Wir sind uns auch einig, noch zwei Tage der kommenden Woche an Urlaub hinzuzunehmen, damit man an einem Werktag - von wo auch immer - mit der Bahn wieder nach Hause fahren kann. Erschwerend scheint allerdings, daß Rainer noch in der ersten Maihälfte einen zweiwöchigen Segeltörn in der Ostsee plant - wird es dann mit einer anschließenden Radtour an der Küste nicht ein wenig viel "Ostsee"?
Die Antwort ist interessant: der Kontrast der Perspektive zu Wasser und zu Lande mache den Reiz aus. Ich kann das nur halb nachvollziehen, da ich mir die Wasserperspektive nicht ins Brevier geschrieben habe. Nachdem die zwei Segelwochen mit dem Erreichen von Bornholm und Rückkehr über Rügen, Hiddensee, Darß und Fehmarn von Rainer und seinem Mitsegler gemeistert worden sind, geht es sogleich an die Planung und Realisierung unserer Landpartie.
In Bechtsbüttel schicken wir Verena in Richtung Wenden und Völkenrode, wo sie eine Verabredung hat. Wir kämpfen uns gegen den Ostwind bis zum Mittellandkanal vor, an der ersten Brücke tragen wir die Räder den steilen Pfad hinunter zum Leinpfad. Auf holperigem Weg erreichen wir die Abzweigung des Elbe - Seitenkanals. Hier werden wir nun auf schnurgeraden Schotterwegen unterschiedlicher Qualität etwa 80 km entlangfahren. Ich merke bald, auf was ich mich da eingelassen habe, Kollege Rainer drückt ordentlich auf die Tube, er ist in Hochform und -stimmung. Nach Passieren des Tankumsees falle ich in Höhe des Bernsteinsees fast schon vom Rad. Die Sonne brennt unerbittlich, dieser Weg am Kanal entlang bietet keinerlei Schatten. Und ich hatte mir vorgestellt, bei Wind aus südlichen Richtungen hier entlangzubrettern. Der "Grastest" (Hochwerfen einer Handvoll Gras) zeigt an: der Wind weht auf den Grad genau von vorn.
Mit "Brückenzählen" und Hoffen auf Kanalkurven, die den Gegenwind etwas abmildern, erreichen wir endlich gegen Mittag Bodenteich. Wir verlassen den Kanal erst einmal, um noch etwas Trinkbares in einem Supermarkt einzukaufen. Ein paar Ortschaften fahren wir nun auf "normaler" Landstraße, das ist geradezu eine Erholung. Von Wieren (Wierener Berge) aus begeben wir uns wieder zum Elbe - "Freizeitkanal", wie er wegen der geringen Nutzung durch die Berufsschiffahrt auch genannt wird. Am Kanal wird gerade eine Rohrleitung verlegt, sodaß man den Kanal nur durch mühsames Überwinden einer Leitplanke und einer steilen Treppe wieder erreicht. Meine Kehle ist wie ausgedörrt, da freut es einen, daß eine der frisch gefüllten Trinkflaschen ihren Inhalt in das Gepäck ergossen hat.
Wir nehmen nun die östliche Seite des Kanals, so langsam müssen wir uns ja auf die geplante Himmelsrichtung einnorden, der Wind hat es jedenfalls auch schon getan. Die Gegend um Uelzen wird passiert, immerhin hat Rainer angekündigt, in Bad Bevensen Kaffee und Kuchen zu spendieren, das gibt Ansporn. Vorher erreichen wir eine Schleuse, wo der Kanal in nördliche Richtung um etwa 20-30 m tiefer versetzt ist. Die Böschungen sind nicht nur mit blühendem Ginster verziert, sondern bieten - zunächst jedenfalls - etwas Windschutz.
In Bad Bevensen haben wir unseren Kaffee verdient. Dazu verlassen wir endgültig den öden Kanal, der zwar durch stets reizvolle Landschaft führt, aber durch das monotone Fahren sehr anstrengend ist. Jedenfalls für mich, ich bin merklich geschafft. Aber Rainer ist weiterhin in Hochform. Das merkt man auch beim Kuchenessen. In der Fußgängerzone finden wir ein hübsches Cafe, das alle Labsale für uns bereit hält. Die Trinkflaschen werden wieder aufgefüllt, die salzverkrusteten Gesichter einer Spülung unterzogen.
Nun endlich über die Dörfer und durch die Wälder auf ruhigen Straßen gen Norden. Kurz vor Bleckede, von Thomasburg nach Breetze, gibt es eine "Abkürzung", der Weg ist auf der Karte nicht gerade als Autobahn gekennzeichnet. Neben kräftigen Steigungen zeichnet er sich schließlich durch sandige Passagen aus, die nur schiebenderweise überwunden werden können.
Da ist man noch einmal ins Schwitzen geraten. In Bleckede geht es zuerst an den Hafen, um die Verhältnisse an der Fähre zu klären. Da klappt alles wunderbar, eine hübsche Fährfrau kümmert sich charmant um ihre Gäste. Da freuen wir uns schon auf die morgige Überfahrt. Ganz in der Nähe finden wir auch sogleich im "Landhaus an der Elbe" ein angenehmes Quartier. Essen und ein Weizenbier können im sommerlich warmen Cafegarten eingenommen werden.
Anschließend ein abendlicher Landgang. Es zieht einen automatisch Richtung Schloß, da liefert in einer Freiluftveranstaltung gerade ein Hannoveraner Knabenchor seinen Beitrag zu den gegenwärtigen Frühlingsmusiktagen. Wir lassen uns aber von der Eintrittskasse schrecken und betrachten einige altwürdige Bleckeder Backsteinhäuser. Manche haben im Giebel eine Kranvorrichtung eingebaut, sicher blühte einmal der Handel und Wandel.
Irgendwie ist aber die Luft an diesem Abend ungeheuer trocken, denn bei einbrechender Dunkelheit sitzen wir schon wieder im Cafegarten. Am Nebentisch drei Paare, die heute mit dem Rad aus Lüneburg gekommen sind und morgen nach Schwerin weiterfahren wollen. Die Bedienung erzählt, daß zwei Radfahrer hier durchgekommen seien, die hätten an einem Tag 220 km zurückgelegt. Auf der weiteren Tour werden wir bei dem kräftigen Ostwind die Vorstellung nicht los, das wir das in der Gegenrichtung auch schaffen würden.
