Kapitel 1
Kapitel 2

Donnerstag, 28.5. Himmelfahrt in Koelpinsee

Wenn ich gewußt hätte, was an diesem Tag steigen wird, wäre mein Schlaf unruhiger gewesen. Bei strahlendem Sonnenschein stehen wir auf, aufgemuntert durch Sohn Andreas, der uns ein Frühstück "bei die Urlaubers" ankündigt. Damit ist die Sitzterrasse am Eingang der Kellerwohnung gemeint. Wir frühstücken dann doch oben vor der Haustür am Freisitz mit Blick auf den Kölpinsee und vernehmlichem Meeresrauschen hinter dem Waldsaum des Steilufers auf der anderen Seite. Anke hat sich besondere Mühe mit dem Frühstück gegeben, hoffentlich gehen wir ihr mit unserem Appetit nicht auf die Nerven.

Es herrscht ein frischer Wind, da sind Achim und Rainer schon wieder beim Thema Segeln. Nachbar Jürgen hat ein Segelboot auf dem Strand liegen, früher wurde das immer im Achterwasser eingesetzt. Zu DDR - Zeiten war das Segeln vor der Küste undenkbar, solange aufmerksame Strandpatroullien ein Auge auf jeden Versuch warfen, Republikflucht zu begehen. Als Fischer ist Achim zwar auf der See zu Hause, aber auf der Ostsee gesegelt ist weder er noch Jürgen. Vor ein paar Tagen haben sie bei auflandigem Wind bereits einmal einen Versuch gestartet, das Kreuzen zwischen den Buhnen hat aber in denselbigen geendet. Und heute sind wir zu viert, da scheinen die Aussichten besser. "Ich nicht" sage ich sofort, in Erinnerung an Richie aus Bielefeld, der im vergangenen Sommer von einer Fangtour mit grünem Gesicht und leerem Verdauungstrakt wieder einlief. "Wozu habe ich so gut gefrühstückt?"

Derweil liegt Jürgen nebenan schon auf der Lauer. Die drei "Kapitäne" sind sich da schnell einig, Jürgen rollt schon ein Wägelchen heran, wo alle Utensilien aufgepackt sind, auch ein kleiner Außenborder ist dabei, der aber nach dem Winter noch nicht ausprobiert wurde. Ich will nun doch nicht kneifen und zockle mit zum Strand. Ein Rat an die zurückbleibenden beiden Ehefrauen: "Laßt Euch mit der Lebensversicherung nicht über's Ohr hauen".

Das Boot wird soweit vorbereitet, in das Wasser gezogen, der Motor angebracht. Wir halten das Boot, bis zur Badehose im kalten Wasser, die anlaufende Dünung ist ganz ordentlich. Der Motor springt tatsächlich an, so entfällt das Aufkreuzen und wir laufen gegen die Wellen an. Eine Woge schwappt von vorn über das ganze Boot, unsere Sachen sind erstmal naß. Vor den Buhnen wird der Anker gesetzt, dann die Segel aufgezogen. Ich sitze stumm dabei, während die drei Kapitäne sich gegenseitig Kommandos geben, zum Teil als Diskussion geführt. "Jürgen, du bist der Chef" sagt Rainer, kommandiert aber selbst munter weiter. Als der Wind die Segel aufbläht, wird der Anker gelichtet und wir nehmen bald flotte Fahrt auf. Die drei Kapitäne überkommt ein Glücksgefühl, ich bin damit beschäftigt, die rollenden Bewegungen des Bootes auszupendeln. Auch muß man bald was überziehen, der Wind ist kalt.

Zur Magenberuhigung hat Achim vier Fläschchen Jägermeister dabei, die geben nun etwas innere Wärme. Wir laufen am Streckelsberg entlang Richtung Koserow, durchqueren einige durch Fähnchen gekennzeichnete Fischgründe. Der Wind frischt weiter auf. Mir geht es wider Erwarten gut, keine Probleme mit der Seekrankheit. Es wird eine Wende hingelegt, dann geht es zurück, am Teufelsberg vorbei bis etwa Höhe Ückeritz. Jürgen blüht immer mehr auf, er hatte wohl erst etwas Bedenken, wie sich das Boot auf der See verhalten wird. Nach zwei Stunden geht es zurück. "Halt mal mehr Backbord" sagt Rainer zu Achim. "Backbord, was ist das denn?" sagt der Fischer...

Jürgens Seegelboot
Drei Kapitäne

Zu Jürgens Frau Erleichterung, die uns mit Tochter am Strand erwartet, landen wir wieder wohlbehalten. Etwas durchgefroren, aber begeistert über diese einmalige "Männerpartie" betreten wir wieder festen Boden. Das Segelzeug wird geborgen und bald können wir auf der Terrasse "bei die Urlaubers" wieder Wärme tanken. Unsere Radfahrerwäsche auf der Leine ist inzwischen auch trocken. Anke serviert Kaffee, der Kuchenberg schmilzt schnell zusammen. Ein Kleiber (Familie der Spechte) stattet uns auf dem Kaffeetisch einen Besuch ab.

Wir Männer machen anschließend einen Rundgang um den Kölpinsee. In Dagmars Biergarten haben wir uns einen "Küstennebel" verdient. Am Abend laden wir Anke und Achim zum Essen in das Lokal am Achterwasser in Loddin ein. Es ist gut besucht, wir müssen einen Moment auf einen freien Tisch warten. Unser Fischerehepaar wählt ein mexikanisches Bohnengericht - wir lassen es uns bei einem Zander gutgehen. Am Nachbartisch bricht einer beim Sezieren eines Räucheraals in Schweiß aus. Auch "eine Karre Mist" als Spezialität des Hauses wird an einigen Tischen in einer Porzellanschubkarre serviert.

Kölpinsee

Röhrende Musik lockt uns hinunter an's Achterwasser, die Dunkelheit bricht herein. Einige Frösche quaken gegen die überlaute Musik an, verstummen sofort, wenn die Musik aussetzt. Jodel- und Schunkellieder erklingen stilgerecht. Auch dem "P... von Barcelona" wird ein Besuch abgestattet. Es hat wohl tagsüber eine muntere Feierei stattgefunden, wer davon noch übrig ist, macht einen recht mitgenommenen Eindruck. Anke trifft sogar ihren Vater, der ist allerdings kreuzfidel. Rainer fragt mich: "Für den Restabend nehmen wir noch ein Fläschen mit, was hältst Du davon?" Ich mache gerade den Mund auf: "Du altes Arschloch..." dröhnt es da urplötzlich aus den Lautsprechern - riesiges Gelächter. "Der Frust der ganzen Tour entläd sich jetzt" sage ich dann. Das mit dem Fläschen regelt sich natürlich auch noch, und wir lassen den Tag entsprechend ausklingen. Anke und Achim haben noch einen weiteren Tag mit uns gerechnet und kündigen einen Grillabend an, da sind sie enttäuscht, daß die Zigeunerei uns morgen schon weitertreibt.

