Im zweiten Halbjahr 94 hat die Niedersächsische Landesregierung unter Ministerpräsident Gerhard Schröder drastische Sparmaßnahmen beschlossen, die in starkem Maße zu Lasten von sozialen Bereichen, Fachhochschulen und Universitäten gehen.
Bei uns im Rechenzentrum sieht das so aus, dass die aus nicht besetzten Stellen zur Verfügung stehenden Mittel gesperrt werden, somit die HiWis (studentische Hilfskräfte) nicht mehr bezahlt werden können. Dabei weiß jeder, was ein Student - neugierig, wissbegierig, kommunikativ und vielleicht verspielt - gerade auf dem Gebiet EDV so hereinholt. Wir müde abwinkenden alten abgeschlafften Mitarbeiter sind gar nichts dagegen.
Aber bei den letztgenannten ist nichts zu holen, die sind unkündbar, verbeamtet, genießen den Schutz der "Besitzstandswahrung", schlagen sich gerade mit der Midlife-Crisis herum oder haben aufgrund eines ständigen Leidens Anrecht auf alle 2 Jahre Kuraufenthalt, wenn nicht gerade ein Bildungsurlaub ins Haus steht.
Immerhin bildet sich ein Hauch von Solidarität mit den Studenten, indem vorgeschlagen wird, deren Weiterbeschäftigug aus eigener Tasche zu bezahlen. Natürlich ein aberwitziger Vorschlag - nur als Provokation zu verstehen.
Das geht dann auch aus wie das Hornberger Schießen, der Leiter des RZ (feierte kürzlich sein 40-jähriges Dienstjubiläum) versteht es wieder einmal, die konzertierten Kräfte mit formaljuristischen Argumenten und modellhaften Vergleichen in diverse Richtungen ohne Wirkung zu zerlegen.
Es bleibt als Resultat: Man kann man ja doch nichts Machen !
Für den 22.11. hat nun der AStA, die Fachschaften usw. im Verbund mit den anderen Niedersächsischen Bildungseinrichtungen zu einer Demo in Hannover aufgerufen. Hinter dem Aufruf steht: Joh!!! - was immer das heißen soll. Interessant wird die Sache dadurch, dass auch eine Anfahrt mit dem Fahrrad organisiert werden soll. Die Fahrtroute soll über B1 und B65 führen - also wieder Strecken, die man freiwillig unter "normalen" Bedingungen nicht wählen würde.
Kollege Rainer B. ist natürlich sogleich Feuer und Flamme, so kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: eine ordentliche Fahrradtour und der Solidaritätsbeweis mit den Studenten. Nur dienstfrei bekommt man für diesen Tag nicht, aber ich habe noch meinen "Waschtag" (Ausgleich für Arbeitszeitverkürzung) vom zweiten Halbjahr frei. Als dann der Wetterbericht für diesen Dienstag nur Gutes verheißt, bin ich kurzfristig auch dabei.
Ich vereinbare mit Rainer, dass er mich beim Start der Radlergruppe gegen 7.30 Uhr auf dem Mensaparkplatz zu Hause anruft, damit ich mich westlich von Braunschweig (Raffteich) der Gruppe anschließen kann.
Meine Brote sind geschmiert, die Kette am Fahrrad auch, der Luftdruck geprüft, Rennriemen an den Pedalen montiert - da ruft Rainer kurz nach halb acht durch, es geht los. So an die 100 Radler haben sich eingefunden. Nach meinen Erfahrungen vom Vorjahr mit der Fahrt nach Magdeburg (2000 Teilnehmer) gehe ich mal von einem gedrosselten Tempo der Truppe aus und mache mich ohne Eile auf den Weg.
Seltenes Glück widerfährt mir in Broitzem am Fußgänger-Bahnübergang: ich kann ausnahmsweise direkt durchfahren. Nach Durchradeln der Schrebergärten vor dem Raffteich ("Schöne Gegend" hieß das früher mal bei meinen Kindern) kommt die B1 schon in Sicht. Kaum biege ich um die letzte Ecke, da rollt es auch schon vorüber: vorn und hinten Polizei, dazwischen die dahinbolzenden Radler. "Hey, fahr mit!" ruft mir einer zu. "Klaro" muss man im Jargon bleibend dann zurückrufen.
Dann sehe ich Rainer am Straßenrand und reihe mich in das Peleton (oder wie schreibt man das?) ein. Sogleich fällt auf, dass das Tempo weit über 20 km/h liegt. Gut dass ich das nicht vorher gewusst habe, sonst wäre die Anfahrt wohl etwas hastiger verlaufen.
