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Freitag, 29.5. Usedom - Wollin - Kolberg 150 km

Strahlender Sonnenschein, Frühstück auf der Terrasse "bei die Urlaubers". Achim hätte Lust, mitzufahren, wir könnten dagegen noch ein paar Tage an diesem schönen Fleckchen Erde verweilen, alles kann man eben nicht haben. Bald sitzen wir auf den Rädern, großes Winken zum Abschied. Als wir um die Ecke auf den Betonplattenweg biegen, sind wir wieder auf Tour. Auf der Hauptstraße sausen wir an Ückeritz, Bansin und Heringsdorf vorbei. In Ahlbeck gilt es noch Geld aufzunehmen. Ich begebe mich auf die Post und zücke mein Postsparbuch. "Wir haben heute noch kein Geld" wird mir beschieden. Die Bank ist eine Ecke weiter. Das Gebäude steht allerdings leer, doch hat man sich in einem Hinterhofgebäude in ein paar Wohnzimmern provisorisch eingerichtet. Hier tut es nun ein Euroscheck.

Wir schieben an der Ahlbecker Seebrücke vorbei, ringsum klicken die Fotoapparate. Entlang der Strandpromenade Richtung Swinemünde. Doch es wird bald zu sandig, wir kehren um und stoßen auf die Hauptstraße. Hier spielt sich der größte Schwachsinn ab. Kilometerlang stauen sich die Autos, um auf einen überfüllten Parkplatz an der Grenze zu gelangen. Von da geht es in polnischen Taxis weiter zum Polenmarkt. Mit unseren Rädern sind wir in Minutenschnelle an dieser Blechkarawane vorbeigerauscht, zeigen unsere Pässe vor - und nun beginnt das Abenteuer Polen.

In Swinemünde überqueren wir mit der vollbesetzten und kostenlosen Fähre die Swine, ein Mündungsarm der Oder. Nun sind wir auf Wollin. Zuerst geht es etwas eintönig schnurgerade durch den Wald bis Misdroy. Zwei Polenmädchen stehen am Straßenrand und trampen. Im Vorbeifahren klopfe ich auf mein Gepäck - Sitzplatz? - Lachen. Wenig später winken uns die beiden aus einem überholenden Auto fröhlich zu. Wir durchfahren nun eine sehr reizvolle Gegend, den Wolinski Park.

Wollin
Es gibt ordentliche Steigungen, die einen auf Höhen über 70 m bringen. Nun hat Rainer seinen großen Auftritt. Es überholt uns ein trainierender Radrennfahrer. Tiefgebückt eilt er uns voraus. Rainer tritt an. Dann zieht er an dem kämpfenden Recken vorbei. "OOaa!!!" oder einen ähnlich klingenden Überraschungsausruf soll jener in diesem Moment von sich gegeben haben. Nun rasen sie dahin. Mir gelingt es immerhin, in Sichtweite zu bleiben. Bald fahren die beiden aber nebeneinander, am Gestikulieren kann ich erkennen, daß da deutsch-polnische Kommunikation praktiziert wird. Dann macht der Rennfahrer kehrt und grüßt auch mich freundlich im Vorbeifahren. Rainer gesteht hinterher, daß die Fahrt beinahe ein Ende gefunden hätte, als er einmal bei nahezu 40 km/h auf den Seitenstreifen geraten sei, aber das schlingernde Rad noch habe abfangen können.

Über eine provisorische Stahlplattenbrücke erreichen wir Dziwnow, die Insel Wollin ist hier zu Ende. Es ist Zeit zum Rasten. Wir gehen mit etwas gemischten Gefühlen in ein Restaurant. Auf mich macht die Einrichtung des Lokals einen zwielichtigen Eindruck. Rainer meint, das sei ein ganz normales Lokal. Er hat wohl auch recht. Wir essen Kottlet, es ist sehr billig. Als wir weiterfahren, hat es sich bewölkt, nur der Wind, der hat sich nicht gedreht. Die Strecke führt durch eine weite Landschaft, in jeder Ortschaft spürt man den für uns fremdartigen Charakter des Landes. In ländlichen Gegenden scheint die Bevölkerung sehr arm zu sein. Auf die Pflege der Gebäude wird wenig Wert gelegt, Neubauten bleiben oft unverputzt und bieten mit ihrem grauen und groben Mauerwerk keinen besonders schönen Anblick. Die landwirtschaftlichen Anwesen scheinen noch ihr Vorkriegsaussehen behalten zu haben, das Wohngebäude steht längs zur Straße, quer dazu links und rechts des Hofes zwei Scheunen. Auf dem Hof leben Gänse, Hühner, Hunde und Kinder alle durcheinander. Vor den Häusern überall Sitzbänke, man sitzt und klönt in der Sonne. So manche dieser Figuren würde man gern fotografieren, aber das traut man sich dann doch nicht.

Wir biegen nun ab nach Niechorze, das liegt an einem der Küste vorgelagerten See. Große Ferienkolonien, hier machen die Polen ihren staatlich verordneten Urlaub. In Pogorcelica zweigt ein Waldweg längs der Küste ab, der ist auf der Karte mit Kreuzchen versehen, das heißt für Autos gesperrt. Ein spazierendes Ehepaar aber informiert uns: "Militär"! Während wir resignierend mit Bi-fi und Dextro beschäftigt sind, kommen sie nochmal zurück. Radebrechend wird uns ein Doppelzimmer in ihrer Pension offeriert. Das finden wir sehr nett, aber es ist erst am frühen Nachmittag, wir wollen noch bis Kolberg kommen. Wir müssen wieder zurück auf die Hauptstraße.

