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Polen Pur 14.7. - 30.7.92

Planung

Zweimal Polen in einem Sommer? Das spricht zumindest für das erste Mal. Im Mai bin ich mit Kollege Rainer B. bis Danzig vorgedrungen. Wir waren uns einig, daß es eine Traumtour war. Ein Nebengedanke der ersten Tour war auch, vielleicht ein Ziel für den Sommerurlaub auszukundschaften.

Wieder zu Hause, fällt es mir nicht schwer, wenigstens Heidi für eine Rad- und Erlebnistour in Polen zu überzeugen. Bei den Kindern ist das zwecklos, mit Ferienpaß und der lockenden häuslichen Freiheit sind sie vollauf zufrieden.

Was machen wir? Eine Idee war, den Weg der Flucht 1945 von Heidis Familie nach dem Krieg nachzuvollziehen. Über ein viertel Jahr hatte die Flucht gedauert, Zitat aus der Zeit: "Wie viel Kollometer noch?" Aber Heidis Brüder können sich nicht mehr auf die Orte besinnen. Heidi war vier Jahre alt und hatte damals wie heute kein ausgesprochen ausgeprägtes geografisches Orientierungsvermögen. Da entschließen wir uns zu folgendem Plan: das Ziel ist "Plochocin" bei Graudenz, wo Peter, Achim und Heidi ihre erste Kindheit verlebten, den Start sehen wir in Frankfurt/Oder vor.

Die Wegrichtung ist natürlich im Gegensatz zu damals die umgekehrte: von West nach Ost. Die Zeit der Starre, die 40 Jahre gedauert hat, ist vorbei, für die Einreise nach Polen ist Visumspflicht und Zwangsumtausch seit einem Jahr abgeschafft. Allerdings sind unsere Reisepässe abgelaufen, was wir wie immer recht spät merken. Für diesen Zweck gibt es Notpässe, die für ein Jahr ausgestellt sind.

Dann wird ein neues Fahrrad spendiert, das kostet etwa soviel, wie sonst eine normale Autoreparatur. Marke Herkules, hoher Lenker aufrechter Sitz, Fünfgangschaltung Pentasport. Ab sofort fährt Heidi freiwillig mit dem Rad zur Arbeit, was wir mit allabendlichem Entgegenfahren belohnen.

Nächstes Problem: Mittagkochen. Eine Bratpfanne fällt vom Stiel und verbrüht Heidi den großen Zeh mit heißem Fett. Eine Woche bleibt für die Rekonvaleszenz. Ebenso knapp wird es mit der Impfung, in einer Zeitschrift (wahrscheinlich Frau im Spiegel) war zu lesen, daß in Osteuropa der Holzbock oder auch Zecke große Aktivität entwickelt und bei Befallen des Opfers eine Hirninfektion auslösen kann. Unser Hausarzt bestätigt das, obwohl wir ihm nur mit Schwierigkeiten erklären können, wohin wir fahren wollen (er ist Indonesier).

Drei Impftermine werden absolviert, der letzte einen Tag vor der Abfahrt. Zum Abschluß stattet ein Kollege Heidi mit dem rechten Optimismus aus, indem er erklärt, die Wälder in Polen seien durch vagabundierende Russen verunsichert. Mir ist auch etwas beklommen, die letzte Nacht vor der Abfahrt schlafen wir gar nicht so gut.

Es sei gestattet nachträglich zwei Geschichten einzuflechten, die so am Stammtisch erzählt werden, ob sie sich tatsächlich ereignet haben, sei dahingestellt:

Eine Familie fährt zum Billigeinkauf über die Grenze und parkt das Auto vor einem Kaufhaus. Das Familienoberhaupt beschließt aus Sicherheitsgründen im Auto zu bleiben. Als die Familie vom Einkauf zurückkehrt, sind Auto und Vater verschwunden. Eine polizeiliche Suchaktion hat erst nach 3 Tagen Erfolg, da findet man den Mann mit dem Auto, er ist benommen und kann sich nicht erinnern, was mit ihm geschehen ist. Erst eine ärztliche Untersuchung bringt es an den Tag: er hat jetzt eine Niere weniger!

Die andere Geschichte handelt von einem Opa, der aus Polen nach Deutschland zu Besuch kommt. Leider segnet er während des Besuchs das Zeitliche. Nun war es sein Wunsch, in seiner Heimat neben der ihn schon erwartenden Oma seine letzte Ruhe zu finden. Aber was für Scherereien und Kosten macht so eine Überführung nach Polen! Da es sich wohl um eine gleichermaßen einfallsreiche und tatkräftige Hinterbliebenschaft handelt, greifen die Angehörigen zur Eigeninitiative. Es wird eine Dachgepäckbox angeschafft, da finden die sterblichen Überreste des Opas ihren Platz. Dann fährt man mit dem Auto über die Grenze. Es geht alles gut, keine Zollkontrolle oder Inspektion. Wenig später entfernt man sich wohl einen Moment zu lange von dem Auto, als man von einer menschlichen Verrichtung zurückkehrt, ist die Dachgepäckbox mit Inhalt geklaut...

Dienstag, 14.7., Braunschweig - Frankfurt - Sulecin

Im Morgengrauen aufstehen, die Sachen sind bereits gepackt, kurz nach 6 Uhr fährt unser Zug nach Berlin. Es fängt an, zu regnen. Erst wenig, dann stärker, dann wieder weniger. Als wir uns auf den Weg zum Bahnhof machen, jedenfalls wieder stärker. Wir kommen zwar ohne Regenzeug aus, doch sind wir am Bahnhof schon angefeuchtet. Welch ein Trost, daß wir nun im Trockenen sind, es regnet sich so richtig ein. Die Fahrräder in den Gepäckwagen, wir sitzen im Abteil und schauen schweigsam aus dem Fenster, wo der Regen versucht, die neuen Bundesländer, in diesem Fall Sachsen Anhalt und Brandenburg, reinzuwaschen. Berlin Hbf., zwei Stunden Aufenthalt. In der Wartehalle vertreiben wir Zeit und Hunger, immerhin aufgeheitert durch mancherlei aufgeregte Reisende, z.B. zwei gleichgekleidete Omas, die sind wohl Zwillinge. "Peinlich in dem Alter" meint Heidi. Ab und zu schaue ich vor die Tür, um ein Nachlassen des Regens zu melden - vergeblich. Zwei Bänke weiter feuchten sich ein paar Kumpane gründlich von innen an.