Zum Abschluß sehen wir noch das hell erleuchtete Hotelschiff, das in drei Tagen von Hamburg nach Dresden die Elbe hinauffährt. Es bietet einen romantischen Anblick und beflügelt unseren Drang in die Ferne.
Nach guter Nacht und gutem Frühstück geht es heute am Sonntag frisch regeneriert um 8.30 auf die Weiterfahrt. Wir können direkt auf die Fähre fahren, die hübsche Fährfrau bedeutet uns, daß wir, da wir leider über dreizehn Jahre alt seien, den vollen Fahrpreis zu entrichten hätten. Das tun wir gerne. Als noch ein Auto auf die Fähre fährt, scheinen sich genügend Gäste für eine lohnende Überfahrt gefunden zu haben. Eine ältere gesprächige Dame entsteigt dem Auto und bekundet, wie sehr sie es genieße, mit ihrem Mann eine Autorundfahrt durch Mecklenburg zu machen. Bei dem herrlichen Wetter heute morgen ist das alles aber auch eine Lust. Es ist sogar nahezu windstill.
In zehn Minuten sind wir am anderen Ufer und damit in Mecklenburg.
Und nun, denke ich, beginnt der genüßliche Teil der Radtour. Man kann die alten Mecklenburger Bauernhäuser bewundern, sie sind wegen gelegentlicher Hochwasser der Elbe auf kleinen Warften errichtet. Immer noch hat man ein eigenartiges Gefühl, hier durch das ehemalige Sperrgebiet zu fahren. Auf einer Wiese wird gemäht. Ein Storch stelzt da mittendrin umher, wahrscheinlich hat er so seine Erfahrungen mit der Heumahd und verspricht sich einen leckren Happen. Rainer versucht zu fotografieren. Wenig später entdecke ich einen Wassergraben mit üppiger und blühender Vegetation. Auf ausgedehnten Brachflächen gedeiht eine vielfältige Vegetation. Wo es blau schimmert, bestimmt das wilde Stiefmütterchen das Bild.
Der Storch im Salat
Vegetation in den Gräben
Wir erreichen die Siedlung Bahnhof Boitzenburg. Hinter den Bahngleisen geht es links Richtung Zarrentin. Längs der Boize zieht sich die Straße durch Wiesenauen und Wälder. Einmal fotografieren wir ein Haus, das bietet einen gruseligen Anblick: sein ehemaliges Inneres liegt wie Eingeweide vor ihm ausgebreitet.
Nach Überfahren der Autobahn Hamburg - Berlin sind wir sogleich in Zarrentin. Hier wohnte einmal vor Jahrzehnten eine inzwischen längst verstorbene Tante. Einen Ortsmittelpunkt finden wir nicht, begeben uns also hinab an das südliche Ende des Schaalsees. Zwei Damen sonnen sich auf einem Anleger, nebenan baden etliche Kinder in dem nicht gerade Vertrauen erweckenden Wasser. Was da so gelb angeschwemmt worden ist, kann aber auch Blütenstaub sein. Wir genießen den geruhsamen Augenblick, indem wir auch für ein paar Minuten uns von der gleißenden Wasserfläche blenden lassen.
Ein Schluck aus der Trinkflasche, ein Bi-fi und ein Dextro, weiter geht's. Die Damen wünschen uns eine gute Weiterfahrt. Solange wir in Richtung Norden fahren, haben wir heute sogar einen schwachen Rückenwind, das muß fairerweise auch erwähnt werden. Die Straße östlich des Schaalsees ist sehr reizvoll: Hecken und Alleen, bergauf, bergab, Ortsdurchfahrten aus grobem Kopfsteinpflaster - da wird es einem nicht so leicht langweilig. Am schönsten ist es in Lassahn, da hat man von der Höhe eine gute Aussicht auf den Schaalsee. Zierde des Ortes ist eine in der Stilrichtung etwas eigenwillige Kirche.
In Roggendorf erreichen wir die B 208. Nun ist es mit der Beschaulichkeit vorbei. Die Autos sausen uns um die Knie, der Wind tut das gleiche in den Ohren. An das Ohrensausen werden wir uns noch ganz gut gewöhnen. Wir kommen in den Ort Gadebusch, reif für eine ausgiebige Rast. Einem Hinweisschild folgend finden wir nach ein paar Straßenecken ein hübsches kleines Straßenlokal. Soljanka und ein Spezi - das zischt! Ein Blick auf die Straßenkarte ist weniger verheißend, bis Wismar gilt es gut 30 km mit gut aufgefrischtem Gegenwind auf der vielbefahrenen Bundesstraße zu bewältigen. Wir erklären das zur "Durststrecke", da muß man durch.
Nicht so ganz guter Dinge geht es ans Werk. Es ist schon ein Kampf gegen Wind und Verkehr, aber die Straße ist fast durchgehend eine Allee. Zwischen den Bäumen hindurch erblickt man blühende Rapsfelder, die manchmal von einem Horizont zum anderen zu reichen scheinen. Ansonsten wird der Kopf geduckt bis der Nacken schmerzt, kurz aufgerichtet und massiert, weitergeduckt usw.
Nach wohl knapp zwei Stunden ist es soweit, die Türme von Wismar links voraus. Da gibt es wieder Motivation, Kaffee und Kuchen stehen geradezu als Fata Morgana vor uns. Kaum in Wismar landen wir genau auf dem Marktplatz, umrahmt von den historischen Fassaden aus der Schwedenzeit. Alles ist in strahlenden Sonenschein getaucht, mindestens drei Straßencafes mit Tischen, Stühlen und Sonnenschirmen laden ein, da lacht das Herz. Schöner kann man nach dieser Hatz nicht belohnt werden. Die "Reuterstuben" bekommen den Zuschlag.
Vorbei an einer der großen Kirchen Wismars bummeln wir danach zum Hafen. Da machen gerade ein paar Segler ihr Schiff fest, was die kritische Aufmerksamkeit von Segelexperte Rainer B. erregt. Mich interessiert ein weiter hinten liegendes Fahrgastschiff, das sei ein von den Russen nicht abgenommenes Auftragsschiff, davon gebe es noch zwei weitere. Ob das stimmt, läßt sich nicht nachprüfen.
Es geht nun auf die letzte Etappe dieses Tages. Immerhin sind wir nun an der Ostsee, unserem eigentlichen Ziel. Für die Quartiersuche erwählen wir die Insel Poel, vielleicht läßt sich dort in einem kleinen Fischerdorf ein angenehmer Abend verleben. Bis Kirchdorf auf Poel sind es nur noch 15 km von Wismar aus, dazu immer eine schöne Aussicht auf die Wismarbucht. Wie man sieht, war heute ein Ausflugssonntag, die nach Wismar zurückströmende Blechlawine staut sich hinter einer Baustelle auf viele Kilometer, da stehen sie nun mit abgestelltem Motor, Kind, Hund und Oma in der heißen Sonne. Wir haben es da viel besser, denn uns weht der Wind von vorn.
