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Sonnabend, 18.7., Plochocin

Angemeldet sind wir um den 20., heute ist erst der 18. Wir fragen uns durch zu dem Haus von Genja, Heidis Kindermädchen und Janek, ihrem Mann. Vor dem Haus steigen wir von den Rädern, ein Juchzen ist aus dem Haus zu vernehmen, dann liegen sich Heidi und Genja in den Armen, die Tränen fließen. Mir steigt das Wasser auch fast über die Nasenwurzel. Kruzcina das ist der Hündi, lenkt uns aber mit seinem Spektakel ab. Wir schieben die Räder auf den Hof, dann finden wir uns in der Küche bei einem Kawa wieder. Heidis Eilbrief ist erst einen Tag vorher eingetroffen. Heute morgen sind andere Gäste aus Berlin, 6 Mann hoch, erst abgereist. Genja hat noch nicht einmal alle Wäsche aufgehängt, dann kommt ein neuerlicher Regenguß, die ganze Bettwäsche muß wieder abgenommen werden.

Wir haben fast ein schlechtes Gewissen, hier so hereinzupoltern. Aber die Gastfreundschaft von Genja und Janek zerstreut alle Bedenken. Kruscina ist da anderer Ansicht. Beim Reinbringen des Gepäcks beißt sie mir mal eben in die Hose, das hat aber keine weiterreichende Folgen. Wir werden im ehelichen Schlafzimmer einquartiert, unsere Gastgeber kampieren im Wohnzimmer. Um nicht zu viel Wirbel zu verursachen verabschieden Heidi und ich uns bald zu einem Erkundungsgang, wir sind sehr gespannt, das Gutshaus und seine Umgebung auszukundschaften.

Auf der Treppe des Gutshauses
Vor dem Betreten des Gutsgeländes oder gar Fotografieren sind wir gewarnt worden. Allerdings ist der Gutsbetrieb inzwischen aufgegeben worden, man wartet auf jemand, der das ganze privat übernimmt. Die Aussichten dafür sind sehr gering. Im Moment befindet sich in einigen Räumen des Gutshauses eine Diskothek. Wir schlendern also unauffällig zu dem Haus, vor der Tür steht ein Jugendlicher, den fragen wir nach Papierosy. Kein Problem, wir gehen mit in das Haus und erstehen zwei Packungen "M", polnische Filterzigaretten. Dann versuchen wir den Knaben zu fragen, ob man hier fotografieren dürfe. Das versteht er so, daß er ein Foto von uns machen solle. Auch nicht schlecht. Wir stellen uns also auf die Eingangstreppe und lassen uns ablichten.

Danach sind wir mutiger und ich mache noch weitere Bilder. Wir gehen um das Haus herum in den Park. Hinten ist ein Anbau mit einer Freitreppe, der Park ist verwildert und ungepflegt. Hinter einer Gardine beobachtet uns jemand, vielleicht der Verwalter? Wir machen uns aus dem Staub.


Das Gutshaus
Angrenzend an die Wirtschaftsgebäude befindet sich ein kleiner See. Von der Straße aus gelangen wir an sein Ufer, das Wasser ist grau und milchig trüb. Anscheinend hat man die Gülle aus den Ställen in den Se entsorgt. Wenn man so mit Gottes Natur umgeht, fragen wir uns, wozu macht man dann so ein Aufhebens in den Kirchen?

Verständlich, daß uns eine bedrückte Stimmung ergreift. Verstärkt wird das noch durch einen weiteren Vorfall. Ein mit Jugendlichen beladener Kleinlastwagen hält an, der Fahrer fragt uns was Unverständliches. "Wir sind deutsch, verstehen nicht" antworten wir. Der Fahrer fährt weiter, aber die wohl angetrunkenen Jugendlichen hinten auf der Ladefläche rufen uns Unflätigkeiten zu und machen durch eindeutige Gebärden (Stinkefinger) klar, was sie von uns halten. Als das Auto um die Kurve verschwindet atmen wir auf. Aber da kommt ein Polizeiauto herangerollt. Womöglich sind die ob unseres illegalen Fotografierens alarmiert worden? Aber wir sind nur Schißhasen. Das Polizeiauto fährt vorbei, wir gehen wieder zurück und können dann einen Kaffee gebrauchen.


