Kurz nach der Wende, Anfang des Jahres 1990, hat mal ein Herr aus Magdeburg in Braunschweig einen Diavortrag über den Ostharz gehalten. Dabei hat er sich an drei Flußtälern orientiert: dem Ilsetal, dem Tal der Bode und dem Selketal. Geografisch ist zu bemerken, daß zwischen Ecker/Ilse und Bode/Selke mit dem Brockenmassiv eine Wasserscheide aufgebaut ist. Ilse und Ecker gehören zum Einzugsgebiet der Weser, die östlicheren Flußsysteme dagegen fließen der Elbe zu.
In den erstgenannten Tälern haben wir uns schon herumgetummelt: Ecker und Bodetal sind auf dem Fahrrad erkundet worden, im Ilsetal sind wir zum Brocken gewandert und auf Langlaufskiern gerutscht. In besagtem Diavortrag wurde dem Tal der Ilse die größte Schönheit zugestanden. Das ist nicht so ganz verständlich, denn schon an Großartigkeit im Bereich Roßtrappe, Hexentanzplatz ist der Durchbruch der Bode durch den Harzrand nicht zu überbieten. Das Tal der Ilse dagegen ist das kürzeste der Täler, es liegen keine Ortschaften oberhalb von Ilsenburg am Harzrand, und es hat den größten Höhenunterschied mit etwa 700 m auf 12 km Länge aufzuweisen. Damit wird das Wasser der Ilse in diesem Bereich sicher am muntersten springen, vielleicht war das der Grund für die Auszeichnung.
Seit geraumer Zeit ist nun schon die Selke als Ziel einer Fahrradtour vorgemerkt. Auf der Landkarte ist bereits alles ausbaldowert. Was noch fehlt: die richtige Jahreszeit, ein schöner sonniger Tag und eine günstige Gelegenheit zum Ausreißen. Alles kommt diesmal am ersten Mai zusammen. Heidi hat ein Klassentreffen in Braunlage, dazu bringe ich sie am Morgen nach Harzburg. Danach kann ich mit dem Fahrrad im Auto querab über Ilsenburg und Wernigerode, Blankenburg und Thale Richtung Osten fahren und einen geeigneten Ausgangspunkt für die Tour aufsuchen.
Bad Suderode |
Am Parkplatz in der Nähe der Kirche steht ein Trabbi, eine Frau darin ist in eine Zeitung vertieft. So verschiebe ich meinen geplanten Hosenwechsel für die Fahrradhose lieber auf später an einem verschwiegenen Waldplatz. Fahrrad ausgeladen und Rucksack aufgepackt, noch ein Blick in die Runde. In diesem Ort hat wohl auch mal der Ferienbetrieb zu DDR-Zeiten für mehr Leben gesorgt. Eine großes Gebäude, eine ehemalige Restauration oder Freizeiteinrichtung rottet vor sich hin.
Am Ortsrand von Bad Suderode findet sich aber ein Kurhaus, heute wird dort der erste Mai gefeiert. Gerade stimmt eine Blaskapelle den Radetzky(?)-Marsch an (Wir wollen unser'n alten Kaiser Wilhelm wieder ham...). Da kommt man beim Treten gleich in den richtigen Takt.
Nun geht es erstmal bergauf, 8 km bis Friedrichsbrunn. An der Abzweigung eines Waldweges nehme ich den diskreten Hosenwechsel vor. Als ich mich gerade in den Unterhosen befinde, fährt der Linienbus und einige nachfolgende Autos vorbei...
Die Strecke bis Friedrichsbrunn ist gleichmäßig ansteigend. Mit dem Mountainbike ist das gut zu fahren, meinen anderen Familienmitstreitern hätte man das aber wohl kaum zumuten können. Von 200 m geht es hoch auf 500 m. An der Selke entlang wird es dann ja sicher wieder bergab gehen. Die Fahrt durch den Wald ist wunderschön, das helle Grün der Laubbäume kontrastiert mit den dunkleren Tönen der Nadelhölzer (diese Beobachtung macht man immer wieder). Über allem der strahlend blaue Himmel. Am Wegrand blühen die Veilchen und die Sternmiere. Auf sonnigen Partien der Straße treibt es einem aber schon ganz schön den Schweiß aus den Poren.