Und dann weht der Wind auch einmal von hinten, als wir auf den Damm einbiegen, der das Festland mit Poel verbindet. Links und rechts des Dammes befinden sich Anlandungsgebiete, sog. Salzwiesen mit der ihnen eigenen Vegetation und Fauna. An einer Brücke halten wir an, da wird schon eifrig in der Ostsee gebadet. Beschäftigt mit dem Blick auf die ferne Stadtsilhouette von Wismar bemerken wir gar nicht, wie Rainers Fahrrad Übergewicht bekommt und vom Bordstein auf die Straße kippt. Wäre in dem Moment ein Auto da hinein gefahren, hätte die Reise vermutlich schon ein Ende gefunden. Zum Glück ist alles heil geblieben, ein bißchen Lenkerband und das Wiederfinden einer verlorenen Kapsel am nächsten Morgen reduzieren den Schaden auf Null.
In Kirchdorf begeben wir uns, wie meistens auf der weiteren Reise, erstmal zum Hafen. Einträchtig liegen hier Schifferboote und Vergnügungsboote ("Mantafahrer der Meere") neben- und hintereinander.
Bild 1 Bild 2 Kirchdorf auf Poel
Zur Quartiersuche müssen wir in das Dorf und fragen in der Gaststätte nach. Der Kellner schickt uns zu einem Haus schräg gegenüber "bei seiner Tante". Mit der Tante war das aber nichts, hier wohnt heute Frau Nelli Makel mit ihrer Familie: "jetzt sind WIR da" sagt der Mann. Wir bekommen unser Zimmer und sind froh. Auch das Duschen klappt, nur Rainer hat technische Probleme mit den Schlauchanschlüssen und muß sich anschließend mit einer längeren Aufwischprozedur befassen. Auch mir gelingt es, beim Füßewaschen das Waschbecken zu Bewegungen in Dezimeterbereichen zu animieren.
Wie immer ist dann das Essen in schon erwähnter Gaststätte angesagt, danach empfiehlt sich noch ein längerer Fußmarsch zum Strand von Poel: "Am Schwarzen Busch". Der Strand ist hier nicht das Paradies, schmal, steinig und veralgt. Eine kleine Steilküste von vielleicht 10 m Höhe, eine Aussichtsplattform zum Betrachten der tiefstehenden Sonne. Beim Rückmarsch meldet sich schon wieder der Flüssigkeitsdefizit vom Radfahren.
Zum Glück findet sich noch eine Hafenkneipe für ein Bier. Wenn früher Hafenkneipen verräucherte Spelunken waren, so sind das heute kioskähnliche Imbißrestaurants, was uns aber an diesem Abend nicht stören kann. Aus "einem Bier" werden ein paar mehr. Besonders erfreut uns der Besuch von "Tarzan", einem wohl ortsbekannten, bärtigen und dem Alkohol nicht abgeneigten Unikum. So wird es nach Mitternacht, indem wir das Erreichen der Ostsee zu feiern haben.
Mit etwas vernebelten Köpfen kommt man am Morgen zu sich. Frau Makel serviert das Frühstück, danach geht es schon besser. Die Strecke führt uns erstmal wieder zurück auf den Weg von gestern über den Damm zum Festland. Dann Richtung Norden auf das Ostseebad Rerik zu. Wenn man eine Steigung erklommen hat, wird man meistens mit einer schönen Aussicht zur Seeseite auf die grünen Landzungen von Poel und Wustrow belohnt. Besonders schön ist der Blick auf das tiefblaue Salzhaff.
Kurz vor Rerik entdecken wir eine Abkürzung über Blengow, dann brauchen wir nicht bis Rerik hinein und können einen Winkel abkürzen. Das gelingt auch, aber unter erschwerten Bedingungen, denn die Straße ist unbefestigt und fordert uns auf 2 km eine Menge Kraft ab. Wir landen dann auf der Hauptstraße nach Kühlungsborn. Einige Steigungen bringen einen so auf 70 m Höhe, bei Bastorf steht auf einer Kuppe der höchstgelegene Leuchtturm weit und breit. Wir fahren aber daran vorbei, denn es folgt naturgemäß eine flotte Abfahrt. Es rollt hier aber nicht so gut, die Straße hat unangenehme Wellen und manchmal Schlaglöcher. Wieder durch Rapsfelder fährt man in Kühlungsborn West ein.
In jedem einschlägigen Fahrradführer über die Ostseeküste ist nachzulesen, daß es nun an der Zeit ist, das Verkehrsmittel zu wechseln. Von Kühlungsborn-West nach Bad Doberan solle man sich für 15 km der altehrwürdigen Dampf-Schmalspurbahn "Molli" anvertrauen. An diesem Morgen ist "Molli" bereits durch energische Pfeiftöne einige Zeit vor Erreichen des Bahnhofs zu vernehmen. Das kann zweierlei bedeuten: Molli kommt gerade an, ... oder ist gerade abgefahren. Wer will, mag raten wie es uns ergeht ....
Rainer sagt natürlich: "Den holen wir ein!", aber das ist bei den Verkehrsverhältnissen in Kühlungsborn wohl doch nicht drin. Vor genau 10 Minuten ist "Molli" uns vor der Nase weggedampft. Indem wir auf die muskelentspannende Eisenbahnfahrt verzichten, müssen wir allerdings keinen weiteren Zeitverlust in Kauf nehmen, denn man ist sonst auch erst in einer Stunde in Bad Doberan. So fahren wir direkt nach Heiligendamm. Die Ostsee ist auf dieser Strecke nicht zu sehen, sondern verbirgt sich hinter einem kleinen Höhenrücken. In Heiligendamm gibt es eine Ostseeklinik direkt am Meer. Alle Gebäude sind weiß und etwas klassizistisch. Ein großer Felsblock liegt herum zu Ehren des Begründers des Bade- und Kurbetriebs im letzten Jahrhundert an dieser Stelle.
Heiligendamm1
Auf der Mauer, auf der Lauer...