Der See

Disko
Am Abend machen wir mit Janek einen Spaziergang entlang der Straße nach Bakowo (Bankau). Nach dem Regen wirkt die Landschaft in der Abendsonne wie frisch gewaschen. Neben der Straße sind ab und zu Sumpflöcher, Überbleibsel der Eiszeit. Dort blüht der Blutweiderich, an den Straßenrändern bildet die üppige Wegwarte einen blauen Saum. Die Landschaft ist hügelig und abwechslungsreich durch Felder und kleine Gehölze gegliedert. In der Abendkühle hüpfen kleine Frösche, vermutlich junge Kröten, scharenweise auf der Straße herum. Wenn ein Auto vorbei fährt, bekommt das einigen nicht so gut. Nach einigen Rettungsversuchen geben wir es auf.

Spät wird es dann nicht mehr, die arme Genja ist von der vielen Arbeit müde, Janek mehr vom Abschiedfeiern mit den 6 Gästen am Abend zuvor.

Sonntag, 19.7., Plochocin

Wir haben einen guten und festen Schlaf, aber mit dem Ausschlafen wird es wieder nichts. Der Hahn kräht kurz nach dem Morgengrauen sehr vernehmlich unter unserem Fenster. Für Janek gehört der Sonntagvormittag der Kirche, während des Frühstücks wird er schon unruhig. Genja ist da kritischer und läßt einiges vom Stapel. Daß der Pfarrer die Leute aushorche, ihnen das Geld aus der Tasche luchse, mehrere Freundinnen und Kinder unterhalte. "Er hat zwei Autos und ich nur kaputtes Fahrrad, so ist es nämlich"! Dabei ist die Situation in diesem kleinen Ort alles andere als rosig. Wegen der daniederliegenden Landwirtschaft sind viele arbeitslos. Für ein Jahr zahlt der Staat das Arbeitslosengeld, danach müssen die Gemeinden für den Unterhalt aufkommen. Wo das Geld herkommen soll, weiß keiner.


Bankau

Rulau
Nach dem Frühstück setzen sich Heidi und ich auf die heute mal unbepackten Räder, besuchen die Güter Bankau und Rulau. In Bankau ist ein Kindergarten untergebracht. Rulau wird wohl noch bewirtschaftet, es geht das Gerücht, daß ein früherer Besitzer es womöglich wieder übernehmen werde. In einem Hof sind eine Vielzahl von Traktoren zusammengezogen worden, sie sollen teils ausgeschlachtet, teils verkauft werden. Zurück fahren wir über Walubie.

Janeks Hühnerstall
In Plochocin besuchen wir kurz den Friedhof, anschließend führt uns Janek nochmal dorthin und erklärt einige Gräber der früheren Gutsverwalter oder aus der Verwandschaft. An einem Grab von 1945 ist eine Ecke abgesprungen, darunter gähnt dunkel die Gruft - gruselig! An einem anderen Grab findet sich ein Konterfei einer bildhübschen jungen Frau, die mit 25 Jahren gestorben ist. Weil wir neugierig sind, erzählt uns Janek, daß sie in einem Krankenhaus gearbeitet habe und an einer Sepsis gestorben sei.

Wenig später sitzen wir am Mittagstisch, die Kartoffeln sind erst heute morgen geerntet. Gut können wir eine kleine Mittagsruhe gebrauchen, nachdem wir die vergangenen Tage immer in Aktion waren. Bald gibt es aber auch schon wieder Kaffee, mir schmeckt der Kuchen besonders gut.