Freitag, 29.5. Usedom - Wollin - Kolberg 150 km

Strahlender Sonnenschein, Frühstück auf der Terrasse "bei die Urlaubers". Achim hätte Lust, mitzufahren, wir könnten dagegen noch ein paar Tage an diesem schönen Fleckchen Erde verweilen, alles kann man eben nicht haben. Bald sitzen wir auf den Rädern, großes Winken zum Abschied. Als wir um die Ecke auf den Betonplattenweg biegen, sind wir wieder auf Tour. Auf der Hauptstraße sausen wir an Ückeritz, Bansin und Heringsdorf vorbei. In Ahlbeck gilt es noch Geld aufzunehmen. Ich begebe mich auf die Post und zücke mein Postsparbuch. "Wir haben heute noch kein Geld" wird mir beschieden. Die Bank ist eine Ecke weiter. Das Gebäude steht allerdings leer, doch hat man sich in einem Hinterhofgebäude in ein paar Wohnzimmern provisorisch eingerichtet. Hier tut es nun ein Euroscheck.

Wir schieben an der Ahlbecker Seebrücke vorbei, ringsum klicken die Fotoapparate. Entlang der Strandpromenade Richtung Swinemünde. Doch es wird bald zu sandig, wir kehren um und stoßen auf die Hauptstraße. Hier spielt sich der größte Schwachsinn ab. Kilometerlang stauen sich die Autos, um auf einen überfüllten Parkplatz an der Grenze zu gelangen. Von da geht es in polnischen Taxis weiter zum Polenmarkt. Mit unseren Rädern sind wir in Minutenschnelle an dieser Blechkarawane vorbeigerauscht, zeigen unsere Pässe vor - und nun beginnt das Abenteuer Polen.

In Swinemünde überqueren wir mit der vollbesetzten und kostenlosen Fähre die Swine, ein Mündungsarm der Oder. Nun sind wir auf Wollin. Zuerst geht es etwas eintönig schnurgerade durch den Wald bis Misdroy. Zwei Polenmädchen stehen am Straßenrand und trampen. Im Vorbeifahren klopfe ich auf mein Gepäck - Sitzplatz? - Lachen. Wenig später winken uns die beiden aus einem überholenden Auto fröhlich zu. Wir durchfahren nun eine sehr reizvolle Gegend, den Wolinski Park.

Wollin

Es gibt ordentliche Steigungen, die einen auf Höhen über 70 m bringen. Nun hat Rainer seinen großen Auftritt. Es überholt uns ein trainierender Radrennfahrer. Tiefgebückt eilt er uns voraus. Rainer tritt an. Dann zieht er an dem kämpfenden Recken vorbei. "OOaa!!!" oder einen ähnlich klingenden Überraschungsausruf soll jener in diesem Moment von sich gegeben haben. Nun rasen sie dahin. Mir gelingt es immerhin, in Sichtweite zu bleiben. Bald fahren die beiden aber nebeneinander, am Gestikulieren kann ich erkennen, daß da deutsch-polnische Kommunikation praktiziert wird. Dann macht der Rennfahrer kehrt und grüßt auch mich freundlich im Vorbeifahren. Rainer gesteht hinterher, daß die Fahrt beinahe ein Ende gefunden hätte, als er einmal bei nahezu 40 km/h auf den Seitenstreifen geraten sei, aber das schlingernde Rad noch habe abfangen können.

Über eine provisorische Stahlplattenbrücke erreichen wir Dziwnow, die Insel Wollin ist hier zu Ende. Es ist Zeit zum Rasten. Wir gehen mit etwas gemischten Gefühlen in ein Restaurant. Auf mich macht die Einrichtung des Lokals einen zwielichtigen Eindruck. Rainer meint, das sei ein ganz normales Lokal. Er hat wohl auch recht. Wir essen Kottlet, es ist sehr billig. Als wir weiterfahren, hat es sich bewölkt, nur der Wind, der hat sich nicht gedreht. Die Strecke führt durch eine weite Landschaft, in jeder Ortschaft spürt man den für uns fremdartigen Charakter des Landes. In ländlichen Gegenden scheint die Bevölkerung sehr arm zu sein. Auf die Pflege der Gebäude wird wenig Wert gelegt, Neubauten bleiben oft unverputzt und bieten mit ihrem grauen und groben Mauerwerk keinen besonders schönen Anblick. Die landwirtschaftlichen Anwesen scheinen noch ihr Vorkriegsaussehen behalten zu haben, das Wohngebäude steht längs zur Straße, quer dazu links und rechts des Hofes zwei Scheunen. Auf dem Hof leben Gänse, Hühner, Hunde und Kinder alle durcheinander. Vor den Häusern überall Sitzbänke, man sitzt und klönt in der Sonne. So manche dieser Figuren würde man gern fotografieren, aber das traut man sich dann doch nicht.

Wir biegen nun ab nach Niechorze, das liegt an einem der Küste vorgelagerten See. Große Ferienkolonien, hier machen die Polen ihren staatlich verordneten Urlaub. In Pogorcelica zweigt ein Waldweg längs der Küste ab, der ist auf der Karte mit Kreuzchen versehen, das heißt für Autos gesperrt. Ein spazierendes Ehepaar aber informiert uns: "Militär"! Während wir resignierend mit Bi-fi und Dextro beschäftigt sind, kommen sie nochmal zurück. Radebrechend wird uns ein Doppelzimmer in ihrer Pension offeriert. Das finden wir sehr nett, aber es ist erst am frühen Nachmittag, wir wollen noch bis Kolberg kommen. Wir müssen wieder zurück auf die Hauptstraße.

An einer Biegung des Flusses Rega, ein eindrucksvoller Blick, die Backsteinkirche von Treptow. Ein paar argwöhnisch blickende Angler bilden den Vordergrund für ein Foto. In Treptow ein viereckiger Marktplatz, das Rathaus steht in der Mitte. Am Ortsausgang eine sonnige Cafebude, wir laben uns wieder mal an einem Kaffee und Schokolade als Ersatz für Kuchen.

Blick auf Treptow

Wir biegen auf eine Nebenstrecke durch weites Sumpfland. Es handelt sich um Verlandungsgebiet eines früheren Sees. Auf einer Sumpfwiese entdecke ich "Orchis", es handelt sich um geflecktes Knabenkraut. Die violetten Blütenstände leuchten in zahlreichen Beständen. Beim Fotografieren hole ich mir einen nassen Fuß. Das Ergebnis zeigt sich erst am Abend, der neue Turnschuh, Socken und Fuß sind rabenschwarz von dem auffliegenden Sand und Staub der Weiterfahrt. Ein Storch steltzt im Gelände, über Sandwege durchfahren wir ein gottverlassenes Dorf, spielende Kinder an einem Steinhaufen, das Federvieh darum herum. Von Korcino führt eine glatte Straße über Alleen schließlich nach Kolberg.