Auf einer Nebenstraße an der Küste entlang, dann mehr landeinwärts, fahren wir durch Börgerende-Rethwisch, viele strohgedeckte Häuser sind bemerkenswert. Weniger reizvoll ist dann die weitere Strecke bis Warnemünde. Immerhin kündet sich auch dieses "Highlight", wie wir Höhepunkte der Reise zu nennen pflegen, rechtzeitig durch eine eindrucksvolle Kulisse von Werftanlagen an. Hier befindet sich die "Warnow-Werft", vor kurzem noch im Mittelpunkt der Öffentlichkeit.
Bei der Ortseinfahrt machen wir einen kurzen Abstecher an den Strand. Bei bestem Badewetter tummeln sich einige Sonnenanbeter, die Bademode ist kein Thema. Wir dagegen durchschwitzt, hungrig und ausgedörrt - da kommt man schon ins Grübeln. Das wiederum treibt uns konsequent in ein wunderschön am Mündungsarm der Warnow, dem "Alten Strom" gelegenes Speiselokal. Ein Spezi (zisch), und eine Fisch- bzw. Muschelsuppe, äußerst delikat! Dazu die schöne Aussicht auf die Promenade und den Hafenkai mit malerischen Schiffen, das baut uns wieder auf. Noch ein Blick um die nächste Ecke, da befindet sich der Leuchtturm, danebent ein bemerkenswert häßlicher Bau in Form einer Rundturnhalle.
Bild 1 Bild 2 Bild 3 Warnemünde
Vorbei an der Werft, da liegen zwei mächtige Schiffsneubauten mit großen Aufbauten und russischen Namen. Die Fähre über die Warnow liegt in Warnemünde hinter'm Bahnhof, aber wir finden sie trotzdem. Nach der kurzen Überfahrt geht es zunächst weniger schön durch Vororte, dann aber in das ausgedehnte Waldgebiet der Rostocker Heide.
Meine Fahrradkette quietscht deutlich hörbar, dennoch verspüre ich auf einmal - jetzt in der zweiten Hälfte des dritten Tages - wie die Beine mehr Kraft entwickeln. Wegen des Windes fahren wir die Strecke bis Graal-Müritz möglichst im Verband, das ist für den jeweils zweiten eine deutliche Erleichterung.
In Graal-Müritz frage ich zwei Passantinnen nach einer Tankstelle, das scheinen sie mir als Fahrradfahrer etwas anzukreiden. Die Erklärung ist dann auch denkbar umständlich. Bevor wir aber an die Tankstelle gelangen, steht vor einer Straßenecke wie aus dem Boden gewachsen ein nigelnagelneues Fahrradgeschäft. Da kriege ich natürlich mein Fett für die Kette, sodaß diese bei der Weiterfahrt bei rundem Tritt wieder wohlig schnurrt.
Aber das währt nicht lange, denn wir geraten nun an eine geheimnisvolle Abkürzung durch das "Große Moor". Eine Art Waldschrat brummelt uns auf unsere Frage nach dem Weg etwas zu. Wir entnehmen dem, daß der Weg brauchbar ist. Zunächst kann man auf einem festen Sandstreifen auch ganz gut fahren, schließlich aber bleibt ein ausgefurchter Sandweg zwischen Ginsterhecken übrig. Viel mehr als einen km müssen wir aber nicht schieben, dafür erleben wir hier eine Heidelandschaft in völliger Abgeschiedenheit.
Gerätepark zur
Waldbrandbekämpfung
Im großen Moor hilft nur
Schieben
Nun befinden wir uns schon auf der Zufahrt zum Darß, dem "Fischland". Die Straße ist allerdings sehr dem Wind ausgesetzt, es entschädigt uns der Blick über den Saaler Bodden mit seinen grünen Küstenstreifen. Der Kirchturm von Ostseebad Wustrow grüßt am Horizont. Auf dem Weg dorthin überholen wir eine Gruppe Radfahrer, die sich auch schwer vorankämpfen. So ist in Gustrow eine Rast angesagt, natürlich wird die an den Hafen verlegt. Dieser ist sehr hübsch und gemütlich. Es gibt eine Segelschule, auf einer Schautafel werden die hier üblichen Segelboote namens "Zeesenboote" erklärt, draußen auf dem Wasser fährt ein solches Boot gerade ein paar Segelmanöver.
Nun sind wir gespannt auf Ahrenshoop, einem bekannten Künstlerort auf dem Darß. Von dort soll ich meiner Tochter Annika eine Karte schicken, weil sie vor einem Jahr bereits einmal hier weilte. Von den vielen strohgedeckten Häusern, für die der Darß berühmt ist, gehören die meisten zu symmetrisch angelegten Ferienkolonien. In Ahrenshoop angelangt, sind wir plötzlich schon wieder durch den Ort hindurch. Wir fahren einen Weg rechts ab, um auf den Ortsmittelpunkt zu treffen. Ein Blick auf die Karte: es handelt sich um eine Abkürzung nach Born - dem nächsten Dorf. Jetzt wollen wir nicht nochmal zurück, da wird das nun mal nichts mit der Ansichtskarte.
Nach Born geht es auf baumfreier Strecke über 7 km schnurgerade mit Gegenwind bester Qualität. Weil wir ja nicht ganz bei Trost sind, fahren wir auf einmal wie die Wilden, abwechselnd in Führung, der Tacho zeigt zwischen 25 und 30 km/h an. So sind die 7 km einigermaßen flott überstanden. "Das hat Spaß gemacht" sagt Rainer, "Ächz" kann ich nur keuchen.
Der Kaffeedurst meldet sich nun entschieden. Zunächst aber sind wir in der "grünen Küche" von Born gelandet, finden uns auf der Terrasse eines Privathauses wieder, dann aber geht's nach Befragen über einen Trampelpfad genau in ein Gartencafe. "Wer hier herfindet, findet immer wieder her" sagt der Wirt. Er bringt uns wunderbaren Kaffee und Kuchen. Am Nebentisch sitzt ein junger Herr mit einer Badebiene von wohl 1.90 m Länge, die unterhalten sich über San Fanzisko und Akapulko.
Der letzte Abschnitt der Tagesroute wird in Angriff genommen, vorbei an Wieck mit einem Schiffsanleger im Bodstedter Bodden, schließlich über den Deich längs der Straße, dann sind wir in Zingst. Wieder zum Hafen, aber der ist eine Baustelle. Auch fährt das Schiff nach Hiddensee, auf das wir gehofft hatten, erst am übernächsten Tag. Also auf die Suche nach einem Hotel. In einem Laden schicken uns die Verkäuferinnen in Richtung "Hotel Störtebecker". Das ist auch nicht zu übersehen, es war ehemals FDGB-Heim mit entsprechenden Ausmaßen und architektonischer "Schönheit". Eine freundliche Dame an der Rezeption verhilft uns zu unserem Zimmer für immerhin DM 100.-, allerdings mit Frühstücksbuffet.