Für den Nachmittag ist ein Besuch bei Lucie, Genjas Tochter in Walubie angesetzt. Wir fahren allemann mit dem Fahrrad dorthin. Wir werden herzlich empfangen, die sprachlichen Probleme werden durch Zeichensprache oder Genjas Übersetzungskünste bewältigt. Marian, Lucies Mann, sorgt dafür, daß man immer ausreichend mit Piwo und Papierosy versorgt ist. Mir ist noch ganz blümerant nach dem vielen Kuchen. Dann wird das ganze Wohnzimmer umgeräumt und eine große Tafel aufgetragen. Da muß man zulangen, ob man will oder nicht. Schnaufend begeben wir uns dann in den Garten, da wird allerhand Gemüse angebaut, es gibt ein Treibhaus mit Tomaten, - zig Hühner und Enten. Ein 6 Wochen alter Schäferhund namens Dingo liefert lustige Einlagen, da gibt es keine Sprachprobleme. Auch unsere Fahrräder müssen ausprobiert werden. Die polnischen Fahrräder sind natürlich technisch noch etwas einfacher konstruiert.

Wieder im Haus, wird der Fernsehapparat vorgeführt. Das ist ein russisches Produkt. Schnaufend gelingt es Marian endlich, ein Programm einzustellen. Als er zum Beschweren eine Blumenvase mit Plastikblumen auf dem klapperigen Schaltkasten plaziert, kann auch ein Wackelkontakt überlistet werden. Dann gucken wir alle einträchtig den Quatsch, der da aus dem Kasten quillt, Tom und Jerry oder sowas.

Was wir erst später rauskriegen, Marian hat mal im Lotto gewonnen, davon konnten sie das Haus bauen. Heute ist die Situation weniger rosig, weil er arbeitslos ist. So nebenher arbeitet er aber trotzdem, wie das viele tun. Tochter und angehender Schwiegersohn tauchen dann auf, die betreiben eine Gärtnerei und fahren an den Wochenenden bis rauf nach Danzig, um ihre Produkte zu verkaufen.

Am Abend rollen wir zurück nach Plochocin. Wir können Genja überreden, nicht auch noch ein Abendbrot aufzutischen. Ganz gemütlich sitzen wir vor der Bank am Haus, es ist ein herrlicher Abend. Daß uns nicht langweilig wird, dafür sorgt Kruzcina, die ständig Unsinn im Kopf hat. Einmal bellt sie einen Wäschepfosten an, weil ein Rotschwanz sich auf dessen Spitze niedergelassen hat und frech herabäugt. Dann geht es wieder in vollem Tempo an das Tor zur Straße, weil vielleicht ein Moped vorbeituckert. Auch die Nachbarn werden gebührend erkennungsdienstlich behandelt. Dann geht es wieder auf die Ameisen los, die aus den Ritzen der Eingangstreppe krabbeln.

So wird der letzte Abend in Plochocin verklönt, morgen werden wir weiterziehen.

Montag, 20.7., Plochocin - Graudenz - Allenstein

Wir sollen zwar noch länger bleiben, aber uns drängt es weiter, wir wollen noch viel sehen. Zunächst steht Heidis Geburtsstadt Graudenz (Grudziadz) auf dem Programm. In ihrem Paß steht dank dienstbeflissener Paßbeamten bereits der polnische Name Grudziadz eingetragen. 20 km fahren wir heute am frühen Morgen mit dem Fahrrad auf die Weichsel zu.


Mohnblumen


Wegwarte
Eine undankbare Holperstrecke - die einzige der gesamten Tour - vermasselt uns die Bergabfahrt zur Weichsel hinunter. Das Erreichen eines großen Stroms ist immer ein Erlebnis. Jeder Strom atmet die Kultur, die sich entlang seines Laufs befindet, das spürt man irgendwie. Die Weichsel fließt auch in einem Urstromstral, deswegen sind nicht weit von ihren Ufern leichte Anhöhen und Berge. Graudenz ist schon von weitem auszumachen, große Wohnblocks ragen über den Horizont. Erst ein Blick über den Deich offenbart: die Festung Graudenz liegt bereits auf der anderen Seite des Flusses.

