Der Zug soll gegen 7 Uhr morgens in Paris einlaufen, rechtzeitig wache ich auf, es ist noch dunkel. Gespannt schaue ich aus dem Fenster, wo wir wohl inzwischen sind. Der Name der Station, die ich mühsam entziffere, ist mir entfallen, aber ist wohl schon ein Vorort von Paris. Der Schaffner bringt auch bereits die Papiere zurück, wenig später laufen wir dann in den Gare du Nord ein. Hier ist ein Trubel, Menschen aller Nationalitäten und Hautfarbe drängen sich auf den Bahnsteigen. Ich raffe mein weniges Gepäck zusammen und versuche auf den zahlreich vorbeirollenden Gepäckkarren mein Fahrrad zu entdecken. Natürlich zeigt es sich nicht. Bevor ich mich zur Gepäckabfertigung begebe, erstehe ich erstmal eine Ansichtskarte samt Briefmarke und berichte meine glückliche Ankunft nach Hause.
Meine Nullkenntnisse in Französisch sind nun das Problem. Schließlich finde ich die Gepäckabfertigung in einem Seitenflügel des Bahnhofs. Ich lege den Gepäckschein vor und murmele sowas wie byciclet oder velo, jedenfalls macht sich der Gepäckexperte auf die Suche. Und da hängt mein Rad tatsächlich an einem Karren und ich nehme es aufatmend in Empfang. Noch recht zittrig montiere ich mein Gepäck und schiebe dann hinaus. Jetzt kann es losgehen, das berühmte Freiheitsgefühl zu Beginn einer jeden Reise setzt ein. Vor dem Bahnhof liegen eine Menge Individuen mit mehr oder weniger ähnlichem Freiheitsbedürfnis in den Ecken oder auf U-Bahnschächten in Schlafsäcken und tiefem Schlaf. Eine armselige Kreatur liegt in abgetragenen bis zerlumpten Klamotten auf dem Pflaster, eine Sandale ist gerissen und das Bein hinaufgerutscht. Das ist noch nicht das, was ein naturliebender Radfahrer sucht, ich will so schnell es geht, aus Paris hinaus Richtung Norden.
Nun rächt sich ein weiteres Versäumnis in der Planung: ich habe nur eine Hallwag-Straßenkarte, M 1:1.000.000 dabei, und die ist über 15 Jahre alt. Damit kann ich in Paris wenig anfangen, aber es gibt Übersichtstafeln an den Metrostationen, an denen orientiere ich mich. Mitten im aufkommenden Frühverkehr halte ich mich Richtung Norden. Ich erwarte, bald den Rand der Stadt zu erreichen, verfange mich aber immer wieder in dem Gewirr von Schnellstraßen und mehrspurigen Zubringertrassen. Einmal gelange ich an einen Fluß, ist es die vielbesungene Seine? Bei aufgehender Sonne mache ich ein Foto von dem idyllischen Panorama und versuche, auf dem Bürgersteig der Uferpromenade weiteren Raum gen Norden zu gewinnen.
ST. Denis an der Seine |
Entnervt versuche ich mich an einer Nebenstraße und gerate in ein riesiges Neubaugebiet, wo die meisten Straßen in irgendeinem Acker enden. Viele Baustellen machen einen merkwürdigen Eindruck, sie sind architektonisch aufwendig und großzügig geplant. Irgendwann komme ich an ein Hinweisschild in einen Ort, den ich auf meiner antiken Karte nicht finden kann. Nach ein paar hundert Metern erscheint mir die Richtung auch eher südlich, aber ich will ja nicht ans Mittelmeer. Also zurück und in die andere Richtung. Endlich sehe ich vor mir vorbeirasende Autos aufblitzen und erreiche wieder die Fernstraße nach Rouen. Da ist auch eine Tankstelle, ich kaufe mir etwas Trinkbares und gerate zum Glück an einen Angestellten, der etwas Englisch kann. So erfahre ich, daß ich zuvor durch ein großes Freizeitprojekt geradelt bin, das so a la Disneyland den gestreßten Menschen in den Randzonen des auswuchernden Paris Erholung bieten soll.
Ich habe auch so allmählich Erholung nötig, nach dem Verkehr und der nicht enden wollenden Großstadt. Wohl über 50 km bin ich schon unterwegs, es geht schon auf den Mittag zu. Ich befinde mich immer noch hinter Pontoise, kann aber meine Position auf der Karte erkennen. Immerhin sehe ich nun auch weite Felder um mich herum und bald kann ich in Höhe von Vigny von der Fernstraße rechts Richtung Marines abbiegen. Den Namen Marines verbinde ich mit einer militärischen Einrichtung, gerate aber in einen idyllischen Ort, der so aussieht, wie ich mir französische Kleinstädte vorstelle. Das Straßenbild und die dazugehörigen Häuser haben nichts gemein mit der deutschen Gründlichkeit bei uns. Irgendwo entdecke ich hinter einer Einfahrt eine in den Fels gehauene Art Garage, das ist doch schon recht interessant. Gleich hinter Marines liegt auch in einem baumbestandenen Park und hinter einer hohen Mauer ein idyllisches Schloß. Hier lege ich eine Rast ein und genieße die merklich besser werdende Stimmung.
Französischer Friedhof Katakomben |
Kirche in Gisors
Alte Brücke |
Nun muß ich mich nach einem Nachtquartier umsehen und irre erstmal in den verwinkelten Straßen herum. An einem verwahrlosten Haus sehe ich ein Schild "Chambre", das verstehe ich immerhin (...Komm mit mir in's chambre separet...). Ich versuche, dort jemand herauszuklingeln oder zu -klopfen, dann aber erscheint - sie möge es mir verzeihen - so eine alte Schlampe, schickt mich aber angesichts des Fahrrads - zu meinem Glück sicherlich - weiter. Nun muß ich auch nicht im Elend hausen, so suche ich ein formidables Hotel auf, dort spricht man Englisch, und beziehe angesichts der vollbrachten Tagesleistung ein schönes Zimmer. Das Fahrrad wird in einem Nebenraum verstaut, nach der üblichen Auffrischung gehe ich abends auf einen Rundgang, esse in einem preiswerten Imbißrestaurant im Freien und schaue mir den Ort an. Bald machen mich laufende Menschen und Feuerwehrsirenen neugierig und ich komme am Hafen noch in den "Genuß" eines Großbrandes einer Lagerhalle. Ein paar schwarze Punkte auf meiner Plastikjacke sind ein Andenken an dieses Ereignis.