Orchideen
Heile Kinderwelt

Rainer hat auf seiner Radtour im vergangenen Jahr hier schon im Hotel Solny übernachtet. Das finden wir endlich auf Umwegen und melden uns an der Rezeption. Es ist nichts mehr frei, alles ist reserviert. Wir sollen bis 21 Uhr warten, dann könne man uns evtl. ein Zimmer geben oder anderweitig vermitteln. Also noch eine halbe Stunde rumsitzen. So ganz passen wir in unserer Radlergarderobe nicht in die Eingangshalle dieses westlich geprägten Hotels. Wir schielen immer auf die Eingangstür, ob nicht noch ein Bus ankommt. In der Halle wuseln allerlei deutsche Touristen herum, womöglich "Heimweh-Reisende". Mutter mit Tochter oder Vater mit Sohn sind leicht auszumachen. Bei einem Kaffee verbringen wir die Wartezeit. Dann ist es soweit - wir bekommen problemlos ein Zimmer. Große Erleichterung!

Nach dem Duschen und standesgemäßen Einkleiden begeben wir uns in das Hotelrestaurant. Die warme Küche ist bereits geschlossen. Wir einigen uns mit dem Ober, daß man uns eine kalte Platte zusammenstelle. Die kommt dann auch bald, da gehen uns die Augen über.

Spargel in Schinken, Wurst und Käse, als Delikateßhäppchen ein Stück Räucheraal, Salat dazu eine leckere Creme. Das reicht normalerweise für mehrere Mahlzeiten. Während der Ober immer rundere Augen bekommt und die Platte immer mehr dahinschmilzt, werden wir immer lustiger. So hat es uns selten geschmeckt. Schließlich ist alles - ratzeputz - leergefegt. Der Ober räumt die leeren Platten ab und erkennt offensichtlich an, daß es uns geschmeckt hat.

Nun hat der Unternehmungsgeist keineswegs gelitten. Im Hotel gibt es auch eine Diskothek. Da hat Rainer im vergangenen Jahr getanzt und nette Leute kennengelert. Leider kostet es inzwischen Eintritt, man bekommt einen Gutschein für ein Getränk. Den setzen wir in einen Campari um. Alle Sitzplätze sind besetzt, wir drücken uns in eine Ecke neben der Theke. Aus den Lautsprechern ertönt überlaute Repmusik. Einige Paare tanzen gelenkig, aber auch Einzelpersonen. Neben uns erhebt sich plötzlich ein Mann, dreht sich schwungvoll zur Tanzfläche und beginnt allein zu tanzen. "Alles kaputte Typen" sage ich zu Rainer. "Muß nicht sein" sagt er. Aber auch Rainer ist schon nachdenklich geworden, im letzten Jahr habe hier noch eine ganz andere Atmosphäre geherrscht. Er findet auch keine Bekannten vom Vorjahr wieder.

Bald sind wir uns einig, ein Bier trinken wir woanders besser. Bei dem Krach ist jede Unterhaltung ohnehin eine Qual. Unser untrüglicher Blick hat uns bereits auf ein Lokal auf der anderen Straßenseite aufmerksam werden lassen. Da ist es gemütlicher. Wir trinken ein paar polnische Biere vom Faß und beobachten mit Interesse die sitzenden, hereinkommenden und rausgehenden Gäste. Es ist schon nach Mitternacht, da brechen wir zur Nachtruhe auf.

Daraus wird so schnell noch nichts. Im Hotel vis a vis von unserem Zimmer befindet sich eine kleine Bar, groß wie eine Küche, da ist ordentlich was los. Da kommen wir nicht daran vorbei. Aufgekratzt, wie wir sind, lassen wir uns zu einem "Jonny Walker" hinreißen. Eingekeilt zwischen ein paar polnischen Jungs werden es auch noch ein paar mehr. Plötzlich kommen ein paar deutsche Frohnaturen dazu, jedenfalls halten sie sich für solche und benehmen sich entsprechend. Ein paar Mädchen, in einer Ecke sitzend, finden sofort deren Interesse. Die Stimmung schlägt um. Die Deutschen fangen an zu intonieren: "In einem Polenstädtchen...". Bald darauf verziehen sich die Mädchen. Ich versuche, einem Polen klarzumachen, daß es Deutsche verschiedener Art gibt. Er faßt das aber als Anspielung auf West- und Ostdeutsche auf. Zum Glück bleiben alle friedlich, um halb drei sind wir mit ein paar Whiskies zu viel endlich reif für einen traumlosen Schlaf.

Samstag, 30.5. Kolberg - Stolp 140 km

Kopfschmerzen, Rainer tun die Beine weh, das Frühstück etwas lustlos - das ist die Quittung. Wir bummeln los, verlassen Kolberg auf der Hauptstraße Richtung Köslin. Bei dem Ort Ustronie Morski wird wieder eine Nebenstrecke in Angriff genommen. Wir geraten auf Sandwege, notdürftig befestigt mit Backsteinen abgerissener Häuser oder schlichtweg mit Hausasche. Als es wieder ein wenig glatter geht, finden wir uns unversehens auf der Hauptstraße wieder. Wir überholen ein paar Jugendliche, ein Auto mit Anhänger voller Schlafsäcke fährt vorbei. In einem kleinen Ort trinken wir eine Limo, da steht eine größere Jugendgruppe mit Rädern auf einem Parkplatz. Das Gepäck wird mit dem besagten Auto befördert.

So langsam kehren die Kräfte wieder, die Alkoholnebel verflüchtigen sich. Von der Hauptstraße abbiegend fahren wir nördlich nach Melno. Ein weiteres Filetstück der Reise steht uns bevor. Von Melno führt eine diesmal befahrbare Straße auf dem kiefernbestandenen Küstenstreifen zwischen Jamnosee und der Ostsee. Aber auch hier Kasernen und Militär. Wir biegen auf einem Waldweg ab und schieben 100 m zum Strand, um auch mal wieder einen Blick auf die Ostsee zu werfen. Ein weiter, weißer und einsamer Strand - so stellt man sich die pommersche Küste vor. Was hätte ich vor einigen Jahren noch dafür gegeben, das zu sehen - und noch mit dem Rad hier herzufahren. "Das Geld hast du gespart" sagt Rainer. Wir legen uns auf den Sand, essen Studentenfutter. Ein paar Angler versuchen am Wasser ihr Glück. Im Sand findet man schöne glattgeschliffene Steine aller Art. Zwei stecke ich ein, nur kleine, als Radfahrer muß man für jedes Gramm Gepäck mit seinem Schweiß bezahlen.

