein Stückchen neben mir her. Hier gibt es auch viele bewohnte Storchennester. Ob die Störche auch Maikäfer fressen? Die Hühner mögen die Maikäfer wie nichts anderes, das weiß ich aus meiner Kinderzeit (dem "ersten Leben"). Aber Störche sind keine Hühner und klettern nicht auf Bäumen rum. Hühner allerdings auch nicht. Was einem Solofahrer eben so alles durch den Kopf geht!


An der Oder

Laskowice

Strobrawski Park

Kluczbork

In dem Ort Laskowice (Markstädt) ist gerade der Gottesdienst zu Ende und die festlich gekleideten Kirchenbesucher strömen ins Freie oder dem Frühschoppen entgegen? Ich sitze wohl mit meiner Fantaflasche hinter irgendeinem Busch. Nun geht es auf einsamen Straßen weiter, durch Wälder und Auen. Einmal gilt es eine Abkürzung auf unbefestigter Piste zu erproben, und das ist hinter dem Ort Rogalice (Rogelwitz). Wenn ihr mich fragt, wo ich die ehemaligen deutschen Namen her habe: vor vielen Jahren hat uns unser Neffe Henning mal die alten Vorkriegskarten der ehemaligen Ostgebiete besorgt, und da findet man alles wieder. An meiner Abkürzung finde ich in einem schilfbestanden Teich einen Sessel im Sumpf. Ob da ein Angler es sich gelegentlich gemütlich macht? Wasserdichte Hosen sind empfohlen.

Zum Abschluss für heute geht es durch ein Naturschutzgebiet mit dem Namen Stobrawsky Park Krajobrazowy, und da hieß es früher, glaubt es mir oder nicht: Forst Peisterwitz, Forst Bogelwitz oder Forst Poppelau. Der Fluss der Gegend heißt Strobrawa (Stober), und ein Ort hieß früher Carlsruhe, heute Pokoj. Und ein kleiner Ort heißt Paryz, und wenn man den mit Google recherchiert, kann man sich vor Eiffeltürmen gar nicht retten. Genug der Namen - es kommen noch genug -, die Landschaft ähnelt unserer Lüneburger Heide, da wo sie nicht Heide (wie z.B. am Totengrund oder Wilseder Berg) ist. Und nun sind wir unversehens in Kluczbork.

Gleich passiert man einen Sozialistenkasten, der einmal ein Hotel war. Mit angebautem Kongresspavillon. Deren Zeiten sind vorbei. Ein paar Passanten geben mir den Hinweis auf das Hotel am Rynek. Der Eingang ist allerdings auf der Rückseite. Da muss man erst mal drauf kommen. Vorne steht OTEL und hinten HOTE. Hier klaut wohl einer Buchstaben? Ein freundlicher junger Mann weist mich in ein nettes Zimmer ein. Speisen kann man gleich gegenüber auf dem Rynek, heute gibt es - oh wie überraschend - Pizza Mariana. Die ist mit Käse überbacken, zudem wird noch ein Topf Ketchup (man teilt mir mit: "Tomatensoße" - danke) gereicht, der wird da noch drüber gekippt. Danach hat man irgendwie einen dicken Bauch, das zweite Bier ist nur schwer zu schaffen. Also ein Rundgang danach.


Ach Anneliese...

Kunstfiguren

Na, hier ist ja ordentlich was los. In den Wallanlagen findet ein Fest statt. Es singt gerade ein Kinderchor in Trachtenkostümen. Den Text verstehe ich nicht, aber die Melodie: "Ach Anneliese..". Da kann man mitsummen. Auch das nächste Lied kenne ich aus meiner Studentenzeit in Stuttgart (übrigens dem "zweiten Leben"). Das fängt an: "Droba auf dr rauhe Alb, juppheidi, juppheida...". Auch hier wird sich der Text auf polnische Weise anders darstellen. Meine Erinnerungen an dieses nicht ganz stubenreines Lied funktionieren noch, und wenn ich einen Vers zitieren darf, dann nur in Kleinschrift:

Droba auf dr rauhe Alb, jubheidi, jubeida,
was machet da die Gipser all, jubheidi heida
Hier a Spritzer, da a Spritzer, gibt all wieder a neue Gipser,
jubheidi und jubeida, Schnaps ist gut für Cholera ...
usw. (findet man auch mit Google unter "Rauhe Alb", diesen Vers allerdings nicht...)