Nun kann man sich erstmal umschauen. Also außer Kollege Rainer kenne ich nicht einen von den Mitfahrern. Komisch!
An Rädern ist das Übliche
aufgefahren:
In Densdorf müssen alle Mann rechts ranfahren und die Polizei lässt die gequälten Autofahrer vorbei. Ein Mitradler: "Wie die alle bescheuert gucken!"
Es geht weiter über Vechelde, wo man auf die B65 einbiegt, die hier ihren östlichen Ursprung hat. Ich kenne diese Straße gut im Bereich Schaumburg-Lippe, wo ich sie in den 50er Jahren auf meinem täglichen Schulweg nach Bückeburg benutzte, sowie im Bereich Minden - Lübbecke, wo sie wegen der gefährlichen Kurven berühmt berüchtigt ist. Mit der Fahrschule haben wir sie deswegen oft befahren (in den 60ern). Im Westen endet die B65 hinter Bad Bentheim an der holländischen Grenze.
Auf der B65 bis Peine ist nur wenig Verkehr, die Autos können problemlos vorbei. Das voranfahrende Polizeiauto fährt soweit links, dass der Gegenverkehr notgedrungen das Tempo reduzieren muss. Hinter Dungelbeck erreichen wir Peine, laut klingelnd und auch schon mal mit einer Trillerpfeife sich bemerkbar machend wird Peine, sowie andere Ortschaften auch, durchradelt. Whascheinlich kriegen die meisten Anwohner und Passanten gar nicht mit, um was es hier geht - vielleicht denken sie, die Lehrlingsabteilung von VW macht einen Betriebsausflug. Einmal rufen uns Arbeiter hinterher ''Geht lieber arbeiten!!'', obwohl selbst schwer auf die Schaufel gestützt und bei der Drainage eines Feuchtbiotops vielleicht auch nicht ganz sinnvoll in das ökologische Konzept eingebunden.
In Peine fahren wir grundsätzlich bei Rot diagonal über stark befahrene Kreuzungen, mit der Polizei vorneweg macht das noch mehr Spaß als sonst. Weiter geht es ganz komfortabel auf einem Stück vierspuriger Schnellstraßentrasse entlang. Dann wird auf einem Parkplatz gerastet. Inzwischen scheint die Sonne angenehm, keine Wolke am Himmel, Windstille. So muss es sein. Wir packen unsere geschmierten Brote aus (Teewurst, Salami und Käse). Da nähert sich uns ein Student, der muss so an die 1.90 m Körpergröße aufweisen, nur mit zurückgelegtem Kopf kann man ihm ins Gesicht schauen. ''Wo gehört Ihr denn zu, seid Ihr sowas wie Altstudenten oder was?'' spricht er uns an. Ich bin so baff, dass mir gar keine schlagfertige Antwort einfällt. Man sieht es uns also an, dass wir den Altersdurchschnitt der Mitfahrer überschreiten, unerhört sowas, hätte ich gar nicht gedacht. In der Mensa merkt doch auch keiner was - oder doch??
Alsdann: ''Wir sind Mitarbeiter des Rechenzentrums, bei uns wurden auch Studenten entlassen'' rücken wir heraus. ''Das finde ich ja gut, dass Ihr hier mitmacht'' bekommen wir zu hören.
Als es weitergeht, fahren wir beiden ''Altstudenten'' möglichst weit vorne und feixen, wenn von hinten ''Langsamer!!!'' gerufen wird.
Hinter Sehnde haben wir bald den Stadtrand von Hannover erreicht. Die Polizeieskorte wird ausgetauscht. ''Die wissen auch, was sie heute getan haben, wenn es Abend ist...'' denkt man so bei sich, wenn man die Polizisten hinter ihrem Steuer mehr liegend als sitzend betrachtet. Damit das nicht zu langweilig wird, spielen die Sicherheitskräfte ständig mit ihren Funkgeräten und tauschen wichtige Nachrichten aus.
Nun fährt ein Polizist auf einem schweren Motorrad voran. Schon im Stadtbereich von Hannover müssen wir doch noch mal alle auf den Bürgersteig, als ein Krankenwagen mit Blaulicht entgegen kommt. Da gibt es kein Pardon.