An einer Biegung des Flusses Rega, ein eindrucksvoller Blick, die Backsteinkirche von Treptow. Ein paar argwöhnisch blickende Angler bilden den Vordergrund für ein Foto. In Treptow ein viereckiger Marktplatz, das Rathaus steht in der Mitte. Am Ortsausgang eine sonnige Cafebude, wir laben uns wieder mal an einem Kaffee und Schokolade als Ersatz für Kuchen.

Blick auf Treptow
Wir biegen auf eine Nebenstrecke durch weites Sumpfland. Es handelt sich um Verlandungsgebiet eines früheren Sees. Auf einer Sumpfwiese entdecke ich "Orchis", es handelt sich um geflecktes Knabenkraut. Die violetten Blütenstände leuchten in zahlreichen Beständen. Beim Fotografieren hole ich mir einen nassen Fuß. Das Ergebnis zeigt sich erst am Abend, der neue Turnschuh, Socken und Fuß sind rabenschwarz von dem auffliegenden Sand und Staub der Weiterfahrt. Ein Storch steltzt im Gelände, über Sandwege durchfahren wir ein gottverlassenes Dorf, spielende Kinder an einem Steinhaufen, das Federvieh darum herum. Von Korcino führt eine glatte Straße über Alleen schließlich nach Kolberg.

Orchideen


Heile Kinderwelt

Rainer hat auf seiner Radtour im vergangenen Jahr hier schon im Hotel Solny übernachtet. Das finden wir endlich auf Umwegen und melden uns an der Rezeption. Es ist nichts mehr frei, alles ist reserviert. Wir sollen bis 21 Uhr warten, dann könne man uns evtl. ein Zimmer geben oder anderweitig vermitteln. Also noch eine halbe Stunde rumsitzen. So ganz passen wir in unserer Radlergarderobe nicht in die Eingangshalle dieses westlich geprägten Hotels. Wir schielen immer auf die Eingangstür, ob nicht noch ein Bus ankommt. In der Halle wuseln allerlei deutsche Touristen herum, womöglich "Heimweh-Reisende". Mutter mit Tochter oder Vater mit Sohn sind leicht auszumachen. Bei einem Kaffee verbringen wir die Wartezeit. Dann ist es soweit - wir bekommen problemlos ein Zimmer. Große Erleichterung!

Nach dem Duschen und standesgemäßen Einkleiden begeben wir uns in das Hotelrestaurant. Die warme Küche ist bereits geschlossen. Wir einigen uns mit dem Ober, daß man uns eine kalte Platte zusammenstelle. Die kommt dann auch bald, da gehen uns die Augen über.

Spargel in Schinken, Wurst und Käse, als Delikateßhäppchen ein Stück Räucheraal, Salat dazu eine leckere Creme. Das reicht normalerweise für mehrere Mahlzeiten. Während der Ober immer rundere Augen bekommt und die Platte immer mehr dahinschmilzt, werden wir immer lustiger. So hat es uns selten geschmeckt. Schließlich ist alles - ratzeputz - leergefegt. Der Ober räumt die leeren Platten ab und erkennt offensichtlich an, daß es uns geschmeckt hat.

Nun hat der Unternehmungsgeist keineswegs gelitten. Im Hotel gibt es auch eine Diskothek. Da hat Rainer im vergangenen Jahr getanzt und nette Leute kennengelert. Leider kostet es inzwischen Eintritt, man bekommt einen Gutschein für ein Getränk. Den setzen wir in einen Campari um. Alle Sitzplätze sind besetzt, wir drücken uns in eine Ecke neben der Theke. Aus den Lautsprechern ertönt überlaute Repmusik. Einige Paare tanzen gelenkig, aber auch Einzelpersonen. Neben uns erhebt sich plötzlich ein Mann, dreht sich schwungvoll zur Tanzfläche und beginnt allein zu tanzen. "Alles kaputte Typen" sage ich zu Rainer. "Muß nicht sein" sagt er. Aber auch Rainer ist schon nachdenklich geworden, im letzten Jahr habe hier noch eine ganz andere Atmosphäre geherrscht. Er findet auch keine Bekannten vom Vorjahr wieder.

Bald sind wir uns einig, ein Bier trinken wir woanders besser. Bei dem Krach ist jede Unterhaltung ohnehin eine Qual. Unser untrüglicher Blick hat uns bereits auf ein Lokal auf der anderen Straßenseite aufmerksam werden lassen. Da ist es gemütlicher. Wir trinken ein paar polnische Biere vom Faß und beobachten mit Interesse die sitzenden, hereinkommenden und rausgehenden Gäste. Es ist schon nach Mitternacht, da brechen wir zur Nachtruhe auf.

Daraus wird so schnell noch nichts. Im Hotel vis a vis von unserem Zimmer befindet sich eine kleine Bar, groß wie eine Küche, da ist ordentlich was los. Da kommen wir nicht daran vorbei. Aufgekratzt, wie wir sind, lassen wir uns zu einem "Jonny Walker" hinreißen. Eingekeilt zwischen ein paar polnischen Jungs werden es auch noch ein paar mehr. Plötzlich kommen ein paar deutsche Frohnaturen dazu, jedenfalls halten sie sich für solche und benehmen sich entsprechend. Ein paar Mädchen, in einer Ecke sitzend, finden sofort deren Interesse. Die Stimmung schlägt um. Die Deutschen fangen an zu intonieren: "In einem Polenstädtchen...". Bald darauf verziehen sich die Mädchen. Ich versuche, einem Polen klarzumachen, daß es Deutsche verschiedener Art gibt. Er faßt das aber als Anspielung auf West- und Ostdeutsche auf. Zum Glück bleiben alle friedlich, um halb drei sind wir mit ein paar Whiskies zu viel endlich reif für einen traumlosen Schlaf.

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