Endlich ist unsere Zeit gekommen, wir begeben uns mit den bepackten Rädern die unvermeidlichen Treppen hinauf (ich trage die Räder, Heidi die Verantwortung) auf unseren Bahnsteig. Der Zug Halberstadt - Frankfurt/Oder, auf den wir warten, hat laut Anzeige 15 Min. Verspätung. Dann 30 Minuten. Lautsprecherdurchsage: 45 Minuten wegen Lokschadens. Pünktlich im 15 Minutentakt wird nachgebessert, schließlich landet man bei 75 Minuten. Zum Lohn fährt der Zug nun auch noch auf dem anderen Bahnsteig ein, also Treppe runter und wieder hoch, Heidi trägt wieder die Verantwortung. Wegen des Lokschadens hat unser Zug zwei Lokomotiven, Heidi verwechselt die zweite mit dem Gepäckwagen, gerade noch kann ich sie zurückrufen, sonst hätte sie mit dem Fahrrad das russische Dieselungetüm (Taigatrommel) geentert. Wir landen in einem Abteil für Rollstuhlfahrer, da ist viel Platz und wir können uns erstmal entkrampfen. Wenn wir mit der Bahn fahren, ist immer was los, man wird noch sehen...

Einigen Radfahrern in Fürstenwalde geht es auch nicht gut, die Schaffnerin ist gerade mit einer Zigarette beschäftigt und versäumt, den Gepäckwagen zu öffnen. Als einer der Radfahrer protestierend an der Abteiltür erscheint, heißt es lapidar "Nu fahrn mr ab". Klappe zu, dumm gucken die da draußen dem abfahrenden Zug nach. Heidi, wie es ihre Art ist, sagt beim Aussteigen in Frankfurt der Schaffnerin die Meinung.

Derweil trage ich die Räder wieder treppab treppauf der Frankfurter Innenstadt entgegen. Alle Straßen sind trocken, hier hat es noch nicht geregnet. Als wir den Bahnhofsvorplatz betreten, geht es aber los. Wir legen unsere Regenmontur an. Der Nachmittag hat schon angefangen, irgendwie wollten wir eigentlich eine Radtour machen.

Für eine Stadtbesichtigung fehlt es uns an Zeit und Muße, immerhin meinen wir, die Universität, ein großes Postgebäude, eine Kirche und das Rathaus als Eindrücke von Frankfurt an der Oder in uns aufgenommen zu haben.


Frankfurt/Oder
Dann aber haben wir Glück, der Regen hört auf, und wir bemerken es sofort, als wir im Begriff sind, die Abzweigung zum Grenzübergang zu verpassen. Wir gehen zu Fuß, die Räder schiebend, die provisorischen Pässe in der Hand. Auf der Oderbrücke stauen sich die Autos. In Polen ist alles billiger, da sucht so mancher sein Schnäppchen. Nun der spannende Moment: Grenzkontrolle. Der zuständige Beamte aber sieht durch uns hindurch, als ob wir Luft wären. Heidi will schon protestieren, ich sage nur "OK"?, und dann sind wir auf der Oderbrücke Viel gibt es gar nicht zu sehen, die Regenwolken geben ein düsteres Bild, die Oder sieht grau aus. Aber wenn man da so hinübergeht, kriegt man innerlich oder auch äußerlich eine Gänsehaut, denn man überschreitet eine Grenze zwischen zwei Welten, immer noch.

Auf der anderen Seite der Oder, Slubice heißt das hier, warten Taxis auf zahlkräftige Kauflustige, die statt bei Aldi in einem der zahlreichen Bazars oder wie immer die Einkaufszentren sich nennen, ihren Reibach machen. Wir halten uns rechts Richtung Kunowice. Im letzten Moment fällt uns ein, daß wir ja Geld tauschen müssen, später auf dem platten Land wird das schwieriger oder unmöglich. Heidi paßt auf die Räder auf, ich tausche in vornehm ausgestatteten Bankräumen ein paar Millionen Zlotys ein (8900 Zl. für 1 DM). Zur Strafe fängt es wieder an zu regnen (stärker). Notdürftig stellen wir uns unter dem Vordach der Bank unter: aber dann muß es doch weiter gehen, soll unser Polenabenteuer jetzt schon in's Wasser fallen?

Zunächst scheint es so zu sein. Der Regenguß verstärkt sich, unter unseren Rüstungen aus Plastik bleiben wir einigermaßen trocken. Für die Füße und die Fahrradketten sieht es weniger gut aus. Am besten geht es Heidis aufgeblättertem großen Zeh, der regeneriert sich in der Folgezeit zusehends. Als wir die Abzweigung von der Nationalstraße auf unsere geplante Nebenstrecke nach Kunowice erreicht haben, versuchen wir noch einmal, dem Regenguß unter Bäumen zu entgehen. Aber auch das ist zwecklos, hier fallen die Tropfen weniger dicht gestreut, dafür dicker. Die Straße ist wie ein Bach, das Wasser rinnt in Strömen. Wo es flach ist, bilden sich geradezu Seenplatten.

Alles geht mal vorbei, so auch dieser Regen. Immer wenn ich den Regenschutz endlich ablege, kommt allerdings wieder ein Schauer. Heidi behält stur ihren Umhang an und hat wie immer Recht. Nun hat sie aber auch Durst, und wir haben nichts zu trinken dabei. Endlich finden wir in einem kleinen Dorf einen "Sklep", das sind kleine Läden, wo man alles bekommt, was man unterwegs zur Verköstigung benötigt.