Auch kann ich ein Telefongespräch mit zu Hause vermitteln lassen: "Hier Hotel Störtebecker in Zingst, ich habe ein Gespräch für Sie" flötet die Rezepteuse einem meiner Kinder in die Muschel - das macht sich doch gut! Nun ist alles erledigt, auf zum Essen: "Fischerklause". Rainer wählt Barsch, ich esse Zander - wunderbar. Auf ein Abschlußbier ist uns das "Storchennest" empfohlen worden, aber das ist ein hypermodernes Lokal im Biedermeierstil, da drehen wir gleich wieder um. Richtung Strand finden wir auch nicht's geeignetes, schließlich landen wir im "Anker". Nachdem wir dort getrunken und gezahlt haben, wird noch einmal "umdisponiert" und ein Bier nachbestellt. Das war's dann aber auch.
Der Morgen beginnt mit dem Frühstücksbuffet, das leider von einer stark schwäbelnden Reisegruppe ziemlich geplündert wirkt. "Bringsch mi no a Gselz", "Nimmeh viel do, abber für mi reichts no grad" usw. Einer schmiert sich Brote und packt sie in der Serviette ein. Ich vergesse fast das Kauen. Nach vier Gläsern Saft und zwei Kännchen Tee brechen wir auf. Viel ist heute nicht zu leisten, nur bis Stralsund und dann per Schiff nach Hiddensee.
Von Zingst hinüber zum Festland führt eine Drehbrücke, rechts fahren wir an einem Bahndamm entlang, der voller Waggons steht. Wir passieren Barth mit der Marienkirche, sortieren uns am Bahnübergang erst falsch, dann richtig auf der Strecke nach Stralsund ein. Hinter Barth gibt es eine ordentlichen Steigung, es ist der Glöwitzer Berg mit 34 m Höhe. Da sieht man nochmal zurück auf die nördlich vorgelagerte Landzunge von Zingst.
Desweiteren geht es auf Alleen dahin. Auf dieser Tour muß man mal davon ausgehen, daß eine Alleestrecke das Normale ist. Linden, Eichen, Buchen, Ahorn, in Heidegegenden Birken werfen einen wohltuenden Schatten, den Wind halten sie aber kaum ab. So fahren wir mit dem vertrauten Ohrensausen unseres Weges, wird es einmal still im Ohr ist Vorsicht geboten, womöglich sind wir auf einer falschen Route und die Richtung stimmt nicht mehr. Dabei hat Rainer einen Kompaß mit, den brauchen wir gar nicht.
Nach 12 km von Barth biegen wir links ab auf eine Nebenstrecke. Rainer fährt wieder wie ein Wilder voraus, nach genauem Kartenstudium kann ich ihn akkustisch gerade noch erreichen, dies war die falsche Abzweigung. Die richtige kommt dann erst einen km weiter. Auch Stralsund kündigt sich rechtzeitig mit seiner imposanten Skyline an, unsere Einfahrt von Norden allerdings führt an dem "Entsorgungspark", auf Deutsch "Müllkippe" vorbei. Das wäre nicht so schlimm, aber die Straße ist gespickt mit Glasscherben, zum Glück haben wir aber weder hier noch auf der ganzen Fahrt eine Panne irgendwelcher Art.
In Stralsund geraten wir direkt auf den Marktplatz: Fototermin. Dann schieben wir unsere Räder durch den mit Glas überdachten Innenhof des Rathauses. Ein Stück Ossenreyer Straße, da ist Wochenmarkt. Wir fragen uns zum Hafen der "Weissen Flotte" durch, da soll um 12 Uhr unser Schiff nach Hiddensee ablegen. Fahrkarten lösen, ein Würstchen in der nahegelegenen Imbißbude, dann ist es soweit. Es weht eine steife Brise, wir ziehen uns warm an. Der Rügen - Hiddensee - Dampfschiffahrts - Kapitän kommt dagegen ganz schön ins Schwitzen, denn er bringt beim Ablegen das Schiff gegen den auf der Breitseite stehenden Ostwind nicht auf Kurs. Er muß nochmal zurücksetzen und anders herum drehen, was nur mit erheblicher Unterstützung der Hafenmole glückt.
Dann aber hinaus, die Türme von Stralsund bieten ständig wechselnde Perspektiven, verschieben sich gegeneinander, dann in weiterer Entfernung die Silhouette wie ein Scherenschnitt.
Bild 1 Bild 2 Bild 3 Stralsund von der Seeseite
Rechts gleitet die Küste von Rügen mit blühenden Rapsfeldern vorbei. Schwäne dümpeln auf den Wellen, Möwen zirkeln fast ohne Flügelschlag ihre Kunstfiguren über der See. Vor uns ein Frachtschiff nach Rostock, das holen wir langsam ein und ziehen vorbei.
Rainer interessiert vor allem die segelnde Konkurenz. Ein Boot mit extremer Schräglage findet seine besondere Mißbilligung, selbst ich als Nichtsegler muß ihm da zustimmen. Ferner sind die komplizierten Gewässer zwischen Rügen und Hiddensee interessant. Die See ist sehr flach, die Verzweigung der Fahrrinne hat die Form eines Schwalbenschwanzes, wehe man kürzt da ab. Das kriegt der Laie gar nicht mit, man muß schon ein Experte sein! An einer Stelle sieht aber auch die Landratte, wo das Wasser wegen des ansteigenden Grundes wie mit dem Lineal gezogen in eine gelbe Farbe übergeht.
Im Reisefüher ist die interessante Vermutung nachzulesen, daß ohne die regelmäßigen Baggerarbeiten für die Fahrrinnen vermutlich längst das Fischland, Darß, Zingst und schließlich Hiddensee eine langgezogene, zusammenhängende Landzunge bilden würden. So arbeitet die Ostsee hier wie überall, sie trägt Land ab und lagert es an anderen Orten wieder an.
