Im Sommer 1984 haben wir unseren Sommerurlaub mit der ganzen Familie zum wiederholten Male in Cuxhaven verlebt. Bei aller Freundschaft zu Sonne, Sand und See, Wellen, Wind und Watt, ewig hält man das in einem Strandkorb dann doch nicht aus.
Nach Abklappern der näheren Umgebung, als da sind Otterndorf, Sahlenburg oder Wernerwald mangelt es schon bald an Zielen für weitere Touren, außerdem wäre eine längere Ausfahrt auch mal ganz schön.
Nach einigem Hin und Her läßt sich auf familiärer Basis eine Einigung herbeiführen, es wird auf ein paar Tage grünes Licht für eine Radtour gegeben. Endlich stehe ich vor der Ferienwohnung von Frau Paarmann mit bepacktem Rad. Der Nachbar fragt, wo es hingehen soll. "Nach Holland" wird geantwortet. "Heute noch?" "Mal sehen" - und anerkennender Respekt ist einem gewiß.
Das bepackte Rad ist ein Kettler-Alu-Rad mit Mixte Rahmen. Diese Räder sind derzeit wegen ihres leichten Gewichts sehr in Mode. Was die Stabilität angeht, sind sie eine Katastrophe, besonders mit Gepäck schlingert die ganze Chose bedenklich. Wenn man behutsam mit dem Lenker umgeht, gelingt es einem mitunter, geradeaus zu fahren.
Zu Hause habe ich inzwischen ein Sportrad von Motobecane (Concorde) im Stall stehen, das hat sogar einen Rennlenker. Aber das ist mir zum Radfahren noch zu schade. Und die Zeit des Hollandrades ist gerade vorbei...
So geht es nicht mit einem Holland- sodern einem Kettlerrad gen Holland. Aus Cuxhaven raus nach Sahlenburg, über die Deiche, dann ist bald Schluß mit einem fahrbaren Weg. Meine ganze Zeitplanung wird über den Haufen geworfen, indem ich endlose Strecken umkehren muß, zwischen Wiesen und Rindvieh herumirre, um dann doch nur wieder bei Sahlenburg rauszukommen.
Also geht es nach Bremerhaven besser über die Landstraßen, das ist in dieser Gegend auch ganz hübsch. In Bremerhaven setzt man mit der Fähre über nach Butjadingen, das geht alles wie geschmiert. Vorbei an Nordenham, eine gräßliche Industriegegend. Immer nach Süden, den Jadebusen umrundend. In den zahlreichen Gräben blühen Blutweiderich und Igelkolben. Störche sehe ich nicht. An den Alleen und vor den Gehöften sieht man viele sterbende Bäume. Es wird behauptet, ein trockener Salzwind im Winter habe in diesem Jahr das Baumsterben herbeigeführt. Aber ob das nicht wieder nur Ausreden sind, um von den eigentlichen Umweltproblemen abzulenken?
Der Wind weht von Süden, deshalb halte ich mich bald westlich, sobald der Jadebusen das zuläßt. Ich werde Ostfriesland, das Land der Ostfriesenwitze, durchqueren. Das Land ist platt, große Sehenswürdigkeiten zeigen sich nicht. Vergeblich schaue ich aus nach einem malerischen Kanal mit einer Windmühle, dahinter vielleicht ein überlebensgroßes Glas Bier - "Wie das Land, so das Jever" (oder gab es diese Werbung 1984 noch gar nicht?).
In Wirklichkeit sause ich aber doch gerade mit Rückenwind an einem Kanal, dem Nordgeorgsfehnkanal, entlang. Der führt genau nach Norden, über Wiesmoor. Dieser Ort ist bekannt für seine gärtnerischen Aktivitäten. Links liegt ein Moor, wo Torf gestochen wird, es heißt laut Karte Hinrichsfehn.
Eigentlich will ich aber gar nicht nach Norden, auch nicht nach Wiesmoor, sondern nach Holland. Also besinne ich mich irgendwann und fahre - nun gegen den Wind - 5 km zurück, immer am Nordgeorgsfehnkaal längs, bis ich wieder auf eine Straße Richtung Westen gerate.
Der Rest des Nachmittags bis Leer wird abgeklotzt, nach über 130 km bin ich bei der Ankunft in Leer ziemlich am Ende meiner Kräfte. In der Fußgängerzone suche ich ein Hotel auf, wo man sich so langsam wieder regenerieren kann.
Sonst ist in Leer nichts los, wie der Name schon sagt. Ein paar Häusergiebel verraten einem, daß man sich in Ostfriesland befindet, ansonsten sieht die Fußgängerzone hier genauso aus wie in Lübbecke/Westfalen. Geschäfte wie Rossmann, Seifen-Platz oder Tengelmann beherrschen die Szene.