Rathaus in Osno Lubuskie
Die Ortschaften, die wir durchfahren, sorgen für Abwechslung. Kleine Anwesen mit Gänsen und Hühnern, Höfe und Schuppen, wo jeder seinen eigenen Odnungsbegriff verwirklicht. Die Wegränder blühen durcheinander, einmal sehen wir einen leuchtenden Busch Heiderosen. Der erste größere Ort heißt Osno Lubuskie (Drossen), ein Marktplatz, gemütliche Straßen mit kleinen Geschäften. Heidi gefällt es, und mir gefällt es, daß es Heidi gefällt. Bisher habe ich ja noch nicht viel Glanz mit der groß angepriesenen Tour sammeln können. Gerade die erste Etappe auf Radtouren hat so ihre Eigenart, in diesem Falle hat sich Heidi ganz auf meine Planung verlassen. Bloß bin ich meiner Sache alles andere als sicher. Schließlich war man ja auch noch nicht hier, wo ist eine Übernachtungsmöglichkeit, wie wird man mit den Menschen zurechtkommen?

Laut Landkarte ist in Sulecin (Zielenzig) ein Hotel, das bedeutet diesen Nachmittag 50 km, was ja auch kein Pappenstiel ist. Heidi radelt munter mit, ergötzt sich an den "Hündis", das sind die Promenadenmischungen aller Art. Das jeweilige Temperament erkennt man meistens an der Stellung der Fledermausohren. Wir Radfahrer werden i.a. nicht für würdig befunden, einer näheren Inspektion unterzogen zu werden. Darüber sind wir ganz froh.

Dann ist Sulecin erreicht, ein abschließender Regenschauer, damit man nicht übermütig wird. Auf dem Marktplatz fragen wir einen Taxifahrer nach dem Hotel. Er zeigt uns über die Schulter, wir brauchen uns nur umzudrehen. Da steht ein Kasten, da würde man als normaler Mensch einen Bogen herum machen. Aber wir sind Fahrradfahrer. Die Pässe in der Hand wage ich mich in dieses Etablissement. Doch siehe da, sehr freundliche Leute, "Zimmer ist frei, Ring an Finger?" Daß wir legalisiert sind, gemeinsam ein Doppelzimmer zu bewohnen, beweisen schließlich auch die Pässe. Freudestrahlend berichte ich Heidi, die derweil draußen bei den Rädern wieder die Verantwortung trägt, daß alles paletti sei. Die Räder in den Keller "Bagage mehr als Auto", schließlich haben wir für alle Fälle eine komplette Zeltausrüstung dabei. So schnaufen wir dann eine Treppe hoch, den Zimmerschlüssel in der geballten Hand und atmen auf.

Kirche und Restauracia in Sulecin
Nach dem Einrichten und Trockenlegen des nassen Gepäcks machen wir uns zum Essen auf. Nebenan ist eine Restauracia, an einem von 2 freien Tischen setzen wir uns nieder. Wehende Gardinen, aber freier Blick auf den Marktplatz, wo der fidelere Teil der Einwohner dem Klönschnack oder dem Alkoholkonsum unter Baumgruppen stehend nachgeht. Die allgegenwärtigen Hündis hecken ihrerseits ständig Unsinn aus und flitzen zwischen den Bäumen herum. Die Küche des Restaurants ist bereits geschlossen. Der Kellner zeigt sich aber bereit, uns auf eigene Faust aus der Patsche zu helfen. Wir sehen ihn hinter der Theke hantieren, er öffnet eine Dose, wärmt auf, kommt dann stolz mit zwei Suppentassen. Die Suppe heißt "Laki" oder "Flacki" oder so, jedenfalls enthält sie recht eigenartige Fleischstreifen, die auf einer Seite ganz faserig sind. Heidi bekommt ein Hohlkreuz, "das kann ich nicht essen". "Das geht doch nicht, schließlich hat der sich so bemüht!" Jedenfalls ißt Heidi nur das Dünne, ich drücke alles weg, nur Heidis Teller kann ich nicht auch noch leer essen. Zwei Piwo (Bier) erleichtern das Ganze etwas. Natürlich ist der Kellner pikiert, daß eine Suppe nicht alle ist.

Zahlen, das Trinkgeld wird unter den Teller geschoben, und aufatmend, aber nicht gerade gesättigt, begeben wir uns auf einen Rundgang. Am ersten Tag in einem fremden Land sind die Sinne geschärft, es fallen einem viele Einzelheit auf, an die man sich später gewöhnt. So sind die Wohnverhältnisse offenbar recht bescheiden, auf den Balkons hängt Wäsche. Aber auch Blumenschmuck findet sich. Ein Vorgärtchen, 1 qm groß, umgeben mit einem Zaun aus geschnitzten Holzlatten, gemähter Rasen. Ein Hündi steht an einem Abfalleimer und kaut sich eins, als er sich beobachtet fühlt, kläfft er uns an. Wir wenden uns diskret ab.

Die erste Besichtigung einer Kirche, die Türen sind immer auf. Weil noch viele Kirchen folgen werden, kann ich mich an das Innere dieser Kirche auch nicht mehr erinnern. Es findet wohl gerade die Abendmesse, statt und wir staunen von hinten über die demütige Frömmigkeit, die uns Protestanten immer unverständlich bleibt.

Wieder im Hotel zeigt sich, daß man da sehr gut essen kann. Ein deutscher Ingenieur, der ist hier in Naturstein, erklärt uns alles was wir wissen wollen. Erstmal die noch nicht verkraftete Suppe von vorhin: Polnische Nationalsuppe aus Kuhmagen, Kutteln sagt man bei uns. Das hatte ich mir schon gedacht, aber nichts gesagt. Heidi hat nun Hunger und bekommt ein Bigosz, das schmeckt. Mir schmeckt heut nichts mehr so recht, es reicht eine Bouillon.