Bild 1 Bild 2 Ostseestrand Ostseestrand

Ehe uns die Stimmung allzusehr einduselt, machen wir uns an die Weiterfahrt. Die Landzunge geht in Heidelandschaft über. Beim Fotografieren des Jamno Sees entdecke ich wilde Stiefmütterchen, noch ein Foto bäuchlings. Reines Genußfahren bis Lazy, dem Ende dieser Landzunge.

Jamnosee

Wir freuen uns schon auf die nächste Passage, die über eine weitere Landzunge am Bukowo See vorbeiführen soll. Leider ist aber in Lazy Schluß, der Weg endet in der Wildnis. Womöglich hätte man sich mit Gewalt durchschlagen können. So aber sind wir gezwungen, einen großen Umweg zu fahren. 8 km nach Süden, dann wieder in nördliche Richtung mit dem Ziel Rügenwalde (Darlowo).

Für das Vorankommen ist das aber deswegen unmaßgeblich, weil wir durch eine wunderschöne Landschaft fahren. Bunt blühende Wiesen, immer wieder Ginsterhecken, verschlafene Dörfer, der weite Blick über den Bukowo See. Auch interessante Storchennester gibt es zu bestaunen. Sie sind manchmal in mehreren Stockwerken erbaut, bewohnt ist natürlich nur der oberste Stock. Zur Zeit ist gerade Brutzeit. Einmal fahren wir genau unter einem Nest hindurch, das kunstvoll in einen an der Straße gelegenen Baum eingebaut wurde.

Bild 1 Bild 2 Bild 3 Bild 4 Besonders schöne Stellen

An einer besonders schönen Wiese machen wir Fotos. Rainer wählt die blühende Wiese als Vordergrund, ich fotografiere 10 m weiter, blühende Schafgarbe ziert den Blick auf den See. Zu unseren Füßen ein Wasserlauf mit Teichrosen (auch Wassermummel).

Im nächsten Dorf werfe ich einen kurzen Blick in eine Kirche, die ist in einem vorbildlichen Zustand. Wie man weiß, sind die Polen sehr religiös (nicht von ungefähr stellen sie derzeit den Papst). Im Gegensatz zur "ehemaligen" DDR sind daher die kirchlichen Bauwerke hier in entsprechend gepflegtem Zustand. In den Dörfern sehen wir heute immer wieder kleine Mädchen im Kommunionskleid. Auch manchem Einheimischen merkt man an, daß da wohl Grund zum Feiern besteht. Einmal kommt uns ein Radfahrer entgegen, der braucht mit seinem Fahrrad die ganze Straße, wir können uns nach genauem Taxieren seiner mutmaßlichen Schlingerroute gerade so vorbeilavieren. Gleich hinterher fährt ein Polizeiauto, die lachen nur!

In Rügenwalde nisten wir uns in einem kleinen Doppelrestaurant ein, links eine Pizza, rechts einen Kaffee. Noch ein Blick auf den Marktplatz, wir fahren durch ein altes Stadttor aus Backstein. Auf dem Marktplatz findet ein Fest statt, laute Musik und tanzende Kinder auf einem Holzpodest.

Bild 1 Bild 2 Rügenwalde

Durch die weite pommersche Landschaft rollen wir auf Alleen nach Stolp, unserem Tagesziel. Am Rande der Innenstadt fragen wir nach einem Hotel. Der erste Versuch klappt nicht gleich, der Hotelbetrieb besteht nicht mehr, man weist uns aber freundlich weiter. An der "Dominikanska" bekommen wir in dem dortigen Hotel, einem grauen Kasten, für DM 20.- ein Zimmer. Aufatmen und Duschen. Die Beine eines Bettes wackeln bedenklich, ein ruhiger Schlaf scheint angeraten zu sein. Zum Essen gehen wir in's "Metro". Das Speiselokal ist im ersten Stock, heute geschlossene Gesellschaft. Unten ist aber noch ein chinesisches Lokal, da essen wir eben mal chinesisch, und das nicht schlecht.

In der Innenstadt von Stolp ist ein großer viereckiger Platz, mitten drauf hat man ein riesiges Kinogebäude hingesetzt. Von dem alten Stadtkern, den wir ja nicht kennen, wird nicht mehr viel übrig geblieben sein. Ich denke an eine Campingübernachtung ein paar Jahre zuvor in Walmsburg an der Elbe. Wir hatten dort einen sehr netten Abend mit dem Ehepaar Grube, den Betreibern des Campingplatzes, verlebt. Herr Grube stammte aus Stolp. Damals ahnten wir noch nicht, daß wir heute, drei Jahre später, zu Rade Stolp besuchen würden.

Die Abschlußbiere nehmen wir in der Hotelkneipe ein, wir sitzen gemütlich zwischen den heutigen Stolpern. Hinter uns sitzen zwei ältere Herren aus Deutschland, wir haben aber keinen Kontaktbedarf. Die Nachtruhe verläuft ruhig, sodaß weder der bedenklichen Bettstatt - noch durch diese anderen Schaden zugefügt wird.

Bild 1 Bild 2 Bild 3 Stolp

Sonntag, 31.6. Stolp - Kaschubien - Danzig 140 km

Im Hotel bekommen wir kein Frühstück, wir mögen uns wieder in's "Metro" begeben. Auf dem Weg dorthin ein Blick in den Kircheneingang, der Gottesdienst wird gleich beginnen, die Besucher sitzen dichtgedrängt bis in den Eingangsraum. Im Metro liegen wir mal wieder voll daneben. Wir begeben uns in das oben gelegene Restaurant, eine deutsche Reisegruppe nimmt gerade ihr Frühstück ein. Geschlossene Gesellschaft. "Selber zahlen?" fragt der Ober und bringt uns gnädig zwei Würste auf einem Teller. Als wir noch einen Tee nachbestellen wollen, winkt er mit dem leeren Teebeutelkarton. Die Reisegruppe bricht auf. "Hoffentlich heute nicht wieder Wandern", "Hier habe ich mal Abschied gefeiert" ...Gesprächsfetzen. Dann stehen wir mit unseren Rädern auf dem Josefsplatz, Rainer fotografiert das Rathaus. Mich spricht ein Mädchen auf Deutsch an. Deutsch lerne sie in der Schule. Ein Mann gesellt sich hinzu. "Ihr seid wohl Studenten". "Nicht ganz!" Wir müssen unsere Reiseroute auf der Karte erklären. Offensichtlich haben die beiden Schwierigkeiten, aus der Karte schlau zu werden. Ein Schloß von Bismarck wird uns empfohlen, wo es liegen soll, weiß aber keiner.