Butterblumen |
Durch den Ort geht es recht steil wieder bergab, da war ein Teil des vorherigen Schweißes umsonst. Die Häuser fliegen vorbei. Ein Haus Brockenblick macht neugierig. Erst am Ortsausgang hat man einen freien Blick über eine weite Wiesenlandschaft. Der Brocken ist aus einer ungewohnten Perspektive schemenhaft zu erkennen. Vor einem liegt ein Wiesental, aus voller Fahrt muß ich anhalten, um ein Foto von einem Feld von Sumpfdotterblumen zu machen. Voraus liegt der Ort Allrode, wohin es schnell hinuntergeht.
Sumpfdotterblumen |
Im Wald |
Laut Karte soll sich rechterhand eine tausendjährige Eiche befinden. Eifrig schaue ich in den Wald. An einem Parkplatz stehen ein paar Autos. Wieder schaue ich angestrengt nach rechts. Aber da sitzt eine Frau im Unterholz..., da wird das nichts mit der tausendjährigen Eiche, weil ich aus Anstand meinem Blick schnell eine andere Richtung geben muß. Nur der Mammutbaum, auch ein Naturdenkmal, der ist nicht zu übersehen.
Mammutbaum |
Stiege |
Selkequelle |
Mäander |
Güntersberge |
Ab Güntersberge zweigt die Selke von der Bundesstraße ab, begleitet von dem Wanderweg, der originellerweise "Selkeweg" heißt. Jetzt macht das Fahren erst richtig Spaß. Üppig blühender Schwarzdorn säumt den Weg.
Schwarzdorn |
Eine Wandergrupe von einigen älteren Herrschaften kommt entgegen und wird freundlich gegrüßt, man muß Wanderer und Fahrradfahrer miteinander versöhnen, wo man kann. Sonst ist es auf dieser Strecke menschenleer. Nur an dem idyllischen Waldsee "Elbingstalteich" haben sich auch ein paar Leute zum Picknick niedergelassen.
Elbingstalteich |
Straßberg |
Weiter geht es wieder auf der Straße durch ein liebliches Wiesental (wie es immer so schön heißt) über Silberhütte nach Alexisbad. Vor einem vergitterten Eingang eines Bergwerkstollens stauen sich die Menschen zum Fotografieren. Endlich habe ich freie Sicht, um auch ein Foto zu machen. Hier befand sich ein unter 70 Grad im Gestein stehender Silbererzgang, der durch diesen Stollen erschlossen wurde. Das aus dem Stollen sickernde Wasser hat die Felsen gelb übersintert. Was gäbe man darum, in diese Geheimnisse eindringen zu können!
Silberstollen |
Alexisbad |
Ein wenig weiter wieder ein Loch in einer Felswand. Das Abzeichen Naturdenkmal ist daneben angebracht. Nun habe ich leider keine Taschenlampe mit, gucke aber doch mal eben da rein. Aber was soll's, gleich 5 Meter weiter um die Ecke kommt der kleine Gang schon wieder aus dem Felsen heraus. Das ist denn doch wohl mehr was für unsere Kleinen.
Bis Mägdesprung bleibt man auf der Straße. Das Selketal ist hier sehr windungsreich. Oberhalb von Mägdesprung gibt es auch eine Mägdetrappe. Die Roßtrappe bei Thale kennt jeder, dort ist ein Roß gesprungen und hat den Eindruck eines Hufes hinterlassen (laut Sage). Was es mit Mägdesprung und -trappe für eine Bewandnis hat, kann ich nicht ergründen.
Nun schwenkt der Lauf der Selke nach Osten und man befindet sich wieder auf einem Fahrweg bis zu dem Restaurant Selkemühle. Hier ist es belebt, Autos, Radfahrer und Fußgänger bevölkern die Gegend. Auf den Wiesen verteilen sich die Erholungsuchenden, hier cremt Mutti dem Vati den Rücken ein, dort springen ein paar Kinder im Gras herum und machen sich die Kleider schmutzig. Opa und Oma sitzen auf mitgebrachten Campingstühlen unter einem Sonnenschirm (ebenfalls mitgebracht).
Auf halber Strecke bis zum Restaurant macht einen ein Hinweisschild "Zum Erbstollen" neugierig. Wenige Meter vom Wege findet man ein Gebäude mit einem kleinen Säulenportal und der Aufschrift "Herzog Alexis Erbstollen". Das ist der Eingang, der liegt sonderbarerweise nicht an einem Berghang, sondern mitten im Tal (wie der Sieberstollen). Hinter dem Eingang, der vergittert ist, geht es ins ungewisse. Kniehoch fließt Wasser heraus. Das Gittertor ist nur durch Gewindemuttern gesichert, die mit einem normalen Schraubenschlüssel jederzeit entfernt werden könnten. Demnach sind wohl keine Schätze zu erwarten. (Nach Nowak, Der Ostharz: "Der Herzog-Alexius-Erbstollen wurde 1830 begonnen, 1862 erfolgte der Durchschlag zur Grube Hoffnung Gottes bei Harzgerode. Dennoch ein Mißerfolg, die alten Lagerstätten waren bald erschöpft").