Der deutsche Tischgenosse erzählt uns viel über die polnischen Verhältnisse, was man so verdient, wie die wirtschaftliche Situation aussieht. "Jeder Pole arbeitet was nebenher, sonst kommt er nicht zurecht". Der Steinbruchdirektor verdient umgerechnet 800 DM. Andere hohe Beamte liegen ähnlich, nach unten bis zur Kindergärtnerin endet das bei 100 DM Einkommen im Monat. Dafür ist das Wohnen billig, aber für einen Liter Benzin muß man eine Stunde arbeiten. Wenn das bei uns doch auch so wäre (sagen wir als momentane Radfahrer).

Mittwoch, 15.7., Sulecin - Drezdenko (Driesen) 90 km

Die Restauration im Hotel öffnet erst morgens um 9 Uhr, so machen wir uns kurz nach acht ohne Frühstück auf den Weg. Statt auf der beabsichtigten Ortsausfahrt landen wir zunächst in einem Wohnblockviertel. Einen kleinen Jungen auf der Straße fragen wir nach dem Weg Richtung Miechow, er muß aber erst schnell zur Mutter um zu fragen. Als er wieder herauskommt, sagt er nur "Nie, nie" (ausgesprochen Nje), was wohl soviel heißen soll wie "weiß ich nicht". Nach dem Stand der Sonne orientieren wir uns schließlich richtig und erwischen die einsame Straße nach Lubniewice (Königswalde). Man hat schöne Ausblicke über reife Getreidefelder und Kiefernwälder hinüber zur Niederung der Warthe. Unsere heutige Etappe wird uns dann in die Netzeniederung führen. Netze und Warthe bilden einen Teil des Thorn - Eberswalder Urstromtales, das manchem (uns aber nicht) aus dem Schulunterricht bekannt sein mag.

Das erste Ziel ist Lubniewice, nach der Landkarte zu urteilen ein Touristikort inmitten von einigen Seen. So treffen wir auch gleich auf ein großes Ferienheim. Ich gehe hinein und frage, ob man ein Frühstück bekommen könne. An einigen Tischen speisen die Gäste behaglich. Nach einer Stunde Radfahren auf nüchternen Magen schaut man da ganz hungrig den Leuten auf die Teller.

Es wird aber kategorisch erklärt, hier sei kein Restaurant, nur die Feriengäste bekämen etwas. Im Ort sei aber eine Möglichkeit. Wir finden dann auch ein nettes Straßenlokal, nur bis 10 Uhr müssen wir noch eine viertel Stunde warten, bis aufgemacht wird. Solange schauen wir uns ein wenig im Ort um, viel ist nicht zu sehen. In dem Imbißlokal wird uns von einer netten Frau dann ein vorzügliches Frühstück serviert. Da haben wir wirklich Glück gehabt, denn kaum einmal sieht man unterwegs ein ähnliches Lokal. Überall bekommt man zwar von den ersten Morgenstunden an Alkohol oder Erfrischungsgetränke, einen Kaffee dagegen nicht unbedingt.

Nun sind wir gut gestärkt. Das Wetter entwickelt sich prächtig, der Wind bläst uns in den Rücken, der Verkehr ist schwach, die Straßen in vorbildlichem Zustand. Die Schönheit der Landschaft zu preisen dürfte dem Leser bald langweilig werden. Es ist Erntezeit und auf den Feldern und Dörfern ist Betrieb. Durch die langanhaltende Trockenheit in diesem Sommer sehen die Getreidefelder allerdings oft dürftig aus.


Storchennest auf der Kirche

An der Obra
Die Strecke bis Bledzew (Bresen) an der Obra ist ein Genußstück. Auch in Bledzew finden wir kein Kaffeelokal, dafür kann man einen kleinen Marktbummel machen.

Markt in Bledzew
Nun beginnt ein Teilstück, das auf der Karte vielversprechend aussieht. "150 km Waldrand" habe ich dieses Stück getauft. Zwischen Warthe und Netze (Notec) liegt ein riesiges Waldgebiet, das heute Puszta Notec heißt. An dessen nördlichem Rand fahren wir entlang Eingedenk der angeblich in den Wäldern hausenden Russenhorden haben wir auch kein Verlangen, diese einsamen Wälder zu durchqueren. Aber auch die Strecke an ihrem nördlichen Rand entlang ist sehr einsam, oft auch eintönig, schnurgeradeaus. In einem kleinen Ort kaufen wir eine Flasche Orangebrause und machen kurz an einer Bushaltestelle Rast. Da kommen zwei schräg aussehende Typen heran, mustern unsere Räder und stellen sich nah daneben. Schnell sind unsere Backen leergekaut, alles weggepackt und unauffällig machen wir uns von dannen. Bald kommt dann auch die Erklärung, der Bus fährt an uns vorbei, auf den haben die beiden vermeintlichen Spitzbuben bloß gewartet.

Die nächste Mutprobe kommt wenig später. Auf einem wieder sehr einsamen Teilstück überholt uns ein Lada und hält kurz vor uns an. Das Seitenfenster wird runtergekurbelt. Der Fahrer sieht aus wie ein schwarzer Zigeuner aus dem Bilderbuch, hinten sitzt eine weibliche Person im Auto, das beruhigt etwas. Er fragt uns was, natürlich verstehen wir kein Wort und machen das durch Gebärden klar. Damit begnügt sich der Mann und fährt langsam weiter. Endlich verschwindet das Auto um die nächste Kurve und wir hoffen, daß er uns nicht irgendwo auflauert. Unser Pulsschlag hat sich jedenfalls merkbar erhöht. Die gute Laune leidet auf jeden Fall beträchtlich.