Besondere Beobachtung auf dieser Strecke: es wird Tabak angebaut, aufgefädelt auf Stangen werden die Blätter in der Sonne getrocknet. Dann fahren wir über die Weichselbrücke, mehrere Stahlbögen überspannen den Strom und angrenzende Wiesen. Sandbänke liegen im Fluß, trotz des heißen Tages heute ist das Wasser aber wohl nicht gerade eine Einladung zum Baden.


Weichselbrück


Festung Graudenz
In der flirrenden Hitze suchen wir erstmal den Bahnhof auf, um die weitere Tagesplanung in den Griff zu bekommen. Die Bahnverbindung nach Nikolaiken ist für uns nicht geeignet, da würde man erst gegen 23 Uhr eintreffen. Bleibt nur, bis Allenstein zu fahren und dort ein Quartier zu suchen. Bis zur Abfahrt des Zuges werden die Fahrräder mit dem Gepäck in der Aufbewahrung abgegeben.

Ein paar Stunden haben wir nun Zeit für Graudenz. Immer auf der Suche nach Schatten streben wir der Innenstadt zu. Blick in eine Kirche, eine kleine Seitenstraße entlang, dann erreichen wir die Festung. Man hat einen schönen - früher sicher mehr aus strategischer Sicht beurteilten - Blick auf die Weichsel. Wenn man von unten an den hohen Mauern emporblickt, kann man sich eine Eroberung dieser Bastion zumindest mit den damaligen einfachen Mitteln nur schlecht vorstellen. Heute ist es ja kein Problem, wie z.Zt. in Jugoslawien eine seit über einem Jahrtausend gewachsene mittelalterliche Stadt innerhalb von Monaten, Tagen oder auch Minuten in Schutt und Asche zu legen. Fortschritt!

Über Treppen gelangt man wieder hinauf und betritt zwischen alten Mauern die Altstadt (Stare Miastro). Rathaus und Marktplatz liegen vor einem.

Marktplatz Graudenz
In einem Büro für Touristeninformation lachen uns Prospekte entgegen: Hansapark Sierksdorf. Wir wollen aber nur einen Stadtplan von Graudenz, der ist schwieriger zu finden.

Müde von der Besichtigung landen wir endlich mal in einem kühlen Cafe. Danach versorgen wir uns in einer Bank mit frischen Millionen, in einer Woche sind wir bisher mit 500 DM ausgekommen, Hotel- Bahn- und Verzehrkosten zusammengenommen. Natürlich zählen die zwei Tage bei Genja nicht, das hat Heidi anders geregelt.

In der Bank müssen wir nach Aushändigung einer Nummernplakette etwas warten, da lassen sich schöne Beobachtungen machen. Der Vergleich mit einem Hühnerhof ist nicht von der Hand zu weisen: es gibt eine Hackordnung, bei Unklarheiten bilden sich sofort Pulks, wo kopfnickend oder -schüttelnd debattiert wirdn. Wer dabei nicht beteiligt ist, stempelt laut knallend Dokumente mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Diese Tätigkeit macht offenbar am meisten Spaß, das merkt man den Leuten richtig an. Bei uns klappt auch alles gut mit den Traveller-Schecks, millionenschwer treten wir hinaus in die Hitze.

Auf Umwegen kommen wir wieder beim Bahnhof an, lassen uns die Räder geben. Der Zug nach Jablonowo Pomorskie, wo man nach Allenstein umsteigen muß, steht schon auf dem Bahnsteig. Es ist ein Nahverkehrszug mit Dopelstockwaggons, die sind so geräumig, daß man die Räder mit Gepäck bequem verstauen kann. Der Zug zuckelt dann auch gemächlich fast eine Stunde auf den 20 km. In Jablonowo Pomorskie nützt auch das Umherschauen nichts, hier ist wirklich nichts los. Eine Stunde Wartezeit verbringen wir in einem schattigen Park.