Die weiteren Lieder  - wahrscheinlich Volkslieder - sind mir nicht bekannt, doch es kann einen womöglich zu Tränen rühren. Wie bei allen Festen auf der Welt stehen auch ein paar Figuren herum, die haben sich an anderen flüssigen Nährmitteln orientiert, aber das kennen wir auch von zu Hause, da heißt sowas z.B. "Waschefest". Dann wandelt man noch an einer Galerie von überlebensgroßen Holzfiguren vorbei, gnomhafte Gestalten von einem wahrscheinlich ansässigen Künstler geschaffen.

5 Montag, 23.5., Czestochowa, 75 km

Weiter geht's - soll ich mal was über das Wetter sagen? Sagenhaft! Und den Wind? Den gibt es gar nicht, die Nationalflaggen an den örtlichen Gemeindeverwaltungen hängen schlaff herum und gelegentliche Rauchsäulen steigen senkrecht auf. Das ist nun nicht mein Verdienst, aber man kann es genießen und kommt flott voran. Nur die Straßenverhältnisse sind nicht ganz optimal, es gibt schon etliche Schlaglöcher, in die man besser nicht hinein fällt. Der einzige größere Ort auf der heutigen Strecke heißt Olesno (Rosenberg).


Olesno

Arbeitende Bevölkerung

Grenzfluss

Ein Foto von der Kirche und eines von der arbeitenden Bevölkerung, der ich nun nicht mehr so richtig angehöre. Gemein ist das ja irgendwie. Die weitere Strecke auf der Landstraße 494 ist landschaftlich weniger reizvoll. Auf der Route wird nun irgendwann (noch ein paar weitere Namen) die ehemals existierende Grenze zwischen Schlesien und Polen, heute Woj. Opolske und Woj. Slaskie passiert. Die Grenzorte heißen Bodzanowice (Grunsruh) und Podleze Szlacheckie. Und für diesen Ort gibt es keinen ehemaligen deutschen Namen mehr.

Da kann man ja mal seine Sprechwerkzeuge strapazieren, um die Aussprache zu üben. Ich komme nicht einmal mit dem üblichen Gruß zurecht, der heißt "Dobre". Was immer das heißen mag. Irgendwann wird mir auch das erklärt, es heißt "Gut". Aus meinem zweiten Leben in Stuttgart kenne ich den Ausspruch "A Guate!", aber der bezieht sich mehr auf das Essen (Guten Appetit). Dermaßen verunsichert begnüge ich mich beim Grüßen (wenn es schon dazu kommt) auf Hello! oder Hei! oder Winken, das wirkt am besten.

So radelt man vor sich hin, die heutige Etappe ist kurz, und gegen Mittag taucht ein hoher Kirchturm voraus auf. Man rollt hinein in die heilige Stadt Polens, wo der gerade verstorbene Woytila allgegenwärtig ist, die schwarze Madonna Millionen von Pilgern auf mühseligen Wegen anreisen lässt. Ich begebe mich in die Touristen Information und bekomme - oh Wunder - ein Quartier in der Pilgerherberge vermittelt. Die nennt sich Dom Pielgrzyma. Aber bis ich dahin finde, stolpere ich wohl durch etliche Klosteretablissements, bis mir einer den richtigen Weg weist. Ich bezahle gleich mit meiner Visa Card von der VW-Bank (70 Zl) und finde mich dann in einem Zimmer wieder, da könnte ja gleich der leibhaftige Papst (Stefan Raab: "Ratze") einziehen.


"Papstzimmer"

Czestochowa

Die Schwarze Madonna

Die Bettdecke ist in der ansprechenden Purpurfarbe gehalten, über dem Kopfende des Bettes prangt ein Konterfei der Schwarzen Madonna. Nehmt es mir nicht übel, aber nun muss ich mich doch erst mal legen und alles überdenken. In der Touristeninformation habe ich noch etwas wertvolles erstanden, das ist eine detaillierte Karte 1:95000, in der ist eine Radroute Czestochowa - Krakow eingezeichnet.  Der Titel ist "JURA Krakowsko Czestochowska". Nun herrscht über den Weiterverlauf der Tour kein Zweifel.