Eine polnische Wirtschaft
Es ist aber nicht mehr weit bis Drezdenko, dort wollen wir nach einem Quartier suchen. Erstmal finden wir mal wieder die Ortsmitte nicht, so lernen wir gleich eine interessante Straße kennen, die wir heute noch einmal besuchen werden. Über eine Brücke erreichen wir dann doch den Marktplatz, dort geht es recht lebendig zu. Auch ein Ortsplan ist aufgestellt, wenn auch schon etwas verwittert. Ein Hotel ist auch eingezeichnet. Also auf in die Richtung: da gibt es eine Tankstelle und alles mögliche, nur kein Hotel. In dem Gebäude, was wohl einmal ein Hotel war, scheint inzwischen eine Disco zu sein.

Nester der Uferschwalben
Also zurück zum Marktplatz. Endlich finden wir einen älteren Mann, der Deutsch spricht und uns den Weg zu einem Hotel erklärt. Wir müssen an der Kirche vorbei und stehen dann vor einem Friedhof. Da kommt eine Frau mit einem Jungen heran und spricht uns gleich auf Deutsch an. Ja, das Hotel sei gleich da vorn, sie wolle uns hinbringen und alles regeln. Es handelt sich um eine kleine Pension, als Motel gekennzeichnet, die einzige Übernachtungsmöglichkeit weit und breit. Die Betreiber scheinen sehr tüchtig zu sein, es ist alles sehr sauber und adrett. Nun klappt auch wieder alles wie geschmiert, aufatmend beziehen wir ein Zimmer, Frau Felicia Niewiarowicz, so heißt unsere Helferin in der Not, läßt noch nicht locker und begleitet uns bis auf das Zimmer. Eine knappe Stunde zum Abendessen können wir ihr abtrotzen, dann will sie sich mit uns auf dem Markt treffen, um uns den Ort zu zeigen.

Zunächst trifft noch ein Radfahrer ein, es ist ein Amerikaner, der hat schon 170 km, aber gegen den Wind, in den Knochen. Er ist völlig fertig, möchte aber nicht für ein Dreibettzimmer bezahlen, das ihm angeboten wird. Es würde umgerechnet um die 30 DM kosten, unverständlich, daß er das ausschlägt. Er will sich lieber einen Campingplatz suchen oder mit der Bahn nach Landsberg fahren. Wie mag das ausgegangen sein?

Zum Abendessen bekommen wir gegrillte Hähnchen und Piwo, nun stimmt unser innerer Haushalt wieder. Auf zum Rendezvous mit Frau Felicia, vorher schauen wir noch in die Kirche. In einem sind alle Kirchen gleich: geradezu ein Kult wird um Woytila, den derzeitigen Papst getrieben. Der tritt einem in allen möglichen Darstellungen, meistens segnend, entgegen. Im Augenblick strömen die Gläubigen, fast nur Frauen, zur Abendmesse.

Pünktlich treffen wir Frau Felicia auf dem Marktplatz. Sogleich schiebt sie mit uns los, erklärt uns dieses und jenes, erzählt nach und nach ihr Leben. Sie war erst Krankenschwester, hat dann auf dem Gesundheitsamt gearbeitet, jetzt ist sie Rentnerin. Mit Tochter und Enkel hat sie eine Wohnung am Markt. Ihr Mann ist vor einigen Jahren gestorben, deswegen trafen wir sie am Friedhof. In den Straßen sieht man noch ein ganze Anzahl von Häusern aus der Jahrhundertwende, manche recht ansehnlich im Jugendstil. Eine Burg gibt es, da ist heute eine Schule untergebracht. Wenig weiter die ehemalige Mühle an der alten Netze, aus den göffneten Fenstern schauen die Bewohner uns neugierig nach. In der Straße, wo wir schon am Nachmittag herumirrten, ist ein bemerkenswertes Haus. Das hat ein wohlhabender Architekt errichtet und dort mit seiner behinderten Tochter gelebt. Ein Kopfbild der Tochter ist in der Fassade eingeschnitzt.

Bei jedem größeren Gebäude versichert uns Frau Felicia, da sei frühe das Gesundheitsamt dringewesen. Die müssen oft umgezogen sein. Wieder am Marktplatz laden wir sie zu einem Kawa (türkischer Kaffee) ein, wir trinken Piwo. Wir erfahren einiges über die heutigen Verhältnisse in Polen, es ist alles nicht so rosig, große Arbeitslosigkeit, steigende Preise, zunehmender Alkoholismus. Es ist ähnlich wie in unseren Neuen Bundesländern, die kalte Dusche nach dem Sozialismus, die Wirtschaft bricht zusammen, die freie Marktwirtschaft kommt nicht in Gang. An den Nebentischen streift derweil ein Lumpenhändler mit einem Dackel herum und versucht, von den Gästen etwas abzustauben. Auch auf dem Marktplatz drücken sich Alkoholisierte herum, auch Jugendliche darunter. Das ist alles nicht so schön.

Auf dem Heimweg begleitet uns Frau Felicia in ihrer Anhänglichkeit bis zum Quartier. Noch einmal ein Blick in die Kirche, die Abendmesse ist noch (oder wieder) im Gang, der Hochwürden betet im Sprechgesang, die Gläubigen sind tiefversunken. Das sind Kontraste. Vor unserem Quartier verabschieden wir Frau Felicia, die uns sonst wohl noch bis ins Bett gebracht hätte. Auf ein Piwo setzen wir uns noch in das Restaurant im Parterre, ständig kommen noch Leute und besorgen sich Getränke. Der Farbfernseher in der Ecke läuft mit einem Satellitensender auf Englisch, der scheint als Statussymbol zu dienen. Vor 22 Uhr müssen wir aber in unsere Bude, denn von da an werden die Schäferhunde auf dem Grundstück freigelassen, dann kommt keiner mehr raus, geschweige denn rein.