Also mit einem Tag von Cuxhaven nach Holland, das war dann doch nichts. Aber was soll ich auch in Holland, ich kundschafte lieber Ostfriesland aus. Dazu überquere ich nun aber die Ems und fahre an ihrem linken Ufer durch Orte, die alle mit ...um enden: Bingum, Jemgum, Midlum, Critzum, schließlich Pogum. Hier geht es nicht weiter, vor einem liegt der Dollart, über die Ems zurück gelangt man nur mit einer Fähre.
Diese legt gerade vom Ufer ab, als ich die Szene betrete. Nun kann ich zwei Stunden warten. Was macht man zwei Stunden lang in Pogum oder Ditzum hinterm Deich? Als erstes über den Deich gucken. Da liegt der Dollart, grau bis braun, links zieht sich die holländische Küste entlang. Dann gibt es eine malerische Brücke, die ist sogar in einem Bildband über norddeutsche Dörfer (Vorwort Walter Kempowski) abgebildet. Außerdem gibt es auch einen Einkaufsladen, das ist dann letztendlich noch das Interessanteste. Versehen mit Trinkbarem und der BILD-Zeitung mache ich es mir am Fuße des Deiches bequem.
Im Laufe der zwei Stunden erscheinen nach und nach weitere Personen auf der Bildfläche, die auch auf die Fähre warten. Gelegenheit für ein paar Schwätzchen, so geht die Zeit einigermaßen kurzweilig herum.
Am anderen Ufer der Ems ist man flugs in Emden. Die einzige deutsche Stadt aus einem Buchstaben: "EMM" sagt der Ostfriese! Wie immer auf Radtouren reizt eine großere Stadt wenig, am Hafen entlang und schon bin ich wieder draußen. Ein Stück kann ich hinter einem Opa im Windschatten herfahren, dann bin ich wieder auf dem platten Land. Die Dörfer sind vor allem bemerkenswert durch ihre Backsteinkirchen, die einen schon von weitem grüßen.
Schließlich umfahre ich die Leybucht, auf dem Deich geht es leider nicht, der gehört den Schafen. Und unten sieht man leider nichts von der Nordsee, nur die Sendemasten von Radio Norddeich ragen in den Himmel.
Wie ich so auf den Bahnhof Norddeich zurolle, läßt sich meine Stehgreifplanug wieder um eine bemerkenswerte Variante bereichern. Wie wär's mit einer Überfahrt nach Norderney, dem Sylt Ostfrieslands! Es ist noch früher Nachmittag, ein Schiff legt auch bald ab, der Fahrpreis von DM 18.- ist bezahlbar. Schon befinde ich mich auf einer Seereise. Auf einer Sandbank lagern ein paar Seehunde, am Horizont tauchen die Wolkenkratzer der Strandhotels von Norderney auf.
Kaum angekommen werde ich schadenfroher Zeuge eines Vorgangs, daß zwei Autos nicht über eine Kreuzung kommen, ohne sich zu berühren. "Gut geteimt", denkt man so bei sich, meint aber nicht die beiden Kontrahenten auf der Kreuzung. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuß. In der Kurverwaltung lachen sie einen aus, wenn man nach Quartier fragt. Alles ausgebucht! So ab DM 200.- pro Nacht, da ließe sich vielleicht noch was machen. Mir bleibt die Spucke weg. Nun sehe ich Norderney mit ganz anderen Augen, alles aufgemotzt und nur auf Geldschneiderei aus.
Schon bin ich wieder am Hafen, das nächste Schiff bringt mich wieder an Land zurück. "Auf Wiedersehen in Norderney..." tönt der Lautsprecher, ich knirsche nur mit den Zähnen.
Aber der Abend ist schön, es herrscht Windstille, man kann herrlich radfahren. Eigentlich ist nach 18 Uhr immer die schönste Tageszeit zum Radfahren, meistens verplempert man diese Zeit mit Quartiersuche. So an die 40 km fahre ich noch, dann komme ich bei Dämmerung nach Wittmund, wo ich in einem Gästehaus unterkomme. Der dortige Kellner kommt aus Oesterreich und erzählt mir wunders was über die Vorzüge der oesterreichischen Seen.
"Emden, Leer und Aurich, da geht der Mond so schaurig" - diesen Spruch muß ich noch loswerden, obwohl er hier gar nicht reinpaßt. Ich fahre nämlich über Jever, das durch das gleichnamige Bier (s.o.) einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzt. Auf meiner Rückfahrt muß ich nun wieder den Jadebusen umrunden. Leider wird der Genuß heute durch das Regenwetter entschieden getrübt. An einer Allee sind die Bäume von Umweltschützern durch Kreuze als Todeskandidaten markiert.
So kommt keine rechte Stimmung auf, durchnäßt erreiche ich die Fähre nach Bremerhaven. Daselbst lege ich mich erstmal trocken und merke jetzt erst, daß ich auch gründlich durchgefroren bin. Damit ist meine Unternehmugslust und der sportliche Ehrgeiz gestillt, ganz unzünftig setze ich mich in Bremerhaven in einen Zug und lasse mich auf die bequeme Art nach Cuxhaven zurückbringen.