Am Restaurant Selkemühle verzehre ich im Stehen ein Käsebrot. Die Menschen, die vom Parkplatz in das Restaurant und wieder heraus eilen ziehen mich nicht gerade an. Nun ist hier ein Schlagbaum, da können die Autos erstmal nicht mehr weiter. Das Tal ist hier schon recht breit, alles Wiesen mit einzelnen Bäumen dazwischen, das sieht manchmal wie ein Park aus. Der Weg fährt sich nicht so besonders gut, holperig und mit großen Steinen versehen. Was hätte die Familie wieder gemault...
Die Hauptattraktion des Selketales steht noch aus: die "Burg Falkenstein". Spät erst bekommt man sie vom Tal aus zu Gesicht, sie ist ziemlich von Bäumen umstanden. Nun gibt es einen steilen Kletteraufstieg, der sich mit dem Fahrrad nicht empfiehlt. Man fährt besser bis zu der Straße vor, die von Meisdorf zum Parkplatz der Burg Falkenstein hinaufführt. Das bedeutet, noch einmal 200 Höhenmeter hinauf, der Autofahrer merkt das gar nicht. Der arme Radfahrer aber kommt schweißgebadet oben an. Die ganz Faulen können vom Parkplatz mit einem Pferdefuhrwerk fahren, aber das ist ja auch romantisch. Die Pferde sind ganz dicke Kaltblüter (Brauereipferde). Mit dem Fahrrad bin ich nun genauso schnell, denn es ist wieder weitgehend eben.
"Der hat es gut" höre ich im Vorbeifahren ein paar Fußgänger sagen, denen der 1.5 km Fußmarsch vom Parkplatz zur Burg schon zuviel wird. Die wissen natürlich nicht, wie ich hier eben heraufgekeucht bin. Die Burg erscheint erst unmittelbar vor einem, indem man aus dem Wald kommt. Wirklich ein altertümliches Gemäuer, auf dem 33 m hohen Bergfried sieht man die Köpfe, Fotoapparate und Kamcorder der Leute, die hinaufgestiegen sind, um herunter zu schauen.
Burg Falkenstein |
Eine Treppe hoch ist der Eingang für die Besichtigung. Man tritt in den Innenhof mit einem Ziehbrunnen. An einer Kasse sind 5.- DM zu entlöhnen, "zum Erhalt einer der wenigen mittelalterlichen Burgen". Irgendwie klappt das mit der Kasse bei mir mal wieder nicht, ich will ja auch gar nicht auf den Turm. Ein paar Räume sind museumsmäßig ausgestattet, da steht ein Waschbrett oder eine alte Wetterfahne herum. Es läßt sich ein Blick in die Burgkapelle werfen. Das ist der älteste noch erhaltene Raum der Burg vom 13. Jahrhundert.
Im Hof sitzen die Leute auf Bänken und warten auf etwas, wahrscheinlich auf eine Führung. "Jetzt ein kühles gezapftes Bier!" sagt einer mehrmals und guckt thriumphierend in die Runde. Sowas hat man ja noch nie gehört. Ein anderer hat ein kleines Kind auf dem Arm und redet selber wie ein Baby (auf Sächsisch): " Ah ja, da guggemall, do steigmr gleich nuff, uijuijui!" und zeigt hinauf, aber immer auf den falschen der beiden Türme. Dem Kind ist das sowieso egal.
Meine Selketour ist zu Ende, der Rest ist die Rückfahrt zum Auto. Die Selke führt nun nicht mehr lange ein Eigenleben, bald wird sie von der Bode vereinnahmt, dann geht es in die Saale und schließlich in die Elbe. Beim Studium der Karte, um so etwas herauszubekommen, fällt mir ein neues Flußtal ins Auge: das der Wipper. Es erschließt den südöstlichen Teil des Harzes (Unterharz), wieder ein Ziel für später.
In Meisdorf hat man einen schönen Blick nach Osten auf die Ausläufer des Harzes. Der Gebirgscharakter fehlt hier. Sonderbarerweise ist das Selketal ein Wiesental, auch ein schroffer Durchbruch in die Ebene am Harzrand ist nicht vorhanden, während ein paar Kilometer weiter die Bode bei Thale so ein wildes Szenario durchrauscht.
Meisdorf |
Schloß in Ballenstedt |
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