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Was ist der Rennsteig?

"Ein deutscher Bergpfad ist's!" hat mal einer glasklar erkannt. "Deutsch", weil im Herzen Deutschlands, "Bergpfad" weil auf dem Kammgebirge des Thüringer Waldes verlaufend. Der Rennsteig ist inzwischen wieder 167,9 km lang, manche runden das auf 168 km auf. Er beginnt in Hörschel an der Werra und endet in Blankenstein an der Saale. Erstmals kann man den Original-Rennsteig seit Verschwinden der Grenze wieder komplett absolvieren, weil Anfang und Ende im ehemaligen Sperrgebiet liegen.

Seinen Namen hat der Rennsteig eben nicht von der Tätigkeit "Rennen", sondern nach dem Stand der Forschung von dem Begriff "Rain" = Grenze. So säumen den Rennsteig auf fast seiner ganzen Länge historische Grenzsteine, meistens die alte Grenze zwischen Thüringen und Franken markierend, gleichzeitig Sprach- und Kulturgrenze.

Immer wieder liest man über den Rennsteig, ab und an wird auch im Fernsehen von in Trachten verkleideten Gesangsgruppen in volkstümlichem Habitus, saftiges Grün und vielleicht ein malerisches Wiesental mit einem äsenden Reh vor dem Waldrand im Hintergrund, der Rennsteig besungen: Melodie

"Diesen Weg auf den Höh'n bin ich oft gegangen,
Vöglein sangen Lieder,
wo ich bin auf der Welt, habe ich Verlangen,
Thüringer Wald, wann kehr ich wieder?"

oder so ähnlich...

Mit der dazugehörigen Melodie im Kopf reiche ich meinen Resturlaub ein, um die Himmelfahrtswoche vatertagsmäßig zu nutzen.

Um 6.10 Uhr fährt am Dienstag mein Zug, auf der Fahrt zum Bahnhof höre ich zum ersten Mal in diesem Jahr den Kuckuck - ein gutes Omen. Nachdem der Zug bereitgestellt ist, frage ich den Schaffner, ob der Zug kein Gepäckabteil habe. "Was glauben Sie, wovor Sie stehen, mal her mit der Kiste". In Göttingen muß ich in den Nahverkehrszug nach Eschwege umsteigen. Dieser Zug hat nun kein Gepäckabteil, der Schaffner weist mich am Einstieg gleich hinter der Lokomotive ein. Schnaufend nehme ich im Zugabteil Platz. Da höre ich den Dialog, Schaffner: "Hock dich rein". Antwort: "Es gibt doch noch gute Menschen". So wickelt sich das Gespräch zwischen dem Schaffner und einem herumlungernden Bahntramper ab. Er hat kein Geld, noch weniger eine Fahrkarte. So läßt er seine Begeisterung gleich an mir aus. Er hat die vergangene Nacht auf einer Sperrmüllmatratze in Göttingen verbracht, es hat geregnet. Welcher Wochentag denn wäre, und ob ich was zu "roochen" häte. Damit kann ich nicht dienen, ich bin auch nicht so begeistert über die Gesellschaft und bin nicht sehr gesprächig. Er will nun zu einer Tante in Bebra, um Geld zu besorgen, dann will er weiter an die Saale. Das ist ja auch mein Ziel - nur sicher auf andere Art. Bald wird es meinem Reisegenossen zu langweilig und er geht auf weitere Entdeckungen aus. Nun kann ich mich wieder ungestört auf meine Tour konzentrieren.

In Eschwege angekommen, werden Tacho und Kartenhalter montiert, die Gepäcktaschen festgezurrt, es geht los. Ich bin so eifrig, daß ich natürlich direkt in die falsche Richtung starte, zum Glück bemerke ich das aber schon nach wenigen hundert Metern. Ich habe eine "schizophrene" Straßenkarte: Generalkarte Deutschland Ost, Blatt 6. Da sind alle Einzelheiten im diesseits gelegenen Teil Deutschlands weggelassen, ab der Grenze in östliche Richtung dagegen alles sauber eingetragen. Als ob es keine Wiedervereinigung gegeben häte. Vielleicht wird diese Karte einmal als "Fehldruck" Sammlerwert bekommen. Trotzdem kann ich mich orientieren, ich muß über Oberhone nach Eschwege radeln. Ein Autofahrer fragt mich obendrein noch nach dem Weg nach Eschwege, aber dem kann ich nun doch die richtige Auskunft geben. Statt an der Werra entlang zu fahren, entschließe ich mich für eine anstrengendere Strecke über Weißenborn und Großburschla. Dieser Ort war auf drei Seiten von der ehemaligen Grenze umschlossen. In Weißenborn frage ich einen Mann nach dem Weg nach Großburschla. "Immer geradeaus, da bist Du gleich da". Beim Weiterfahren grüble ich über dieses "gleich da" nach, so leicht dahingesagt könnte man Bände über das alles füllen. Auf abschüssiger Straße quere ich die ehemalige Grenze, hier wie überall noch sehr gegenwärtig. Hier ist wirklich überall "Grenze", manchmal links und rechts gleichzeitig. Trotzdem ist Großburschla ein schmucker Ort, ein altes Fachwerkhaus mit einem Blumenladen wäre ein lohnendes Fotomotiv, aber ich habe meinen Film noch nicht eingelegt.