Nach einem freundlichen Abschied machen wir uns auf den Weg. Mit "Debnica Kaszubska" erreichen wir "das Tor zur kaschubischen Schweiz". Schon vorher eine reizvolle Landschaft, Kiefernwälder, kleine Seen blinken in der Morgensonne. Daß wir heute durch Kaschubien fahren, ist mir mit meinen begrenzten geographischen Kenntnissen neu, ich hätte Kaschubien hinter dem Ural vermutet. Inzwischen weiß ich, die Kaschuben sind ein westslawischer Volksstamm mit einer eigenen Sprache, die kaschubische Schweiz der reizvollste Teil der pommerschen Seenplatte (Brockhaus). Reisen bildet.

Zunächst geht es schnurgerade leicht bergan auf einer überdimensional breit angelegten Piste. Der Sinn dieser Anlage bleibt uns verborgen, es wirkt wie eine Landebahn für Flugzeuge. Bis auf 100 m geht es hinauf, die Wälder erinnern fast an den Harz. In Czarna Dabrowska finden wir ein kleines Restaurant - essen Kotlett und trinken Kaffee. Zwei Polen am Nebentisch interessieren sich für uns, der eine hat seinen sonntäglichen Frühschoppen offensichtlich gründlich genossen. Wieder müssen wir die Karte zeigen, aber auch diese beiden können damit nicht viel anfangen. Ich nehme zur Vorsicht meine Tasche mit Paß und Wertsachen vom Tisch und klemme sie zwischen Bein und Stuhl. Daraufhin erklärt mir der Frühschoppler durch Gestikulieren, daß er nicht klauen würde, er steckt dazu meine Fahrradhandschuhe in seine Hosentasche und legt sie zurück auf den Tisch. Wir fühlen uns nicht so wohl in dieser Situation. Endlich zockelt unser Kamerad schwankend heim zu seiner "Matka" oder wohin auch immer.

Die Weiterfahrt geht bergauf - bergab, das freut den Sportler. Nach einer Steigung bin ich "alle" - man muß sich vor dem berühmten Hungerast hüten, der einen ganz plötzlich überfallen kann. Ein paar Happen aus der eisernen Ration und einige Dextros helfen dem ab. Ein reizvoll bewachsener Waldtümpel, ich bekomme blühende Wassercalla vor die Linse.

Bild 1 Bild 2 Waldweiher mit Wassercalla

In Gowidlino ein schöner Blick über den "Gowidlinskie See". In Sierakodwicie erreichen wir die Eisenbahnlinie von Leba an der Ostsee nach Danzig. Wieder ein Blick in die aus Holz gebaute Kirche, es ist alles frisch vertäfelt, noch zu neu. Ebenso schnieke sieht "Merkwürden" aus, der mit wehendem Talar gerade um eine Ecke biegt. Nur ein Cafe hält dieser Ort nicht für uns bereit. Dazu müssen wir noch bis Kartuzy (Karthaus) fahren, stammen hier die "Karthäuser Nelken" her? (Es ist nicht so, diese ist benannt nach den Naturforschern Karthäuser - Brockhaus). Stattdessen liegt vor Karthaus die eindrucksvolle Kirche "Marienglück" des früheren Klosters.

Marienglück in Karthaus

Während Rainer die Kirche fotografiert, halte ich vergeblich Ausschau nach einem Cafe. Wir geben die Hoffnung schon auf, aber kurz vor Ortsausgang haben wir Glück. Ein Einkaufsladen ist geöffnet, man räumt uns extra einen Gartentisch mit Sonneschirm frei und bereitet uns einen türkischen Kaffee. Hin und wieder müssen wir den Sonnenschirm festhalten, der im Wind (Ostwind) bedenklich schwankt.

Wir haben in Karthaus über 200 m Höhe erreicht, bis Danzig können wir hin und wieder davon zehren. Der Verkehr nimmt zu. Aber wir fühlen uns beflügelt, das Endziel der Tour ist nahe. Irgendwo vor Danzig heißt es: "1000 km voll". Da sind wir bei dieser Reise gegen den Wind doch stolz. Auf der Brücke über die Autobahn Danzig - Warschau lesen wir: 340 km bis Lodz. "Theo, wir fahr'n nach Lodz". Zum Glück heißt keiner von uns "Theo". Zwischen zwei Hügeln blinkt links voraus die Ostsee, blau wie immer.

Die Anfahrt auf eine Großstadt ist meistens nicht so schön, viel Verkehr, häßliche Vororte, wir hangeln uns von Ampel zu Ampel. Dann sind wir mitten drin, wir hieven die bepackten Räder durch eine Unterführung und schreiten durch das "Vortor der Langgasse". Schon umgeben uns die hochaufragenden Giebel links und rechts der Langgasse. Fototermin.

Ankunft in Danzig

Ich packe gerade den Fotoapparat ein, da spricht mich ein netter Herr auf deutsch an, woher wir denn kämen. Aus Braunschweig? Das sei ja seine zweite Heimatstadt, sein Bruder lebe dort, er sei oft dort zu Besuch. Wir bestätigen uns gegenseitig eine genaue Braunschweiger Ortskenntnis. Aber gleich kommt es noch doller. Erstmal wollen wir aber ein Hotel suchen, selbstredend übernimmt das "Herr Falk", wie wir erfahren. Das erste Hotel ist besetzt - zum Glück. Denn dann klappt es im Hotel "Jantar" direkt an der Langgasse. Auf dem Weg dorthin klönen wir weiter. Herr Falk macht Stadtführungen, er ist pensioniert, war früher Schiffsmakler. Geld tauschen sollten wir nicht auf der Straße, das sind Ganoven und Taschenspieler. Auch vor Zigeunern, die einem aus er Hand lesen wollen, solle man sich in Acht nehmen. Kürzlich habe er eine Gruppe aus Braunschweig geführt, ein Name mit K beginnend, fällt ihm nicht ein. "Kneifel" sage ich. "Kneifel!!!" ruft er, und haut mir fast auf die Schulter. Da solle ich mal grüßen. (Kneifels wohnen bei uns im Dorf und reisen - wie ich weiß - häufig nach Polen). Das erlebt man nun in Danzig - die Welt ist klein, sagt man da für gewöhnlich.

Hotel Jantar
Tor zur Langgasse

Nach der Anmeldung im Hotel verabschieden wir uns in Hochstimmung, in Braunschweig wolle er uns gern einmal besuchen. Herr Falk empfiehlt uns noch ein Speiserestaurant und es ist klar, wir haben uns nicht das letzte Mal gesehen. (Das wird sich bald zeigen). Als wir unser Hotelzimmer betreten, verschlägt es uns die Sprache. Ein wohl 4 m hoher Raum, vor uns die riesigen Fenster bis auf Kniehöhe herabreichend, wehende Gardinen. Hinter den Gardinen liegt der Platz der Langgasse, wo wir gerade noch gestanden haben. Man könnte geradewegs hinausmarschieren, nur befinden wir uns im zweiten Stock. Ich setze mich auf das Fensterbrett, Rainer macht ein Foto, die Fassade der gegenüberliegenden Straßenseite im Hintergrund. Die Geräusche der flanierenden Menschen dringen herauf, einem summenden Bienenschwarm gleich. "Und dafür 1000 km gegen den Wind" - das hat sich gelohnt. Das bißchen Danzig, was wir bis jetzt kennengelernt haben, hat uns schon gewonnen.