Als der Zug nach Allenstein einrollt, sind wir enttäuscht, daß dies nicht auch ein Doppelstöckiger ist. Es gelingt kaum, die Räder in den Gang hineinzuzwängen, zumindest kommt hier keiner mehr vor oder zurück. Erst nach dem Anfahren kann ich die Gepäckstücke abschnallen und die Räder so sortieren, daß es etwas besser aussieht. Einen Platz in einem Abteil kriegen wir ohnehin nicht, der Zug ist überfüllt. Im nächsten Abteil wäre zwar genug Platz, aber da schläft einer seinen Rausch aus, da will keiner rein. Wir blockieren eine Toilette und eine Einstiegsseite, bei jedem Bahnhof müssen wir die Leute umleiten. Einmal gelingt das zu spät, da fährt der Zug schon an, womöglich hat da einer wegen uns den Zug verpaßt.

Eine in Deutsch Eylau (Ilawa) einsteigende Dame mit erwachsenem Sohn sieht aus wie eine ehemalige Gutsbesitzerstochter. Das Vokabular, mit dem sie ihren Sohn gängelt, läßt weniger darauf schließen, daß sie einer vornehmen Herkunft entstammt. Als wir uns Allenstein nähern, streben immer mehr Fahrgäste den Ausstiegstüren zu. Die Türme der Stadt sind schon zu sehen. Dann hält der Zug, wir beginnen hastig mit unserem Gerödel. Tür auf, die Gepäcktaschen raus, dann das erste Fahrrad, eine dickliche Dame steht sehr hinderlich im Türrahmen, sie wird mit dem Lenker weggefegt, die Lampe von Heidis Rad klonkert auf den Bahnsteig. Endlich bin ich auch mit allen Sachen draußen, der Schaffner wartet schon. Komischerweise sind wir die einzigen, die ausgestiegen sind. Ein Blick zeigt dann auch: das ist erst ein Vorort von Allenstein...

Aber es geht noch weiter: ersteinmal die Lampe montieren, das ist ein Handgriff, dann dem eigenen Fahrrad zuwenden - da fällt Heidis Rad krachend um, auf den anfahrenden Zug zu, nur um Zentimeter mahlen die Räder an der teuren deutschen Fahrradtechnik entlang. Heidi schmeißt sich auf die Knie und reißt das Rad zurück, ich zupple auch noch ein wenig mit, dann ist der Zug weg, nichts passiert. Quer über dem nächsten Bahnsteig liegt einer in tiefem Schlaf, der hat von allem nichts gemerkt.

Wir begeben uns in das moderne Zentrum von Allenstein. Eine vierspurige Straße soll als Lebensader dienen, macht aber eher den Nicht-Autofahrern das Leben schwer. Vom Rathaus aus lassen wir uns den Weg zu einem Hotel erklären. Es heißt Warminski und ist sehr ordentlich.

In den historischen Teil von Allenstein ist es von dort ein ganzes Stück zu laufen, aber der Weg lohnt sich. Zum alten Marktplatz führt ein freistehendes Stadttor. Hinter dem Marktplatz ist noch eine Burg mit einem Museum über das Ermland. Daneben ein Freilichttheater.


Allenstein

Dienstag, 21.7., Allenstein - Nikolaiken - Ryn (Rhein)

Wir sind fast schon in Masuren. Heidi murmelt schon seit ein paar Tagen etwas von Erholung und Urlaub, soll wohl heißen: nicht mehr soviel radfahren und an einem schönen Ort verweilen. Dem wollen wir uns nun widmen. Um 9 Uhr sitzen wir im Zug nach Nikolaiken. Wir spendieren uns die 1. Klasse, müssen aber beim Schaffner nachlösen. Der muß dafür größere Schreibarbeit verrichten, so um die 4 DM müssen wir nachzahlen. Die Räder stehen heute sehr ordentlich im Gang. Vom Zug aus kann man allerhand sehen, Felder, Wiesen und Wälder, kleine Seen, Störche, Campingplätze und deutsche Reisebusse. Gespannt steigen wir in Nikolaiken, dem Herzen von Masuren aus. Von der Bahnhoftstoilette kehrt Heidi fluchtartig zurück, drei halbvolle Zuber..., ersparen wir uns eine nähere Beschreibung.