Am Hedrastein
Nun geht es sehr steil bergauf zum Hedrastein, 504 m, einer Klippe hoch über dem Werratal. Hier ist die Grenze so "malerisch", daß ich doch mein erstes Foto schieße. Aus einem parkenden Auto steigt ein Mann mit einer umgehängten Schreibtafel aus, vielleicht ein Botaniker, der sich für die Flora und Fauna in diesem abgelegenen Teil Deutschlands für Seltenheiten interessiert. Nachdem die anstrengende Paßhöhe überquert ist, geht es im wahren Sinne des Wortes hinunter nach "Schnellmannshausen" und weiter nach Creuzburg. Diese Strecke sind wir mit dem Auto schon nach Eisenach gefahren. Heute blühen die Himmelschlüsselchen stellenweise in gelben Feldern, also ist die Natur hier noch nicht so weit, denn bei uns sind sie längst verblüht.

In Creuzburg gibt es eine gleichnamige Burg, die ich in meiner Ungeduld natürlich nicht besichtige. Über die Werra ist eine malerische mittelalterliche Brücke zu bestaunen. Mit 4 frisch erworbenen Coladosen im Gepäk mache ich mich auf die Suche nach der Abzweigung Richtung Sprichra und Hörschel, wo sich der Beginn des Rennsteigs befindet. Ein unscheinbarer Feldweg ist die einzige Strecke, die in Frage kommt. Gut, daß ich allein fahre, da kann mich keiner wegen einer falschen Wegstrecke anmeckern. Der Weg ist schlammig, die ersten Dreckbrocken fliegen in das Getriebe. Dann muß ich auch noch einen Berg erklimmen, immer ungewiß, ob das irgendwohin führt. Aber - oh Wunder - vorbei an einem riesigen Misthaufen, der seine braune Brühe in die ganze Umgebung ergießt, gelange ich nach Spichra, einem Ort am Ende der Welt. Hoch oben die Autobahnbrücke, hier ist eine kleinere Ausgabe der Porta Westfalica, hier heißt das "Porta Thüringia", wo die Werra sich ihren Weg zwischen Thüringer Wald und dessen Vorgebirgen bahnt.

Schon bin ich in Hörschel - der große Moment - es ist 13.30 Uhr, 45 km bin ich nun gefahren. Zwei Arbeiter schaufeln Kohlengrus an der kleinen Kirche hin und her, die frage ich nach dem Beginn des Rennsteigs. "Keine Ahnung, fragen Sie mal da um die Ecke in dem Büro". Um die Ecke befindet sich eine Station des Rennsteigvereins, wo man allerhand nützliches Informationsmaterial bereithält. Früher lag diese Region ja im Sperrgebiet, deshalb hat der Rennsteig hier praktisch gar nicht existiert. Sehr brauchbar ist ein Quartierverzeichnis und eine Wegbeschreibung, alles fotokopiert. "Wir improvisieren noch". "Das ist doch viel schöner" antworte ich, und entrichte 5 DM für die Rennsteigkasse. Jetzt bin ich natürlich im Bilde, wo der Weg beginnt, "hat geklappt" rufe ich den schaufelnden Arbeitern im Vorbeifahren zu. Keine 100 m weiter ist es so weit, anhalten, fotografieren und durchatmen.

Beginn des Rennsteiges
Jetzt geht es los. Das heißt Schieben, denn die Steigung beginnt gleich mit Macht. Nun habe ich mit der Motivation natürlich keine Probleme, es geht gleich auf 301 m Höhe, den Eichelberg. Aus meinem frisch erworbenen Informationsmaterial zitiere ich: "Schon offenbart sich eine zauberhafte Aussicht. Der Blick fällt auf das wunderschöne Werratal mit seinen grünen Auen, begrenzt von Dörfern, Wald und Fels, auf das malerische Hörseltal...". Dem ist nichts hinzuzufügen, man kann das schon so sehen. Bald treffe ich auf zwei rastende Wanderer, die diesen Teil des Rennsteigs auch zum ersten Mal "machen", weil das früher nicht möglich war.