Donnerstag, 16.7., Drezdenko - Pila (Schneidemühl) 100 km

Die zweite Etappe der 150 km Waldrand steht uns bevor. Gegen 8 Uhr stehen wir bei strahlendem Sonnenschein auf. Kaum angekleidet, klopft es an der Tür. Frau Felicia sagt uns guten Morgen! Das haben wir uns ja beinahe gedacht. Wir müssen aber auf den Aufbruch drängen und verabschieden uns herzlich. Wenn wir wieder nach Drezdenko kommen, sollten wir bei ihr wohnen. Wir versprechen, Päckchen zu schicken. Nach einem sehr guten Frühstück sind wir gutgelaunt wieder auf Tour. Das klappt doch alles ganz famos. Haben wir nicht schon tolle Erlebnisse gehabt? Und das Glück wird uns treu bleiben.

In der Netze-Niederung
Nun kommt wieder eine sehr schöne Strecke an der Netze entlang Richtung Krzyz (Kreuz). Die Strecke ist etwas bergig, hin und wieder wird das Rad auch mal geschoben. Kreuz erscheint uns als wenig sehenswerter Ort, keinen Aufenthalt wert. So radeln wir an einer Bahnlinie entlang in die vermeintlich weitere Richtung. Keinerlei Autoverkehr. Das hat seinen Grund darin, daß der Weg vor einer herabgelassenen Bahnschranke plötzlich zuende ist. Über einen unbefestigten Feldweg erreichen wir eine Straße. Nach Studieren der Karte wird der Irrtum auch ersichtlich, hat aber keinen nennenswerten Umweg gekostet. Wir biegen ab nach Wielen (Filehne). Ein Feuerwehrauto mit Blaulicht überholt uns. Die Waldbrandgefahr ist zur Zeit extrem, selbst die Wiesen sind so trocken, daß sie in Brand geraten können, von den Getreidefeldern und den Wäldern gar nicht zu reden. Außer alten Brandstellen sehen wir aber nichts von Feuern.

Vor Wielen steht ein Schloß. Da ist man beim Bauen. Als wir uns etwas umsehen, tritt jemand aus einem Pavillon und schaut argwöhnisch zu uns herüber. Schnell packe ich den Fotoapparat wieder ein und wir suchen das Weite. In Wielen schaue ich kurz in ein Restaurant in der Hoffnung, einen Kawa zu bekommen. Da sitzen sie wieder, die Besoffskis, wir fahren lieber weiter. Zwei Stunden später finden wir mal ein richtig nettes Straßenlokal, aber das ist immer noch die Ausnahme.


Ein malerischer Ort

Getreidehucken

Straßenschilder
Bis Czarnkow (Czarnikau) ist die Strecke wieder wunderschön, zur Linken die Netzeniederung, kleine verschlafene Ortschaften. Pferdefuhrwerke statt Autos, in einem Ort brummt eine Dreschmaschine, das haben wir jahrzehntelang nicht mehr gesehen. An einer Steigung schieben wir mal wieder, ein Pferdewagen mit Familie hinten drauf überholt uns. Wenig später sind wir aber wieder schneller. Alle winken!

Storchennester
Czernikau ist eine kleine Industriestadt, wir rollen hindurch. Es dauert eine Weile, bis man wieder eine ländliche Gegend um sich hat. Aber hier ist es interessant. An einigen Häusern erkennt man Jahreszahlen, alle aus der Jahrhundertwende. Da hat man diesen Teil der Netzeniederung wohl kultiviert und besiedelt.

Strohdächer

Dorfplatz

Blick über das Tal der Netze
Die Orte ziehen sich an der Straße entlang und gehen ineinander über. Alle Augenblicke ein Storchennest auf Dächern oder Pfosten, manchmal auf einem Telegrafenmasten. Häßlich sind nur die Hausdächer. Aber das gilt wohl für ganz Polen. Früher sicher reedgedeckt, hat man heute Blech oder Eternit verwendet. Häuser mit Strohdach sind meistens dem Verfall preisgegeben. Offensichtlich betreibt man diese Dachdeckerkunst heute nicht mehr.

Hinter dem Ort Walkowice verlassen wir die Niederung, dazu geht es tüchtig bergauf, kilometerlang immer durch den Wald. Oben hat man nochmal einen schönen Blick über das Tal der Netze.

Wir erreichen Ujscie (Usch). Dort steht zu unser Überraschung eine barocke Kirche. Wenig weiter eine kleine malerische Backsteinkirche.


Kirchen in Usch
Wir biegen ab auf die Nebenstrecke nach Schneidemühl. Bevor wir uns von der Netze verabschieden, machen wir noch eine schöne Rast an ihren blühenden Ufern.

Blühende Ufer
Bis Schneidemühl zieht es sich noch ein wenig hin, immerhin haben wir 100 km hinter uns gebracht, doch der Wind hat uns immer geholfen. Schneidemühl zeigt sich bei der Ankunft nicht von seiner besten Seite. Armselige Wohnquartiere, hinter einem Haus geht es einem Mann wohl schlecht, ein zweiter hilft ihm dabei. Vor dem Haus Tische und Zecher. Zwei Hündis vergnügen sich: "Die machen einen Neuen" sagt Heidi. Auch die vorüberschlendernden Passanten haben ihren Spaß daran, das ist wohl auf der ganzen Welt das gleiche.

Im Stadtzentrum stoßen wir sogleich auf das Hotel RODLO, ein vielgeschossiger Bau, nicht zu übersehen. Westlicher Komfort, da muß man mal tiefer in die Tasche greifen. DM 100 kostet das Doppelzimmer, aber das haben wir uns verdient. Ein dienstbeflissener Portier kümmert sich um unsere Räder, packt die Gepäckstücke auf einen Wagen und bringt uns bis auf unser Zimmer. Das Trinkgeld in Zlotys quittiert er mit einem "Oje", entweder war's zu wenig oder er hat auf DM gehofft. Nachdem wir uns nun so ein Komfortzimmer geleistet haben, wird auch die Badewanne nicht unbenutzt gelassen. Unter unserem Fenster ist der verkehrsreichste Platz der Stadt. Der Kreisverkehr sieht von oben zwar aus wie eine Spielzeuganlage, eine ruhige Nacht aber steht uns nicht bevor.