Nikolaiken liegt zwischen dem größten masurischen See, dem Spirdingsee, sowie dem langgezogenen Talter See. Groß ist der Trubel, Rucksacktouristen bevölkern den Marktplatz.


Nikolaiken
Am Seeufer gibt es einen American Night Club. Das muß man alles nicht haben. Wir trinken einen Kaffee, doppelt so teuer wie bisher unterwegs. Also hier wird man die unendliche Weite und Stille Masurens wohl kaum finden. Vielleicht läßt sich auf der Straße Richtung Norden, die direkt am Talter See langführt, etwas finden. Schon in der ersten Ortschaft: Zimmer frei. Vor einem Neubau sitzen ein paar Leute auf einer kahlen Terrasse unter einem Sonnenschirm. Ein paar Meter weiter eine Pension, alles gut betoniert für die Autoparkplätze, ein Auto steht dort mit Gifhorner Kennzeichen, ein paar beleibte Herren in Sonnenbrillen und Badehosen kommen eine Treppe herunter. Für uns sei angeblich kein Zimmer frei, vielleicht machen wir als Radfahrer nicht den richtigen Eindruck.

Wo finden wir die Stille Masurens?

Nun herrscht gerade die größte Mittagshitze und ich dränge auf Weiterfahrt. Heidi hätte wohl lieber das "Zimmer frei" genommen. Wir fahren über Schotterwege, weitere Ortschaften gibt es nicht. "Kehren wir um?" schlage ich, Böses ahnend, vor. "Jetzt kehr' ich nicht mehr um" ist die unwirsche Antwort, und damit endet jede weitere Unterhaltung. Schade, die Landschaft ist wirklich hübsch, sogar einsam, die Straßenbäume machen die Hitze noch erträglich. Aber alles andere ist ungewiß. Es bleibt uns nur übrig, nach Ryn (Rhein) zu fahren, dort soll es ein Hotel geben. "Der See stinkt bis hier oben" ist Heidis Kommentar, als wir nach 20 km Fahrt Ryn erreichen. Passend zu unserer Stimmung haben wir es mit einem armseligen Nest zu tun.

In der Ortsmitte setzen wir uns auf eine Bank und gucken dumm. Das bemerken ein paar sonderliche Gestalten sehr schnell, kommen erst langsam, dann schneller näher, schon sitzen sie mit auf der Bank. Wie immer in solchen Situationen sind wir ganz schnell auf den Beinen. "Mein Vater Deutscher, Hermann" sagt einer zu uns, blond 18 Jahre, schadhafte Zähne. Mehr als "Aha" fällt uns auch nicht dazu ein. Wir fragen nach dem Hotel, das ist schräg gegenüber. Nun wird "Deutscher Vater Hermann" wie er fortan für uns heißt, konkreter. Er will Geld, ein Zweimarkstück, oder sowas. Ich gebe ihm 2000 Zloty, da wird er ganz blaß, das sind 25 Pfennig, da hatte er sich wohl mehr versprochen. Daß er nicht mehr verdient hat, wird sich noch zeigen.

Im Hotel klappt alles nach Wunsch, ein deutsch sprechendes Mädchen hilft an der Rezeption aus. Sie erklärt, wo man baden könne, in dem großen See bloß nicht, sondern hinter der Burg, in einem kleinen Waldsee. Der sei biologisch intakt. Nach dem Einräumen machen wir uns gleich auf den Weg. Die Badestelle ist eine versandete Grasfläche, im Wasser befindet sich ein im Geviert gebauter hölzerner Steg, innerhalb dessen kann man schwimmen. Immerhin sieht man weiter hinten etwas Wald über der Wasserfläche des Sees. Doch das Wasser ist schön erfrischend an diesem heißen Tag. Auch hier laufen ein paar zweifelhafte Gestalten herum, ein paar ganz coole Jugendliche schwenken thriumphierend eine Flasche, deren Inhalt wir sicher richtig erraten. Zwei Farbige verhandeln ständig mit irgend jemand und fahren dann mit einem Auto weg.