Heute gehen wir nicht gleich zum Essen. Ich habe da so meine Vorstellung, was ich zuerst sehen muß. Bei meinen Schwiegereltern hing ein Bild an der Wand - jetzt möchte ich das mit eigenen Augen sehen. Keine 100 Meter, wir betreten eine Brücke. Und da steht es, umrahmt von malerischen Giebeln: das Krantor. Rainer ist weniger beeindruckt, er hat den symbolischen Charakter dieses Wahrzeichens von Danzig als Kasselaner nicht so drauf wie ich als armer pommerscher Flüchtling. In meiner Schulzeit in Espelkamp bin ich täglich über die "Danziger Straße" gefahren, das prägt sich ein.

Das Krantor
Hafenmole

Was wissen wir schon von Danzig, jahrzehntelang unerreichbar, jenseits vom Ende der Welt. So machen wir eine Entdeckung - unvorbereitet, daher umso berauschender. Eine Straße, kurz vor dem Krantor Richtung Marienkirche, der größten Backsteinkirche der Welt. Diese Straße - die hohen Giebel, jedes Haus besitzt einen "Beischlag", das ist ein vorgebauter steinerner Podest, "und wenn es regnet, rinnt das Wasser wie vor Jahrhunderten aus den Mäulern der bizarren Wasserspeier" (Gdansk, Sehenswürdigkeiten, Faltblatt). Neben den Treppen, die zu den Beischlägen hinaufführen, befinden sich riesige steinerne Kugeln darüber eiserne Geländer. Unter den Beischlägen führen Treppen hinunter, dort findet man heute fast ausschließlich Juwelierläden, die Bernsteinschmuck - die Juwelen der Ostsee - bereithalten. Die Straße heißt "Mariacka", zu deutsch "Frauengasse".

Bild 1 Bild 2 Frauengasse (Mariacka)

Trotzdem meldet sich der Hunger, die Abendmahlzeit ist weniger bemerkenswert, das Bier dafür teurer als das Essen, weil "Jever" zu westlichen Preisen angeboten wird. Das Abschlußbier trinken wir - wo wohl - in einer Bierstube in der Mariacka. Das hört sich besser an, als es ist, wir sitzen an der Theke eines touristisch geprägten Lokals, wieder "Jever". Aber was für ein Tag, die letzte Etappe, Danzig in der Sommerblüte und ein Herr Falk als der i-Punkt auf dem ganzen.

Montag, 1.6. Danzig

Ein Tag in Danzig. Die Räder sind wohlverwahrt in der Portiersloge des Hotels, mit 50.000 Sloty (DM 6.25) haben wir den Portier bestochen. Wir müssen zuerst die Rückfahrt per Bahn regeln, also ab zum Hauptbahnhof. Bevor wir geschäftlich tätig werden, muß ich die Bahnhofsörtlichkeit aufsuchen, 1000 Sloty (Pf. 12,5) muß ich für die notwendige Papierbeilage entlöhnen. Danach in die Auskunft. Ich lege den vorher zu Hause erstellten Fahrplan vor. Nach emsigem Blättern: stimmt. Aber ich möchte die Kosten erfahren. Das gehe hier nicht "Büro international". Das finden wir dann auch. Zuerst wollen wir die Bahnverbindung noch verbessern. Wir können entweder gegen 6 Uhr morgens in Danzig wegfahren, um gegen 23 Uhr in Braunschweig zu sein, oder gegen 12 Uhr mittags, dann allerdings ist die Ankunft morgens um 4 Uhr. Mit der Frage nach einer weiteren und günstigeren Verbindung bringen wir das ganze Büro in Aufruhr. Rainer hat einen Zug nach Kattowitz im Auge, wo könnte man dann Richtung Posen - Fankfurt/Oder umsteigen. "Warum wollen Sie über Kattowitz (Südschlesien) fahren?" Da geben wir es auf. Kurze Beratung. Morgens um 6 Uhr kommen wir noch nicht an die Räder ran. Fahren wir erst mittags, haben wir in Ruhe noch einen halben Tag Danzig. Das gibt den Ausschlag. Inzwischen ist eine Dame aus Deutschland vor uns dran. Sie muß ihre langersehnte Polenreise vorzeitig abbrechen, weil ihr Mann einen Herzanfall erlitten hat. Der liege nun in einem Danziger Krankenhaus. Sie erledigt alles tapfer, blättert wechselweise deutsches und polnisches Geld auf den Tisch, zieht schließlich mit den Fahrkarten "Gdingen - Stettin - Berlin" von dannen. Wir sind immer noch durcheinander. Da gibt es auch eine Busverbindung von Danzig direkt nach Deutschland, sogar über Braunschweig, aber ob man da Fahrräder befördern kann, weiß auch keiner.

Nun Nägel mit Köpfen, Fahrkarten, Platzkarten im Warschau - Holland Expreß, ein Stapel Slotys, ein Hundertmarkschein, aber den vorher wechseln, endlich zwei Mappen mit Billets, uns brummt der Kopf. Zwei Ecken weiter gönnen wir uns zwei Sinalcos mit Strohhalm. Noch einmal wird Geld in der Post gewechselt, um am nächsten Morgen die Hotelrechnung zu bezahlen. Ich gebe ein Telegramm auf, eine nette ältere Dame geht gerade derselben Beschäftigung nach und läßt mich abschreiben. Um Geld zu sparen, nur ein Wort: ANKUNFTMI4.00MARTIN. Der Punkt geht auf dem Weg verloren. Das Telegramm geht 12.25 raus und ist um 15 Uhr in Braunschweig. Wie mir meine Lieben später erzählen, hat das Telegramm einige Verwirrung ausgelöst. Letztlich wurde es aber doch richtig interpretiert, wie sich zeigen wird.

Sommer und Sonne in Danzig. Vor dem Krantor erstehe ich bei einer rundlichen Bernsteinhändlerin gleich vier bescheidene Bernsteinketten als Mitbringsel. Rainer ist wählerischer, muß aber auch nur eine Person beliefern. Er kauft in der Mariacka - selbstredend. Auch mir gefällt ein Anhänger besonders gut, aber die Finanzlage ist angespannt, lieber komme ich ein andermal wieder nach Danzig.