Hiddensee liegt voraus, man kann schon die Orte erkennen, die im Norden liegenden Anhöhen von Swantberg, 65 m, und Bakenberg mit Leuchtturm, 72 m. Wer auf Hiddensee war, schwärmt davon. Rainer war auch schon da, hat aber noch nicht viel von der Insel gesehen - schwärmt aber trotzdem. Was ist nur dran an diesem Stück "seuten Länneken", wie die Einheimischen ihren Landfetzen nennen? Voran Gerhart Hauptmann, dann Thomas Mann bis Albert Einstein haben hier "Ooh" und "Aah" gesagt, erstgenannter G.H. hat sogar auf der Insel seine letzte Ruhestätte gefunden. Außerdem hat man ihm eine Gedenkstätte geweiht, obwohl G.H. sich eher arrogant den Inselbewohnern gegenüber gezeigt haben soll. Heute lebt man vom Tourismus, so steht es im Informationsblatt, das erklärt so manches.
So bin ich eher kritisch eingestellt, beim Anlegen ist auch noch nichts besonderes zu sehen. Rainer zeigt voll Stolz auf ihren Liegeplatz vor zwei Wochen neben der dicken einheimischen "Ute". Für unseren Liegeplatz zur Nacht steuern wir das "Hotel am Meer" in Neuendorf an. Leider alles besetzt. So versuchen wir es gleich gegenüber. Eine sich sonnende Dame ist nicht kompetent, weil sie auch nur Gast ist. Die Hauswirtin ist nicht aufzutreiben. Also ein Haus weiter, hier wohnt Frau Mittelbach. Ein Zimmer - ja, das ginge, aber nicht unter laufendem Wasser waschen, weil sonst die Sickergrube zu schnell voll wird. Für jeden DM 20.-, das können wir uns leisten.
So ein Quartier wünscht man sich
Der Rest des Tages steht für die Erkundung der Insel zur Verfügung. In Neuendorf stehen alle Häuser mitten in der Wiese. Erst nach einigem Nachdenken kommt man darauf, woran das liegt. Es gibt ja keine Autos auf Hiddensee, was braucht man da Wege, Zufahrten und Garagen. Da kann jeder laufen wie er will. Ich verteile meinen ersten Pluspunkt. Wir fahren nun auf unseren gepäckfreien Rädern nach Norden (Gegenwind) Richtung Vitte durch das Naturschutzgebiet Dünenheide. Auf einer Weide zottige schwarze Rinder - die "Hiddenseekuh", aber sicher aus Schottland importiert.
Ansonsten blühender Ginster vor den grünen Hügeln der Nordinsel. Weite Flächen bewachsen mit Heide lassen ahnen, was hier im Spätsommer während der Heideblüte los sein mag.
Bild 1 Bild 2 Bild 3 Ginster und Seegras
Vitte ist ein Straßendorf, ein kleiner Hafen, eine Aalräucherei. Letztere spukt mir noch eine Weile im Kopf herum. Wir fahren aber weiter nach Norden nach Kloster. Hier wird es schon richtig bergig, an der Dorfstraße finden wir wieder ein uns zusagendes Cafe. Wie immer keine Kritik am Dargebotenen. In der Nachmittagssonne arbeiten wir uns weiter bergwärts vor, zwischen kahlen Wiesen mit Trockenrasen führt die einzige Betonpiste bergauf. Man möge raten, wo man herauskommt, kurz und schmerzlos: an der Müllkippe. Ist mir auf Usedom schon mal genauso passiert!
Vergessen wir das schnell, wählen einen Trampelpfad, nehmen dafür das Schieben in Kauf. Auf einer kleinen ebenen Fläche geht es nicht mehr weiter, eine Absperrung. Richtung Osten sieht man weit über Rügen hin, wer es sich einbildet, sieht von Kap Arkona bis Jagdschloß Granitz. Weiter vorne die beiden Landzungen Neu- und Altbessin an der Nordspitze von Hiddensee. Die Farben blau, grün, gelb - ein Aquarell.
Nun aber durch die Absperrung. Luft anhalten - Steilküste! Man kann sich direkt an die Kante in das Gras legen und schauen. Jetzt kann man die restlichen Pluspunkte an Hiddensee verteilen. "Da gibt es wohl nicht viele Plätze in Deutschland, die schöner sind" fabuliere ich vor mich hin. 70 m unter einem die See, alles funkelnd von der Sonne. Gelb das Steilufer aus Lehm und Sand, Sandornbüsche haben sich einen kargen Platz zum Leben erkämpft. Na und so weiter, das kann man mit Worten nicht beschreiben. Sicher auch nur unvollständig mit Fotografieren.
Wir schlagen uns zum Leuchtturm durch. Im Sanddorngebüsch singt eine Nachtigall - so langsam wird es kitschig. Sie zieht alle Register ihres Könnens, und das sind einige.
Der Leuchtturm wiederum, mit grobem Putz beworfen, ist potthäßlich. Zur See hinunter zieht sich ein buschbewachsener Einschnitt, das wirkt wie ein Mini-Urwald. Nach wenigen Metern durch Kiefernwald ereicht man dann den "Inselblick" am Waldrand oberhalb von Kloster. Hiddensee liegt nach Süden ausgebreitet vor einem. Die Sitzbänke sind hier normalerweise belegt. Dann sollte man sich ins Gras legen, das ist noch viel schöner. Und Zeit muß man haben!
Benommen machen wir uns an die Rückfahrt. Es geht steil hinunter, die Bremsen quietschen und man ist wieder in Kloster. Für den Rückweg wählen wir den Weg am Strand entlang, auf der Uferbefestigung kann man schön fahren und hat gleichzeitig den Blick auf das Meer. So kommt man auch nicht nochmal an der Aalräucherei vorbei. Jetzt bläst uns der Rückenwind voran, da merkt man mal, wie schön das sein könnte.
In Neuendorf nochmal an den Hafen, zwei private Segelboote liegen an der Mole. Da sich der Hunger meldet, wird nicht lange gefackelt und im "Hotel am Meer" speisen wir uns eins. Der Abend ist noch jung, da marschieren wir an den Strand an der Westseite, danach noch etwas nach Süden Richtung Leuchtfeuer. Auf dem Rückweg versucht Rainer vegeblich, an einer umlagerten Telefonzelle ein Telefongespräch nach Hause in Gang zu bringen.
Ich gehe schon mal vor zum Abschlußbier. Im Restaurant sind alle Tische belegt, ich suche mir die braungebranntesten Tischgenossen aus, ein Ehepaar etwas älter als unser Jahrgang. Ich fange beim ersten Bier an, die Tagebuchnotizen weiterzuführen. Weit komme ich nicht, bei einer Eisportion mit einer Palme aus Papier albern meine Tischgenossen herum und wir kommen in's Gespräch. Ich fackle gar nicht lange und frage, ob die beiden mit einem Segelboot hier seien. Das ist der Fall. Insgeheim reibe ich mir die Hände, da wird der Rainer staunen, wenn er vom Telefonieren kommt. So ist es auch - nur daß ich den Rest des Abends nicht mehr viel zu Wort komme.