Ryn (Rhein)
Auf dem Rückweg schauen wir die Überreste der Burg an, viel Staat kann man damit nicht machen. Wir gehen am Ufer des großen Sees entlang und landen wieder beim Hotel. Knapp können wir einem Rollstuhlfahrer entgehen, der - sicherlich eine arme Kreatur - aber nur als Lockvogel der "Deutscher Vater Hermann" - Bande benutzt wird, um Geld für den Tageskonsum an Zigaretten und Alkohol zu erbetteln. Vom Hotel aus können wir gut beobachten, wie systematisch jedes Westauto unter die Lupe genommen wird, ob man den Insassen was abluchsen, ihnen einen Gefallen tun kann, vielleicht liegt ja auch mal was Brauchbares in Griffweite. Wir rechnen uns einmal vor, was diese Brüder für einen Schaden anrichten. Was sie allein an einem Tag anstellen, wird an hundert andere zu Hause weitererzählt und bildet ein dunkles Mosaiksteinchen in dem Bild über Polen.

Wie wir so im Restaurant sitzen und sinnend aus dem Fenster schauen, taucht auf der Straße mit einem Male ein schwitzender Radfahrer auf und quält sich den Berg hinauf. Besonderes Kennzeichen: eine abschließbare Gepäckbox auf dem Gepäckträger. Und da ist schon der nächste, die gleiche Box, dann noch einer und noch einer, alle nicht gerade taufrisch, aber auch alle die gleiche Gepäckbox. Hinterdrein rollt ein Bus mit Anhänger: "Hanseatic Bus-Radreisen". Wir lachen uns kaputt.

Nach dem Essen versuchen wir nochmal unser Spiel mit "Deutscher Vater Hermann". Ihn scheinbar nicht beachtend, beobachten wir ihn aus den Augenwinkeln, wie er sich bei unserem Spaziergang auf unsere Fährte setzt. Daraufhin wird umgedreht, das wiederholt sich nochmal, dann verziehen wir uns in ein Restaurant. Die Bande ist inzwischen merklich angetrunken, vielleicht sollte man sie nicht zu sehr reizen. Sich in diesem Ort noch im Dunkeln zu bewegen, das fällt uns gar nicht ein.

Aber zur Ruhe kommen wir auch noch nicht. Fast bis 23 Uhr plärrt die Diskomusik unten im Hotel, obwohl nicht ein einziger Gast da ist. Aber der Diskjockey muß wohl seinen Job machen. Heidi faßt sich ein Herz und geht sich über diesen Schwachsinn beschweren. "Wir sind Hotel-Tester" läßt sie wissen - das hilft.

Mittwoch, 22.7., Ryn - Gizycko (Lötzen) 42 km

Also Ryn hat sich als Ferienort nicht empfohlen. So müssen wir nochmal in die Pedalen, kurz nach 7 Uhr sind wir unterwegs. Heute wird es heiß. Ich habe eine Straße ausgesucht, die durch die hinterste Botanik führt, Ziel ist dann der Niegocin See. Zuerst geht es ganz gut voran auf einer Schotterstrecke. Nach einem letzten Gehöft aber wird die Strecke sandig. Wir müssen schieben. Wenn es so weiter geht, sind es laut Karte noch c.a. 8 km bis zur nächsten befestigten Straße...

Sandschlacht
Es ist noch nicht 9 Uhr, aber die Sonne brennt schon so stark, daß der Schweiß in Strömen fließt. Wir haben ganz großes Glück, nach gut zwei Kilometern verfestigt sich der Weg wieder, dann folgen Lochplatten aus Beton, geradezu eine Wohltat. Ganz übersehen wir auch nicht die Reize der Landschaft zwischen Ryn und Szymonka (Schiemonken).