Wir unternehmen zur weiteren Erbauung eine Bootsfahrt zur Westernplatte. Eine alles fotografierende Oma ist allgegenwärtig, "De war sonett, den muß i fotografiere" oder "dui Marianne, de isch gor nich nett, de konn i gar nich fotografiere". Währenddem gleiten die Danziger Hafenanlagen vorbei, ständig kommentiert über Bordlautsprecher auf Polnisch, das hilft uns nicht weiter. Ein paar riesige Öltanker, Badewannen groß wie ein Wohnblock, werden mit quadratmetergroßen Stahlflicken ausgebessert. Bizarre Hafenkräne, Aufschrift VEB ..., also deutsche Wertarbeit. Das Boot macht eine Runde an dem Denkmal der Westernplatte vorbei, Mahnmal für die ersten Toten des zweiten Weltkriegs, alle fotografieren. Die schwäbische Reisegruppe geht von Bord, der Bus wartet schon. Gdingen - Kaschubei - die Schwaben erobern den Osten.

Mahnmal auf der Westernplatte

Wir gehen auch von Bord. Eine Viertelstunde haben wir Zeit, gehen kurz über eine Parkwiese, dann liegt die Ostsee vor einem. Rechts zwei riesige Gastanks, davor Strand und Steine. Badende Kinder. Einen Tag später sagt uns einer auf der Straße: "Früher war die Ostsee blau, heute ist sie Tinte". Das muß man erstmal verdauen. Zoppot, Badeort der Kaiserzeit, wenige Kilometer weiter nördlich, ist heute eine tote Stadt, Badeverbot!

Wir fahren mit dem Boot zurück unter dem Krantor vorbei, Hebekraft 5 Tonnen, angetrieben durch zwei Treträder, in denen wenig beneidenswerte Zeitgenossen vor Jubeljahren ihre Arbeit verrichten mußten. Das ist dem Kunstgemälde meiner Schwiegereltern im Frühstücksbalkon zu Braunlage nicht abzulesen gewesen. Aber Herr Falk erzählt uns das. Den treffen wir nämlich im Anschluß an unsere kleine Seefahrt zur Westernplatte wieder. Vorher waren wir noch in der St. Marienkirche. Himmelaufstrebende Gewölbe, gewaltige Architektur, 150 Jahre Bauzeit (1343 - 1502 Gdansk, Faltblatt). Heute inwendig weiß getüncht, aber man will das Mauerwerk wieder sichtbar machen. In einer Ecke zeugen Fresken davon, daß unter dem Putz womöglich noch Kunstwerke schlummern (Ob das sein kann, ist allerdings fraglich, denn die Marienkirche wurde wie die gesamte Danziger Altstadt nach dem Kriege wieder aufgebaut).

Bild 1 Bild 2 Langgasse

Herrn Falk hat gerade wieder eine Stadtführung hinter sich. Wir laden ihn auf Kaffee und Kuchen ein, er führt uns hinter einen Bauzaun. Das ist der Zugang zum Ratskeller des Danziger Rathauses. In unserem Faltblatt ist eine halbe Seite über dieses Rathaus nachzulesen, es hat Geschichte erlebt. Zur Zeit ist ein auch sehenswertes Gerüst aufgebaut, um in luftiger Höhe Restaurationsarbeiten durchzuführen. Na, jedenfalls mit Herrn Falk um den Bauzaun herum, eine Treppe hinunter, Schokoladenkuchen. Die gerade geführte Reisegruppe sitzt auch hier, aber Herr Falk gehört jetzt uns. Erstmal kramt er einen Zettel hervor. "Heinz K., Braunschweig-Geitelde, Am Walde 3". Korrekt, ich wohne genau 200 m weiter.

Herr Falk nennt sich "polnischer Staatsbürger deutscher Nation". Das ist eine Formel. - Wir als Computermenschen sind keine Historiker. Herr Falk dagegen kennt sein Danzig, auch die Geschichte mit der Westernplatte. Schlachtschiff Holstein, die ersten Schüsse und damit der zweite Weltkrieg. Hier wurde alles vorbereitet, unter den Folgen leiden Generationen. Gegen Ende des Krieges haben die Russen Danzig in Brand gesteckt, man hat es wieder aufgebaut - und tut es noch. Links und rechts des Eingangs zu unserem Hotel ist gerade eine Fassadenmalerei entstanden, das Gerüst wird derzeit abgebaut.

Herr Falk will uns noch mehr zeigen. Zeughaus, die Keller der Häuser. Zwei Stockwerke führen sie in die Tiefe. Im Mittelalter erbaut, durch ein geheimnisvolles "Bindemittel", unter dem Wasserspiegel der Ostsee liegend, vor Wassereinbruch geschützt, miteinander verbunden - welche Geheimnisse! In einem Haus, dessen Keller wir uns ansehen sollen, kommt eine livrierte Kellerassel zum Vorschein und fragt uns nach unseren Wünschen. Wir nehmen schnell Reißaus, verabschieden uns nun auch endgültig von Herrn Falk, die Adressen sind ausgetauscht.

Unser Abendessen nicht weit vom Hotel ist wieder nicht das größte, es ist teuer und schmeckt aufgewärmt (Eisbein und Schweinebraten). Der eine oder andere Wodka wird zur Verdauung und zum Desinfizieren benötigt. Im Hotel erstehen wir noch ein paar Flaschen Bier für die Heimfahrt. Eine Flasche Wodka wird uns auch noch angeboten, die wir aber für heute nicht mehr nötig haben.

Dienstag, 2.6. Heimfahrt

Wie bei der Quartiersuche ist Rainer in punkto Heimfahrt Optimist. Ich mache mir dagegen Gedanken, was alles nicht klappen könnte. Wie soll das funktionieren, die Räder einfach in den Zug verfrachten, wir haben nicht mal Fahrkarten dafür gelöst. Das Frühstück, letzter Tag in Danzig - schmeckt mir auch nicht gerade - die Wodkas vom Vorabend verrauchen noch. Die Hotelrechnung wird abgewickelt, wir haben noch eine Menge Zeit: Kaffee in der Mariacka, versteht sich.

Dann mit den Rädern Richtung Bahnhof. Wir treffen noch ein deutsches Ehepaar auf dem Weg nach Masuren, sie wohnen seit zwei Tagen im gleichen Hotel. Noch ein lohnender Tip von den beiden, sie sind für DM 450. pro Person von Hamburg nach Danzig geflogen, Rückflug eingeschlossen. Nur alle vier Ventile aus ihren Farrädern sind ihnen geklaut worden. Auf uns aber wartet das Abenteuer Bahnfahrt.