Schließlich gönnt man uns zum Abschluss die alleinige Benutzung des Messe-Schnellwegs. Über die Marienstraße fahren wir in die Innenstadt ein, am Kröpcke endet dieser Teil der Unternehmung erst einmal. Die Durchschnittsgeschwindigkeit von Braunschweig bis Hannover beträgt 20.6 km/h, das ist für eine Gruppenfahrt ganz enorm.
Die Räder lassen wir vor der Markthalle stehen, Rainer räumt zur Sicherheit sein Satteltäschchen aus, damit ihm die Reparaturwerkzeuge nicht gestohlen werden. Wir eilen in Richtung Hauptbahnhof. Vor der Marktkirche findet gerade wieder eine Hochzeit statt. Als ich im Sommer mit Stefanie in Hannover war, war das genauso, damals hatte man einen Rolls Royce Silvercloud mit livriertem Chauffeur aufgefahren. Heute tritt das Brautpaar vor ein Brett, wo wohl Nägel eingeschlagen werden sollen. Die Braut ist prall und proper, der angehende Gatte kontrastierend dazu eher mickerig. Die Kamcorder surren. ''Da kriegst Du wohl pralle Augen'' sagt Rainer zu mir, er als eingefleischter Junggeselle. Ich nuschle mir was in den Bart.
Am Hauptbahnhof brodelt es schon, Menschen über Menschen, viele Transparente künden von der Empörung über die Sparmaßnahmen der Landesregierung. ''Schröder nach Bonn!'' - als ob der da nicht schon säße - ''Keiner macht uns blöder, als Schröder'', dieser Reim wiederholt sich in vielen Variationen. Oder: ''Streichen bei den Reichen'' - da kommt man geradezu ins Grübeln: Wer sind denn die, die streichen? Na ja doch, die Reichen. Aber die streichen nicht bei den Reichen! Also dichten, das können die Studenten ja.
Als sich der Zug in geordnetem Aufmarsch in Bewegung setzt, Polizei wieder vorne weg, dann ein Liegeradfahrer in geschnürten Lederhosen und mit einem aufmontierten Transparent, stellen wir uns auf eine Straßenseite, um unsere Kollegen, die mit der Bahn angereist sind, abzupassen. Lange brauchen wir nicht zu warten, da winkt man uns schon zu. Mit uns sind wir nun so an die acht Alt- und zwei Jung-Studenten als Vertretung des Rechenzentrums.
Lärmend mit Trillerpfeifen und Tröten, Rasseln und Trompeten zieht man am Anzeiger-Hochhaus vorbei Richtung Universität. Die Stimmung ist sehr heiter, alle strahlen und lachen, per Laola-Welle wird der Überschwang von vorn nach hinten weitergegeben. Flugblätter und ''Bildungsgeld'' werden verteilt. Ein Einpeitscher mit einem Megaphon eilt am Demonstrationszug entlang, in die Kniee gehend verkündet er Parolen, lautes Gejohle belohnt ihn. Da strahlt er auch.
Plötzlich umarmt mich einer von hinten, das ist Bernd K. vom Personalrat. Die Mitglieder des Personalrates haben die Veranstaltung zu ihrer Dienstags sowieso stattfindenden Sitzung erklärt und sind vollzählig angetreten. Sie bekommen dafür dienstfrei.
Vor dem Universitätsgebäude stoppt der Zug eine Weile. Die Büroangestellten in den umliegenden Geschäftshäusern liegen in den Fenstern und genießen die Sonne und natürlich das Spektakel auf den Straßen. Es wird viel gewunken. Dann geht es wieder weiter, der Verkehr ringsum ist wohl inzwischen gründlich zum Erliegen gekommen. Nun gibt es wieder eine Überraschung, man hat dem Zug von 10000 Leuten (2000 davon aus Braunschweig) sogar die Georgstraße (Konsummeile) überlassen. Wir marschieren auf den Straßenbahnschienen.
Vor Karstadt wieder ein Stop. Da Karstadt anscheinend ständig umbaut, ist hier ein großes Baugerüst, oben stehen eine Anzahl Bauarbeiter und winken herunter. Das schaukelt sich auf, nach einigen Laola-Wellen hat sich die Anzahl der Bauarbeiter verdoppelt. Ein älterer Kollege nutzt die Gunst der Stunde, er verfällt in Siegerpose wie weiland unsere östlichen Vorbilder auf Großkundgebungen: beide Arme hochgereckt. Die Menge zu seinen Füßen dankt es ihm mit tosendem Gejubel. Hoffentlich macht das nicht süchtig (gilt für beide Seiten).