Nun ist, was weniger lustig ist, unser Segelfreund linksseitig durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung behindert. Dadurch ist er gezwungen, noch vor Einsetzen der völligen Dunkelheit sein Schiff aufzusuchen, weil er, was wieder lustiger ist, dieses nur auf allen Vieren durch Überwinden einer im Wasser stehenden Pfahlreihe in Längsrichtung erreichen kann. Als wir uns das am nächsten Morgen ansehen, müssen wir zugeben: Respekt!
Früh um 8 Uhr geht das Schiff nach Schaprode auf Rügen ab. Ohne Frühstück setzen wir uns verschlafen in den Fahrgastraum. Hier kriegt man leider auch keinen Kaffee. Die Überfahrt dauert eine gute halbe Stunde. In Schaprode schauen wir uns sogleich nach etwas Eßbarem um. Kein Problem, ein wunderbarer Kiosk hält Kaffee und Kuchen in ausreichenden Mengen für uns bereit.
Die Tagesetappe kann lang werden, oder auch nicht - das hängt davon ab, ob es eine Überfahrtmöglichkeit von Glewitzer Ort auf Rügen nach Stahlbrode zwischen Stralsund und Greifswald gibt. Alle Fragerei, auch bei dem Personal der weißen Flotte, ist bisher ergebnislos geblieben, so müssen wir die Entscheidung über die endgültige Fahrtroute noch verschieben. Der Anfang ist aber klar, von Schaprode nach Trent, dann über Gingst und Samtens nach Garz. Dabei durchfährt man den weniger reizvollen Westteil der Insel. "Weniger reizvoll" ist nur relativ zu Stubbenkammer oder Kap Arkona zu verstehen. Die Landschaft ist landwirtschaftlich geprägt, schöne Alleen und Ortsdurchfahrten sorgen für Abwechslung. Der Wind ist heute weniger agressiv und weht mehr von der Seite.
In Garz gehe ich auf die Post, um Geld zu holen, Rainer erkundigt sich weiter nach der Glewitzer Fähre. Eine Antwort lautet: "Da weiß man sowieso nicht, was da läuft, das ist viel zu weit weg". Ein anderer Passant sagt "Die Fischer sind da alle arbeitslos, aber Bootsverkehr ist". Womöglich kann man auch irgendwo fragen, ob sich einer bereit findet, uns die paar hundert Meter zum Festland zu bringen.
Guter Dinge fahren wir also hinunter nach Maltzien und Losentitz, an der südöstlichen Spitze von Rügen. Die Gegend wird immer einsamer. "FPG" lese ich an einem Haus in Maltzien. Nach einer langen Allee blinkt vor uns das Wasser, hinten die Küste des Festlands - ein Katzensprung. Ein einziges Fischerboot liegt an der Mole, aber es ist alles verwaist, keine Menschenseele weit und breit. Im letzten Haus an der Straße sitzen aber Leute beim Kaffee, ein Mann hat eine Schiffermütze auf. Bevor wir da fragen können, kommt uns ein Ehepaar zuvor, die gerade einem Auto entsteigen. "Wir betreiben ein wenig Ahnenforschung, beim Pastor waren wir schon" geht das los. Ach du Schreck, das kann ja länger dauern. Es geht dann um irgendeine Tante, die hier mal in der Gegend gewohnt hat. Nach fünf Minuten gibt aber selbige Tante wohl nichts mehr her, und das Ehepaar verabschiedet sich wieder. Jetzt können wir unsere Frage aller Fragen loswerden. Ja, die Fischer kämen erst mittags, am besten sollten wir sie selber fragen, die wären in der FPG (Fischerei Produktions Genossenschaft) in Maltzien.
Ich weiß zwar schon, wo das Haus liegt, aber die 4 km müssen wir nun zurückfahren. Wir fassen einen Plan, was man alles machen könnte, wieviel Geld wir für eine Überfahrt, evtl. gleich bis Greifswald, bieten wollen. Die Fischer sind alles andere als arbeitslos, bis zu den Ellenbogen stecken sie zwischen Netzen und gefangenen Fischen. Wir wenden uns an den Chef und schildern die Situation. Ja, das täte ihm leid, erstmal hätten sie noch zwei Stunden zu tun und dann hätte er einen Termin, ein andermal gerne. Lange betteln mögen wir nicht, Rainer meint hinterher, wir hätten sie mit Geld ködern sollen. "Aber ein Foto darf ich machen" sage ich schließlich enttäuscht, und dann machen wir uns resignierend auf den Umweg, der uns rund vierzig zusätzliche Kilometer über Stralsund einbringt.
Entschädigt wird die Sache durch den nun ausnahmsweise von hinten wehenden Wind, weil wir in Richtung Westen fahren. Auch die Strecke über Poseritz und Gustow zum Rügendamm ist lohnend. In Poseritz erstehen wir bei einem fahrenden Händler je ein halbes Hähnchen für DM 3.99, also spottbillig. Im Schatten eines Obstbaumes verzehren wir mit triefenden Fingern die Hähnchen, die gleich nebenan stehenden Mülltonnen kommen uns dann auch noch gut zupaß.
Die Fahrt über den Rügendamm ist dann wieder ein "highlight", wenn auch gefährlich, weil einem laufend die Angelhaken der zahlreichen Petrijünger um die Ohren fliegen. Einer hat gerade einen Fisch gefangen, der sieht aus wie ein Aal, hat aber ein spitz zulaufendes Maul, das aussieht wie ein Schnabel. Es handelt sich um einen "Hornfisch", wie ein uns näher bekannter Ostseefischer später erklären wird.