Sicherheitshalber sind wir rechtzeitig auf dem Bahnsteig, der Zug nach Posen fährt 12.18. In Posen werden wir in den Warschau - Holland Expreß umsteigen, der uns direkt nach Braunschweig bringt. Wir wollen vor der Abfahrt noch Fahrradkarten besorgen. Rainer begibt sich in die Schalterhalle, ich bleibe bei den Rädern auf dem Bahnsteig. Bald kommt er wieder, er hat die Fahrkarten Danzig - Posen nicht dabei gehabt. Wie wir unsere merkwürdigen Billets durchsehen, stellen wir fest, daß wir die Platzkarte von Posen aus für die Fahrkarten gehalten haben. In dem Büro International hat man uns nur die Fahrkarten von Posen nach Braunschweig verkauft.

Jetzt drängt aber die Zeit. Rainer zischt nocheinmal los. Ich überschlage so, daß unsere Slotys wohl kaum reichen werden für die Fahrkarten. 5 Minuten vor Zugabfahrt kommt Rainer endlich zurück, strahlt aber, es ist alles gut gelaufen. Indem läuft ein Zug ein, aber auf der falschen Seite des Bahnsteigs, denn angekündigt ist der Zug auf der anderen Seite. Auf einmal springt die Anzeige um und wir erkennen, das ist unser Zug. Wir hoppeln am Zug entlang, natürlich in die entgegengesetzte Richtung des Gepäckwagens. Dann wieder zurück - ach was - wir schmeißen die Räder einfach in den Eingang eines normalen Abteilwagens, schließen sie gut ab und verstauen dann unser Gepäck in dem benachbarten Speisewagenabteil. Als der Zug pünktlich abfährt, verschnaufen wir und lachen uns kaputt, daß wir mit einer Platzkarte nach Posen fahren wollten. Das hätte Ärger gegeben, schlimmstenfalls einen Tag Verlust.

Während der Bahnfahrt stellen wir fest: die Landschaft läuft wie ein Film vorbei, man hat nicht das Erlebnis wie beim Radfahren. Dafür ist man schneller. In Posen haben wir drei Stunden Aufenthalt, Zeit genug, sich in der Stadt umzusehen. Ohne jede Ortskenntnis finden wir wohl auch den Marktplatz, ein paar Fotos, in einem Restaurant können wir etwas essen. Zurück zum Bahnhof, das war Posen. Ich lese hinterher nach, daß Posen an der Warthe liegt, eine sehenswerte Dominsel besitzt, seit dem ersten Weltkrieg bereits polnisch ist. Die Deutschen wurden aus dem berühmten Warthegau ausgesiedelt.

Bild 1 Bild 2 Bild 3 Bild 4 Eindrücke aus Posen

Auf dem Bahnsteig herrscht wieder Aufregung. Ein angekündigter Zug nach Zakopane läßt auf sich warten. Auf demselben Gleis soll unser Zug fahren. Ständig Lautsprecherdurchsagen, die wir nicht verstehen. Womöglich hat man umdisponiert und unser Zug läuft auf einem anderen Bahnsteig ab? Und wir bekommen gar nichts davon mit? Wir fragen einige wartende Fahrgäste, die wollen alle nach Zakopane. Ein Zug fährt ein, wir erkennen: Warschau - Holland Expreß. Große Erleichterung, die Räder in derselben Manier im Gang verstaut, diesmal haben wir aber keine Fahrradkarten. Mir ist es bei den vergangenen Reisen nie gelungen, in westeuropäischen Ländern das Fahrrad im Mitnahmeverfahren über die Grenzen zu bringen. Und das soll nun mit dem gewagten Transfer Polen - Deutschland klappen? Bei der Fahrkartenkontrolle werden wir gefragt: unsere Fahrräder? Ja. Billet? Wir gucken verständnislos. Der Schaffner gibt sich zufrieden, nickt mit dem Kopf und zieht ab. Wie gut, daß es nicht nur Beamte der deutschen Gründlichkeit gibt.

Gesellschaft haben wir auch bekommen, ein Pole mit zwei riesigen Reisetaschen, der ist sehr schweigsam. Der andere ist das Gegenteil, eine Frohnatur, den wir erst mit gemischten Gefühlen taxieren. Kaum im Abteil, kramt er Bierdosen raus, wir müssen mittrinken, sonst wird er böse. Das wollen wir nicht riskieren. Nach einer Weile haben wir unseren Argwohn überwunden und verstehen uns ganz gut. Er ist seit drei Monaten in Deutschland, mit seinen in dieser Zeit erworbenen Sprachkenntnissen kann er uns ganz gut über seine Lebensverhältnisse in's Bild setzen. Er arbeitet auf einem Campingplatz in Westerland auf Sylt, wohl als Mädchen für alles, Elektriker sei er. Als wir uns Frankfurt/Oder nähern, verschwindet er, wir mögen auf seine Tasche aufpassen. Die Zollbeamten erscheinen - wir sind als Radfahrer harmlos, der schweigsame Pole gibt sich ähnlich unbedarft. Devisen, Alkohol, Zigaretten - haben wir alles nicht. Über die Fahrräder wird kein Wort verloren. Die Gepäckstücke werden abgetastet, das war's dann auch.

In Frankfurt stehen wir lange auf dem Bahnhof, das Personal wechselt, Berliner Dialekt. Für mich ist erst jetzt die Heimfahrt "gelaufen", wenn uns auch zu keinem Moment dieses beklommene Gefühl befallen hat, das man früher beim Überwinden des "Eisernen Vorhangs" haben mußte. Unsere Frohnatur taucht wieder auf, er habe Freunde getroffen, weg ist er mit seiner Tasche. Was er da wohl drin hat...

Wir fahren auf Berlin zu, im Speisewagen holen wir uns noch drei Dosen Bier für die restlichen Slotys, eine DM müssen wir noch dazulegen. In Berlin geht es auf Mitternacht, Rainer schläft schon, schnarcht sogar. Dafür sehe ich nach der langen Rangiererei in Berlin - Hbf. den Alexanderplatz, das rote Rathaus, den Reichstag vorbeigleiten. Dann schlafe ich auch ein.

"Fahrkartenkontrolle, das Personal hat gewechselt!" Nicht gerade aus tiefem, aber willkommenen Schlaf schrecken wir hoch. Alles in Ordnung, bald sind wir wieder in Schlaf versunken. Rainer weckt mich, wir sind schon hinter Helmstedt. Braunschweig - zu Hause! Wir verabschieden uns, in wenigen Stunden werden wir uns bei der Arbeit schon wiedersehen.

Ich fahre mit dem Fahrrad die 10 km nach Hause. Der Morgen graut. Bei den Kennelteichen singt eine Nachtigall. Und er geht mir durch den Kopf, der Schlußsatz meines Reiseberichts, wenn ich ihn denn schreibe: "Die Nachtigall auf Hiddensee, die hat schöner gesungen!"