Wolfsrück
Solange ich in Sichtweite der kauenden Wanderer bin, muß ich "modellradeln", d.h. die Steigung locker nehmen, um zu zeigen, daß die ganze Sache für den Fahrradfahrer kein Problem ist. Nach der ersten Kurve aber springe ich ab und keuche mich aus. Nun geht es gemächlich weiter, endlich kommt die Wartburg ins Blickfeld. Leider versäme ich, zu fotografieren, ein schönerer Blick zeigt sich später nicht mehr. Vor lauter Begeisterung habe ich nicht an das Essen gedacht, ein Hungerhaken kündigt sich an. Ich will aber bis zur Hohen Sonne durchhalten, denn dort befindet sich - wie ich schon weiß - eine Imbißbude. Der Weg bis dorthin geht über "15 Kuppen", wie es in der Wegbeschreibung vermerkt ist. Diese Information ist richtig. Als die ersten Spaziergänger mit Kinderwagen und Oma auftauchen, kann es nicht mehr weit sein.

Endlich die Hohe Sonne - hier waren wir schon einmal, Drachenschlucht usw. Mich interessiert nur der Kaffee und die Bratwurst, die ich verschlinge. Ein Transporter entläd auf dem Parkplatz zwei durchgestylte Montainbiker, auch mit Packtaschen, vielleicht bekomme ich Gesellschaft. Als ich aufbreche, pumpeln die aber noch an der Imbißbude herum, späer habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Nun bin ich mitten drin und lasse mir Zeit. Man passiert den verwaisten "Auerhahn", ich entdecke den "Globus", den ich aus einem Reiseführer kenne.

"Mach es wie die Sonnenuhr,
zähl die heit'ren Stunden nur"

ist dort eingemeißelt. Das ist ein gutes Motto - es muß mich angesteckt haben, denn eine so gute Laune habe ich noch auf keiner Radtour entwickelt. Ein Grund sind sicher die vielen interessanten Gespräche und Kontakte, die ich auf dem Weiterweg habe.


Globus beim Auerhahn

Rastplatz
Die nächste Station ist der Parkplatz Schillerbuche. Diesen Baum vergesse ich, zu bemerken, stattdessen labe ich mich an einem weiteren Kaffee an der dortigen Imbißbude. "Wenn es aufwärts geht, macht die Arbeit auch Spaß" bemerkt der Imbißwirt. Ein Jugendlicher fährt mit Karacho in seinem Ersatzmanta vor, erkundigt sich, ob irgendwelche Farben besorgt seien und rast dann schotterspritzend mit eingelegtem Powerslide davon. "Die fahren sich alle noch tot" - die Statistiken bestätigen es.

Ich zockle weiter. Auf der Landstraße fahre ich hinunter nach Brotterode, wo ich Quartier nehmen will. Gegen 18 Uhr komme ich dort an. Ein älterer Herr steht vor einem Fotogeschät, den frage ich nach der Zimmervermittlung oder einem Tip, wo man übernachten könne. Um die Ecke liegt das Hotel Krone. Bis ich dorthin komme, vergeht noch eine halbe Stunde, so angeregt entwickelt sich das Gespräch. Eintracht Braunschweig, Hansa Rostock und die zugehörigen Trainer werden diskutiert. Aber auch die Situation im Thüringer Wald, wo die Touristen ausbleiben. Hier haben die Leute alle noch Geld von früher, als die FDGB-Urlauber die Orte bevölkerten. Das ist nun vorbei, für die Ossis sind neue Reiseziele angesagt, den Wessis ist es nicht vornehm genug. Meinen älteren Herrn interessiert vornehmlich die Entwicklung der Renten, denn er ist schon in Pension. "Ich mußte noch nie im Leben so viel rechnen". Die Heizungskosten etwa haben sich erheblich verteuert.

Endlich finde ich den Absprung, im Hotel Krone frage ich nach einem Zimmer. Die Bedienung ist etwas unschlüssig, dafür leiert der Koch, der gelangweilt daneben steht, die freien Zimmer runter. Ich bekomme einen Schlüssel und bin erlöst. DM 25.- ohne Frühstück kostet die Übernachtung. Das sei teuer, wird mir später einmal gesagt, ich möchte da nicht meckern. Mein Zimmer ist überheizt, ich auch, da sitze ich bald wie bei einem Sommerurlaub in Südeuropa herum. Erstmal die Fenster auf, reingucken kann keiner. Duschen am Ende des Flurs, wo eine etwas abenteuerliche Duschzelle eingerichtet ist.

Nun geht es mir gut, ein Rundgang ist angesagt. "Platz der Deutsch - Sowjetischen Freundschaft", das gibt es auch noch. Ein Bach durchzieht malerisch das Dorf. Um die Kirche herum dehnt sich ein riesiger Friedhof aus. Es läßt sich nicht herausfinden, warum der so groß ist, die Zahl der Einheimischen gibt das doch eigentlich nicht her. Vielleicht sind auch FDGB-Touristen dabei. Ich hopple ein paar Treppen hinunter und nehme in meinem Hotel das Abendessen ein, Rumpsteak zu erträglichem Preis. Zum Glück läßt die Heizung zur Nacht etwas nach, frieren muß ich jedenfalls nicht.

Nächster Tag