Auch das eher profane Hemden- und Sockenwaschen ist angesagt. Es war heiß heute. Irgendwann komme ich wieder zu mir. Die örtlichen Verhältnisse sind so: die Wallfahrtsanlage Jasna Gora liegt auf einem Berg über der Stadt. Eine schnurgerade Straße zieht sich dort hinunter, an deren Ende ein rot-weiß geringelter Schornstein die geheiligte Szenerie weniger sakral abschließt. Will man von der Pilgerherberge dort hinunter wandeln, kommt man notgedrungen an der Kirche mit der Schwarzen Madonna vorbei und kann sich nicht enthalten, dort auch hinein zu schauen, wozu ist man schließlich hier. Wenn man die heilige Stätte betritt (Fotografieren verboten), muss man sich unbedingt dem Verhalten der anwesenden Pilger anpassen. Ich befinde mich gerade inmitten einer ehrfürchtigen Gruppe, die unversehens auf ein geheimes Kommando von oben oder sonstwo her auf die Knie fällt. Da kann man schlecht als Antichrist wie ein Turm in der Brandung stehen bleiben. Und so falle auch ich auf die Knie, hocke vor der Schwarzen Madonna wie ein Pilger, wer hätte das gedacht? Dafür werden wir in zwei Tagen in Krakau die Engel singen hören - da freut euch schon mal drauf!

An den Wänden der Kathedrale befinden sich unzählige silberne Plaketten mit Pilgerwidmungen, Vorhänge von Bernsteinketten und - wie in Lourdes, der Partnerstadt dieses Ortes - Krücken von anscheinend wundersam geheilten Lahmen und Siechenden. Die schwarze Madonna selbst ist nichts weiter als eine Ikone, uralt anscheinend, Wahrzeichen sind ein paar Narben auf der Wange der Madonna, das kleine Jesuskind unter den Arm geklemmt, Heiligenschein inbegriffen. Gerade robbt einer auf Knien um das Allerheiligste herum, was mag der sich davon versprechen? Es sind auch viele Familien mit einem Kommunionskind da, die kleinen Mädchen sind hübsch weiß gekleidet und tragen Blumen in den Händen.

Als erstes begebe ich mich in ein Internetcafe, das erste Mal und etwas aufgeregt. Die halbe Stunde in dem schummrigen Etablissement kostet nur wenige Cent (umgerechnet). Und es klappt, ich kann eine Email nach Hause absetzen, dass es mir gut geht in der Pilgerherberge usw. So spart man einen Anruf. Im übrigen hat die Stadt nicht viel zu bieten. Längs der Magistrale mit dem Namen Aleja Najswietszej Panny ist ordentlich was los, in den Seitenstraßen wird es schnell ruhiger. Am Ende gerate ich noch in einen ausgedehnten Trödelmarkt mit einem bunten Treiben. Was ich eigentlich suche: ein schönes Restaurant, das bleibt mir verborgen. Nur Pizza essen, das kann man überall - aber ich denke: nicht schon wieder!

So erkunde ich die Angelegenheit, ausgehend von der Jasna Gora, und lande dann in einem vornehmen französisch/russischen Restaurant, alle Tische festlich eingedeckt. Hier kann man Kaviar bestellen oder auch Haisteak. Ich bin der einzige Gast, also bemüht man sich geflissentlich. Erst mal ein Bier, und das heißt "La Reserve Maitre Kanter", 6.1% und wird in einer dickbäuchigen verzierten Flasche gereicht. Als ich nachher die Zeche bezahle, stellt sich heraus, dass das Bier allein mit 20 Zl (6 EUR) zu Buche schlägt. Zum Glück habe ich es heute bei einem Bier belassen. Leider habe ich nicht notiert, was ich gegessen habe und jetzt fällt es mir nicht mehr ein. Lag wohl an dem Bier, aber das war lecker.

Am Abend gibt es ein starkes Gewitter, aber da sitze ich schon sicher in meinem Heiligtum und schaue dem herabprasselnden Regen aus dem Fenster zu. In den Gängen der Herberge laufen immer wieder Gruppen hin und her, und einmal vermeine ich vor meiner Zimmertür den Satz zu vernehmen: "Da schläft Volkswagen". Vielleicht wegen meiner Visakarte von der Volkswagenbank? Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet.


Kapitel 2: Krakau und 3 Perlen der Slowakei
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