Schneidemühl
Auch ein Rundgang durch Schneidemühl ist dann nicht so erbaulich. Diese Stadt ist total neu aufgebaut. Auf Nachfragen erfahren wir, daß nur ein altes Logenhaus von vor dem Krieg übriggeblieben sei. Auf einem Flohmarkt können wir nicht's Brauchbares entdecken. Am Abend erscheint im Hotel eine Busladung aus Altötting. Heidi macht eine Beobachtung: als eine ärmliche Frau mit einem Blumenstrauß auf einen der Reisegäste zugeht - man mag sich von früher oder über Schriftverkehr kennen - wird sie abgewimmelt, die Fahrt sei so lang gewesen und nun müsse man sich erstmal frisch machen.

Freitag, Schneidemühl - Tuchel 100 km

Am Morgen haben wir ganz verquollene Gesichter, die Luft war so stickig, der Verkehrslärm vor unserem Fenster sehr lästig. In der Nacht hätten auch ein paar Zecher in den Nachbarzimmern rumort, berichtet Heidi, davon habe ich nichts mitgekriegt. Wenigstens ist das Frühstück einigermaßen, es gibt zwar kein Buffet, aber man kann bestellen, soviel man will. An der Rezeption lassen wir uns ein Zimmer in Tuchel vorbestellen, dort gäbe es ein kleines Hotel. Unsere Wegplanung haben wir insofern umgestellt, daß wir nun nicht über Bromberg und an die Weichsel fahren, das wird zu weit, auch eine geeignete Tagesetappe bietet sich nicht an. Der direkte Weg nach Norden und abschließend durch die Tucheler Heide verspricht auch einiges.

Wieder hilft uns ein freundlicher Portier beim Aufladen, er sei mit dem Rad schon mal in Afrika gewesen. Winkend machen wir uns auf den Weg. Über 3 km müssen wir auf vierspuriger Strecke aus Schneidemühl herausfahren, kreuzen dann die Nationalstraße 10 von Bromberg nach Stettin. Wieder eine Waldpassage über 8 km Länge, dann wird es auf Alleestrecken wieder interessanter.

Der nächste größere Ort ist Krajenka, dort gibt es ein Schloß. Wir halten uns aber nicht länger auf und gucken nur kurz die Kirche an. In Zlotow (Flatow) kriegen wir wieder keinen Kaffee, nur in Bohnen oder gemahlen wird er angeboten. An der Straße kaufen wir ein Kilo Kirschen. Laut Karte gibt es wenig weiter einen kleinen See, den finden wir auch und machen eine Rast. Ein paar Jugendliche haben sich hier bereits in einem Holzhäuschen einquartiert. Bootfahren, Baden und Angeln bei völliger Ruhe, wie schön ein Urlaub sein könnte. Mit den Jugendlichen kommen wir nicht in Kontakt, sie schauen nur ab und zu neugierig herüber.

In einem Ort sehen wir eine auffällige Fachwerkkirche. Wir schieben die Räder zwischen die Fundamente des freistehenden Glockenturmes, werfen einen Blick in die Kirche und rasten danach ein wenig bei den Rädern unter den Glocken.

Kirche

und Glockenturm
Von einer Frau, die in der Kirche herumsitzt und aufpaßt, werden wir mit einem bitterbösen Blick bedacht ob des Frevels, den wir da begehen. Ob jeder, der fromm tut, auch fromm ist? So manchmal kommen einem die Zweifel ob der Pracht und des Prunks im Innern der Kirchen. Die Kirche hat offensichtlich eine enorme Macht über ihre Schutzbefohlenen, was sich auch finanziell positiv auszuwirken scheint. Die Messen in größeren Orten werden so häufig abgehalten, daß sich die Anfangszeiten wie ein Fahrplan lesen.

Wieder finden wir eine ganz ruhige Nebenstrecke. Auffallend ist der gute Zustand der Felder und Gehöfte. Liegt es am Boden, am Klima, am Menschenschlag, da kann man nur spekulieren. Auf einem Heuhaufen sitzt ein Storch, der kann uns auch nichts Näheres erzählen.

Ich bin der König von alledem
Selbst auf den kleinsten Straßenverbindungen verkehren noch Buslinien, so auch hier, wo nur einzelne Gehöfte liegen. Wir kommen nach Sepolno Krajenskie (Zempelburg). Hier wird die Nationalstraße 23 gekreuzt, es herrscht einiger Betrieb und Verkehr. Einen Kaffee kriegen wir wieder nicht. Mit dem beruhigenden Gefühl, heute keine Quartiersorgen haben zu müssen, bummeln wir die Reststrecke bis Tuchel ab.

Bald stehen wir auf dem Marktplatz von Tuchel. Er ist viereckig und baumbestanden, Verkaufsstände sorgen für ein buntes Bild. In einer Ecke des Marktes finden wir das Hotel. Ich gehe hinein und lande mitten in einem Kleiderbasar, man zeigt mir aber die richtigen Treppen und Gänge zum Empfangsbüro. Das ist aber vorrübergehend geschlossen. Wenig später habe ich aber Glück, die Empfangsdame ist wieder da. Leider spricht sie kein Deutsch, soweit ich aus ihren Erklärungen schlau werde, ist hier kein Hotel mehr, um so weniger kann ich mit der Reservierung imponieren. Hotel Olimpia wird auf einen Zettel geschrieben, dann bin ich wieder draußen.