Nach dem Genuß des vielbesungenen Stralsunder Panoramas vom Rügendamm aus verschluckt uns der Verkehr. Bis weit über die Stadtgrenze in Richtung Greifswald passieren wir stehende Autos. Wir befinden uns auf der E 251, der Verkehr ist entsprechend. Dann teilt sich die Straße, die alte Route mit Ortsdurchfahrten und Kopfsteinpflaster, die neue Strecke frisch ausgebaut in eleganten Schwüngen für Hochgeschwindigkeitsfanatiker. Der eingefleischte Radfahrer wählt da natürlich die Nebenstrecke, irgendwelche anderen Ausweichmöglichkeiten gibt es auf diesem Abschnitt nicht. Bis Greifswald sind es noch 30 km, der Wind frischt auf, weht von vorne links. Bis Brandshagen hoppeln wir auf dem Kopfsteinpflaster, das kostet Kraft. In Brandshagen gibt es eine Kormorankolonie, aber da steht uns der Sinn nicht danach - bloß erstmal nach Greifswald. Wir beißen in den sauren Apfel und begeben uns wieder auf die Trasse der Europastraße, da rollt es wenigstens besser. Im Verband fahrend kann man den Gegenwind auch so halbwegs parieren. Hin und wieder hupt uns einer an, wir hätten auf dieser Rasestrecke wohl nichts zu suchen. Die sollte man gleich auf's Fahrrad setzen und auf die Hoppelstrecke schicken, diese Bleifüße und Mantafahrer!
Als das Genick von der monotonen Fahrerei so richtig schön schmerzt, steht auf einmal der Greifswalder Dom quer vor einem auf der Straße. Es sieht jedenfalls so aus, denn es sind dann wohl noch 5 km, bis man in Greifswald ist. Vorher noch ein riesiges Supermarktgelände, der Parkplatz vollbesetzt, heute ist ein Tag vor Himmelfahrt. Endlich ist diese Durststrecke zu Ende, die unangenehmste der ganzen Fahrt. Auf dem Greifswalder Marktplatz ist Wochenmarkt, um die Ecke finden wir ein Cafe an einem Park: zwei Spezi bitte. Die Bedienung kommt endlich mit zwei 0.3 Liter Gläschen. Da können wir nur lachen, bitte gleich nochmal zwei! So langsam kehren die Kräfte wieder.
Jetzt zockeln wir erstmal gemächlich weiter, ein Radweg erleichtert die Weiterfahrt Richtung Wolgast. Links blinkt ab und zu der Greifswalder Bodden. Aber Augen auf, da muß noch eine Überraschung kommen. Diesmal werden wir nicht enttäuscht: da ist sie, die Klosterruine Eldena, eines der Lieblingsmotive von Caspar David Friedrich. Er hat diese Ruine, wenn es sein mußte, per Pinselstrich auch schon mal in das Riesengebirge oder sonstwohin versetzt. Fototermin!
Ich fahre schon weiter, während Rainer noch seinen üblichen Kampf mit der etwas umständlichen Verpackung seiner Fotoausrüstung in der Lenkertasche ausficht. Dann ist lange nichts zu sehen von ihm. Später überholt mich ein Mountainbiker in einem rennmäßigen Outfit. Gleich taucht auch Rainer auf, er hat sich mit dem Mountainbiker ein Rennen geliefert. Ich bin schon froh, daß ich nicht bereits bei normalem Tempo vom Rad falle.
Die Straße, auf der wir uns befinden, führt nach dem berüchtigten Ort Lubmin. Das dort befindliche Atomkraftwerk wurde glücklicherweise wegen sicherheitstechnischer Mängel bereits vor geraumer Zeit stillgelegt. So muß man sich mal klarmachen, daß man sich hier im Fall eines "GAU" oder "SUPERGAU" im Evakuierungsbereich bewegen würde. Schade wäre es um die Landschaft, die teilweise allerdings durch die zahlreichen Hochspannungsleitungen verschandelt wird. Wir fahren nun auf einer ganz unbedeutenden Nebenstrecke durch den Ziesebruch. Die Ortschaften sind hier besonders verschlafen, auch wenn es in einer davon ein Video-Kino gibt. Manchmal wird der Weg auch so sandig, daß wieder geschoben werden muß.
Schließlich fahren wir wieder auf der Landstraße nach Wolgast. Bevor wir dann die letzten 20 km in Angriff nehmen, landen wir natürlich wieder in einem Straßencafe. Ein weiterer Radtourer trifft ein, sein Gang deutet unmißverständlich auf gewisse Leiden im Süden des Rückens hin.
Voll motiviert durch die Vorfreude auf Kölpinsee und die Überraschung, die wir Anke und Achim bereiten werden, brettern wir die Straße auf Usedom entlang. Nun ist das landschaftlich auch nicht so doll, um die Reize Usedoms zu sehen, muß man an's Wasser: Wolgaster Ort, Möwenort, Lieper Winkel oder die kilometerlangen Strände. Aber dafür reicht ein ganzer Urlaub nicht, wie wir wissen.
In Koserow wird es vertraut, da kennt man sich vom Vorjahr noch aus. Umso mehr in Kölpinsee, der Bäcker am Ortseingang, Hotel Ostsee usw. Der Bürgersteig ist frisch gepflastert. Das im vergangenen Jahr leerstehende Ferienheim ist wieder in Betrieb. Das Haus "Kölpinsee" ist frisch renoviert und bewohnt. Achims roter Fischkutter aber liegt auf Kiel, sollte die Fischerei daniederliegen? (Dem ist nicht so, man läuft zur Zeit nur mit einem anderen Boot aus.)
Am Teufelsberg biegen wir um die Ecke, sogleich werden wir durch das Fenster entdeckt, dann ist das Hallo groß. Erstmal in's Wohnzimmer und "woher" und "wohin" und "viele Grüße". Wir sitzen da ziemlich verschwitzt im neuen Polstersessel, so lassen wir uns gern erst einmal in unser Zimmer einweisen, weitere Gäste sind nicht da, da stören wir keinen. Wir bewohnen dasselbe Zimmer wie im vergangenen Jahr beim Sommerurlaub. Schnell wird noch eine Waschmaschine in Gang gesetzt, herrlich so ein Zwischen-Zu-Hause. Eine Weile klönen wir noch, dann setzen sich Rainer und ich in's Hotel Ostsee ab, um die notwendige Nahrung einzunehmen, ohne unsere Gastgeber damit allzusehr zu behelligen. Schließlich sind wir unangemeldet, da können wir unseren Hunger nicht gleich Ankes Küche zumuten, schließlich hat sie auch noch Mann und drei Söhne zu versorgen. Das Hotel Ostsee gefällt uns gut, es bedient uns Frau Wirtins Tochter.
Bei Achim steht inzwischen ein Cognac auf dem Tisch, er wird mit Obstsaft getrunken, aber es bleibt trotz des bevorstehenden Vatertages, - hier sagt man überall "Männertag" - in Maßen. Bald sind wir aus verständlichen Gründen nach diesem anstrengenden Tag recht müde.