Ein wenig weiter auf dem Theaterplatz versammelt man sich dann, wie es weitergehen soll, ist erstmal unklar. Per Megaphon wird wieder Meinungsäußerung praktiziert, aber es ist kein Wort zu verstehen. Nachdem wir so 20 Minuten untätig herumgestanden haben, kann ich Rainer überzeugen, dass wir auch an die Rückfahrt denken sollten. Wir wollen ja mit dem Rad wieder zurückfahren, der Transport mit den Sonderzügen erscheint etwas chaotisch zu werden, außerdem fahren die erst nach 19 Uhr zurück. Jetzt ist es kurz vor 15 Uhr und die Sonne scheint noch.
Dann aber geht es zügig zur Sache, über Marienstraße und Hans Böckler Allee verlassen wir - diesmal brav auf dem Radweg und vor roten Ampeln in Ehrfurcht verharrend - die Innenstadt von Hannover. Durch die Eilenriede führt eine angenehme Radstrecke, man gelangt in den Hermann Löns Park mit sumpfigem Wiesengeläde. Nur der Ausstieg nach Anderten gelingt uns nur schwer. Zwischen Gleisanlagen und Schrebergärten irren wir eine ganze Weile umher, bis wir nach mehrmaligem Fragen den richtigen Weg finden. In Anderten geht es uns ähnlich, erstmal bolzgrad in die falsche Richtung, dann umdrehen und schließlich doch an den Kalksteinbrüchen vorbei nach Lehrte. Es ist schon dämmerig und es nebelt sich immer mehr ein.
Von Lehrte aus fahren wir - zur Linken immer die Eisenbahnstrecke nach Braunschweig - schnurgerade auf den Hämeler Wald zu. Unser Albtraum: in der Dunkelheit in den Wald zu geraten und dort die Orientierung zu verlieren. So kommt es dann auch. Wir verpassen den Absprung nach Süden und finden uns im Stockdunklen vis a vis vor dem Hämeler Wald wieder. Wir halten uns am Waldrand entlang, der Weg ist matschig und voller Pfützen, manche wie Seenplatten. Bei jeder Wegkreuzung suchen wir den vermeintlich südlich führenden Weg oder was sich dafür hält aus, dann aber geraten wir in unwegsames Wiesengelände und es geht nicht mehr weiter. Also zurück, den nächsten Weg ausprobieren. Tatsächlich wird der Weg allmählich besser, dann kommen wir aus dem Wald heraus, wenig später stehen wir an einer Industrieanlage.
In dem gleißenden Licht der Parkplatzbeleuchtung können wir unsere Karte lesen: wir befinden uns am Krafwerk Mehrum, bis zur B65 ist es nicht mehr weit. Mein Dynamo macht Schwierigkeiten, ihm ist die Matschfahrt nicht bekommen. Mit etwas Herumbiegen gelingt es, ihn wieder halbwegs funktionstüchtig zu machen (die gedachte Längsachse durch den Dynamo muss durch die Nabenmitte laufen, damit die Laufrolle genau tangential zur Reifenauflagefläche verläuft - zu sowas hat man mit klammen Fingern gerade die richtige Lust).
Wieder auf der B65 hat das mit den Orientierungsschwierigkeiten ein Ende. Nun gilt es, die Strecke vollends durchzuziehen, zum Glück kann man sich zumeist auf Radwegen voranbewegen. In dem Nebel beschlägt mir ständig die Brille, Rainer fährt dankenswerter Weise voran. In Peine versucht er vergeblich zu telefonieren. Stattdessen müssen wir die verklemmte Telefonkarte mit der Kneifzange des Schweizer Taschenmessers aus dem Automat ziehen. Nun ereignet sich nichts Spektakuläres mehr, wir kommen gut voran mit einem leichten Rückenwind.
Gegen 20 Uhr erreichen wir endlich den Raffteich, wo ich mich von Rainer verabschiede. Mein Dynamo hat endgültig den Geist aufgegeben und ich fahre mit dem restlichen Akku-Gefunzel etwas unsicher durch die ''Schöne Gegend''. In Broitzem an der Bahnschranke erwischt es mich nun nochmal böse: sechs Züge muss ich abwarten, das dauert so 15 Minuten, bis der Schrankenwärter ein Einsehen hat. Dann sind es nur noch 3 km bis nach Hause. 146 km habe ich auf dem Tacho, da fühlt man sich ganz gut, als Altstudent...!
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