Enttäuschung! Vermeintlich schon am Ziel, da knacken die Knochen, wenn man sich wieder aufraffen muß. Wir schieben in die Richtungen, in die uns manche Passanten gestikulierend schicken. Von der Straße mit dem Namen Warschawska biegen wir schließlich ab und stehen bald vor einem Hotel, das nicht Olimpia heißt, sondern Michalko. Wenige Minuten später ist das alles ganz egal, auch das mit der Reservierung, von der man hier auch nichts weiß. Wir bekommen ein Zimmer - Feierabend! Aber nur für eine Nacht können wir bleiben, weil morgen eine Delegation der Partnerstadt von Tuchel, Altötting oder Straubing, jedenfalls im Bayrischen, erwartet wird.

Zum Hotel gehört ein schönes Restaurant, da finden wir uns selbstredend zum Essen ein. Beim Servieren der Gerichte hat der Ober soviel Schwung drauf, daß die Pfirsichscheiben auf Heidis Teller, der Schwerkraft gehorchend, erst über den Tellerrand, dann über meine Hose kollern. Das wäre nicht so schlimm, wenn im Nachfassen der Ober nicht auch noch das volle Bierglas erwischt hätte und als Nachschlag über besagte Hose gegossen hätte. Das Ärgste: wir kriegen eine neue Tischdecke, Heidi neue Pfirsichscheiben, ich aber kein neues Bier.

Als die Hose wieder trocken ist - es ist die einzige Ausgehhose, die ich dabei habe - bummeln wir zurück in den Ort Tuchel. In den Hinterstraßen und auf dem Marktplatz scheint die alte Bausubstanz noch erhalten zu sein. In einem kleinen Lokal auf der Stadtmauer kehren wir ein und sitzen über den Wallanlagen. Am Abend finden wir uns zu guter Letzt auf der Hotelterrasse wieder, die gegenüberliegenden Wohnblocks bieten nicht den besten Ausblick. Als ein paar Typen neben uns lautstark eine Wodkaflasche in Angriff nehmen, ziehen wir uns lieber zurück.


Tuchel
Tuchel

Sonnabend, 18.7., Das Ziel: Tuchel - Plochocin 50 km

Ab 5 Uhr morgens ist unser Schlaf nicht mehr so fest, weil ein Busfahrer draußen auf seine Gruppe wartet. Dazu muß er anscheinend den Motor laufen lassen. Das dauert so eine Stunde.

Die letzte Etappe unserer Radtour liegt vor uns, es wird durch die Tucheler Heide gehen, wir freuen uns darauf. Als wir aufstehen, regnet es noch, nach dem Frühstück hört es auf. Wir besorgen uns die Räder, die im Keller abgestellt sind. "Räder rollen für den Sieg" sagt der Empfangschef, stolz auf seinen deutschen Satz. Bloß diesen Satz hört man nicht mehr so gerne. "Ja, ja, in Jugoslawien spielen sie auch verrückt" sage ich, das versteht er auch. Auf der nassen Straße fahren wir los, erst nochmal auf den Marktplatz, um ein Foto zu machen.

Die Tucheler Heide ist wieder ein riesiges Waldgebiet, vielleicht 100 mal 50 km groß. Aber es gibt viele Ortschaften, wir fahren durch Orte wie Cekcyn (Cekzin), Tlen und Osie (Osche). In Cekcyn können wir in einem Restaurant an einem See einen Kaffee bekommen. Wir sitzen zwischen morgendlichen Zechern, manche haben auch ihre kleinen Kinder dabei, die versuchen auch schon fachmännisch ihr Woda Mineralna zu stemmen.

Die Wälder bestehen aus Kiefern, Birken oder Laubwald, Wacholderbüsche bilden das Unterholz. Einmal fahren wir kilometerlang eine aus unerklärlichen Gründen breite und schnurgerade Piste entlang. Unsere Vermutung ist, daß es sich um eine militärische Geheim- oder Ersatzpiste für Flugzeuge handelt (vgl. Kaschubische Schweiz).


In der Tucheler Heide
In Osie überrascht uns ein heftiges Gewitter, aber wir stehen gerade vor dem Bahnhof und können uns rechtzeitig in eine Bushaltestelle retten. Dann prasselt der Regen los. Neben uns sitzt ein alter Mann, der brabbelt immer auf uns ein, natürlich verstehen wir kein Wort. Er hat - es ist gerade 10 Uhr am Morgen - auch schwer einen in der Krone. Ab und zu muß ich ihn wieder aufrichten, wenn er umzusinken droht. Nachdem er zwei Zigaretten von uns aufgeschmaucht hat, zieht er endlich schwankend seiner Wege. Heidi bekommt zum Abschied einen stoppelbärtigen Handkuß aufgesabbert. Sehr erfreut ist sie nicht.

Die nächste Abwechslung besteht in einem zu Campingzwecken umgebauten Militärfahrzeug, dessen Motor genau vor uns seinen Geist aufgibt. Wahrscheinlich ist das Benzin alle. Im strömenden Regen entsteigen immer mehr Insassen, so 6 an der Zahl, dem Auto. Sternförmig zieht man aus, um Hilfe zu holen. Leider können wir das Ende der Aktion nicht abwarten. Die Sonne bricht wieder durch, wir fahren weiter.

Es ist auch zu verlockend, Walubie ist auf einem Hinweisschild schon zu lesen, da ging Heidis Bruder Peter zur Schule, wir sind bald da! Vorbei an ein paar verwunschenen Waldseen, Ferienkolonien mit Badebetrieb. Dann geht es hinab, das 50 km breite Waldgebiet geht zuende, und da ist es: das Ortschild: "Plochocin" (Plötzen). Wie mir Heidi später gesteht, steht ihr das Wasser bis zur Nasenwurzel, in dem Moment habe ich das gar nicht gemerkt.

Plochocin
Rechts an einem Hang das alte Herrenhaus des Gutsbetriebs, wo Heidis Vater Verwalter war. Ihre Brüder waren schon mehrmals hier zu Besuch, wir sind zum ersten Mal da. Die Kirche von Plochocin, statt eines Turmes ein Giebel wie von einem alten Stadttor.


Kapitel 2