In Szymonka werden wir kurz vor 9 Uhr an einem Laden auf unfreundliche Art abgewimmelt. Es ist noch nicht geöffnet, weil es noch nicht 9 Uhr ist. An einem anderen Laden machen wir unsere Frühstücksrast. Es entwickelt sich folgender Dialog, der sich mehrmals wiederholt:

"Einen Orangensaft!"
"Jädän?"
"Nein, nur einen, nicht für JEDEN".

Erklärung: "Jädän" heißt auf polnisch eins. Ich muß 100 Tausend Zloty wechseln, da macht die Kauffrau eine größere Aktion draus, indem sie einen Kasten hervorkramt und mit Schwung einen 1000 Zloty Schein nach dem anderen auf den Tresen schweben läßt. Große Freude, wenn ein 10.000 Zl. Schei dabei ist. Mit prallen Taschen geht's nach draußen. Eine weitere Auseinandersetzung hat Heidi beim Abliefern der leeren Plastikflasche. Ob die wiederaufgefüllt werden soll (in Zeichensprache). Heidi sagt "Plastik, weg!", dann fahren wir weiter.

Einigermaßen häufig sieht man mittlerweile deutsche Autos. Es kann aber keine Rede davon sein, Masuren sei "fest in deutscher Hand". Schließlich ist hier eines der beliebtesten Feriengebiete der Polen, die aber wieder mehr zum Billigurlaub neigen, d.h. Camping oder einfache Holzhütten bevorzugen. Infolgedessen ist das Ferienappartement, wie es uns vorschwebt, nirgends zu finden. Wir machen einen Abstecher zum Übergang von Jagodne- zum Löwentin-See. Das Wasser sieht schlimm aus, ganz grün und unappetitlich.

Ein masurischer See
In Strelzce an einem größeren Campingplatz mit Restauration machen wir Pause, man bekommt endlich wieder mal einen Kawa. Die Hitze haut uns fast um. Und mit diesem Platz können wir uns auch gewiß nicht anfreunden.

Beim Fahren ist es mit der Hitze nicht ganz so schlimm, der Fahrtwind kühlt etwas oder man fährt unter Bäumen. Der nächste Hoffnungsschimmer, ein modernes Hotel mit Freizeitgelände im Wald neben der Straße. Natürlich stehen hier mehrere deutsche Reisebusse, u.a. "Hanseatic Bus-Radreisen" - dn kennen wir schon. Kaum verwunderlich, daß in dem Hotel alles ausgebucht ist. Von der Umgebung hätte es uns hier gefallen können. An der Rezeption wird uns aber eine Privatadresse genannt: Gizycko (Lötzen), Familie Eugen (Georg) Lubas, Slowjanska 27. Vorher kommt aber noch der Vorort Wilkasy, da könnte man evtl. auch noch was finden.

In Wilkasy wird zwar viel gebaut, aber es macht keinen einladenden Eindruck. Eine Ferienwohnung ist wieder nicht auszumachen. Schauen wir uns also das Privatquartier mal an. Wie bei allen Städten graust es einen, wenn man in den Ort hineinkommt. Zuerst Industrie, Bahngelände, dann die allgegenwärtigen Einheitswohnquartiere.

Statt in das Zentrum geraten wir auf der Umgehungsstraße an das andere Ende der Stadt. Nach Befragen einer Dame, die uns auf polnisch wortreich den Weg beschreibt, schlagen wir wenigstens die richtige Richtung ein und kommen vor dem Hotel WODNIK raus. Ein Parkwächter hat einen Stadtplan: Westernplatte, Bahnhof und Gdanska, dann sei man gleich da. Wir fahren zunächst die Warszawska lang, die Hauptstraße von Lötzen. Sie ist gesäumt von Linden. Auf dem ehemaligen Marktplatz vor der Kirche stehen die Bäume in Viererreihen, Bänke zum Ausruhen, viele Geschäfte und ein buntes Treiben. Das macht schon einen besseren Eindruck als gestern der Ort Ryn.

Lötzen


Kapitel 3