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Salzdahlum - Sanssouci, Juni 90

Die Achse Salzdahlum - Sanssouci hatte im frühen 18. Jahrhundert bereits eine historische Bedeutung: Kronprinz Friedrich, später der "Alte Fritz", durfte auf Schloß Salzdahlum und auf Geheiß seines Vaters, des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I, die Elisabeth Christine von Braunschweig - Bevern ehelichen. Daß Schloß Sanssouci in Potsdam das Lieblingsdomizil des späteren Friedrich des Großen war, ist jedem allgemein Gebildeten (sogar mir) bekannt. Nun hat man sich zu seiner Zeit sicher mit Pferd und Wagen auf den Weg gemacht, heute bewältigt man den Weg zwischen diesen beiden Meilensteinen der Weltgeschichte ohne Einsatz von Motorkraft am besten mit dem Fahrrad.

Als Anlaß bietet sich eine dienstliche Veranstaltung in der Woche nach Pfingsten an, deren Stattfinden ein Jahr zuvor ahnungsvoll nach Berlin vergeben wurde. Also nehme ich am 5./6. Juni einfach Urlaub und sattele abends am Pfingstmontag das Fahrrad, um am Dienstag zeitig um 6 Uhr aufzubrechen. Es war schon lange ein Wunschtraum, mit dem meistens vorherrschenden Westwind im Rücken einfach nach Osten ins Ungewisse radeln zu können, endlich wird das nun Wirklichkeit. Und ich habe Glück, der Wind bläst kräftig aus der gewünschten Richtung, da kann es mit abgestellten Ohren auf die Reise gehen. Wer noch nichts von Salzdahlum gehört hat: es liegt genau zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel, von uns aus in gut 20 Min. erreichbar. Das Schloß existiert schon lange nicht mehr. Daher braucht kein Aufenthalt eingelegt zu werden, an der klobigen Kirche rauscht man vorbei. Damit ist der erste Meilenstein schon abgehakt.

Es gilt nun zunächst, die Strecke bis Schöningen zügig abzuspulen, denn dann erst beginnt wieder das Abenteuer. So gerate ich ob meiner Ungeduld trotz des mühelosen Fahrens doch ordentlich ins Schwitzen. Ich fahre durch die Eulenspiegelstadt Schöppenstedt am Elm, dann auf der zu dieser frühen Stunde noch wenig befahrenen Bundesstraße 82 schließlich bis Schöningen. Gerade zwei Stunden bin ich unterwegs, da biege ich auf die Zufahrt zum Grenzübergang Hötensleben ein. Wieder die Erinnerung an den Tag im November, als der erste Gang in diesen Ort uns so bewegt hat.

Meinen Paß will keiner sehen, im Vorbeifahren ruft mir ein Zollbeamter nach: "Auf welchen Campingplatz soll's denn gehen?" Ich halte an und erkläre mein Vorhaben. Ich will ja heute bis Belzig im Hohen Fläming fahren und frage skeptisch, ob man da wohl eine Übernachtungsmöglichkeit finden würde. Natürlich kann man mir da keinen Tip geben, doch mit guten Wünschen werde ich auf die Reise geschickt. Ich folge der Beschilderung und hoppele über rauhes Pflaster durch den Ort, der heute auf mich einen ärmlicheren Eindruck ausübt als damals im November. Auch an der Kirche komme ich vorbei, da hat man um den Turm ein Baugerüst errichtet, es tut sich also was.


Oschersleben

Mohn
Für weitere Sentimentalitäten lasse ich mir keine Zeit und begebe mich auf die Strecke Richtung Ausleben. Der blühende Mohn am Straßenrand begleitet mich hier wie auf der ganzen weiteren Strecke. Noch ist die Landschaft nicht so reizvoll. Blickt man zurück, sieht man noch Schöningen und den Elm. Auch die Kraftwerke Buschhaus, Offleben und Harpke "grüßen" mit ihren Rauchfahnen. Bald verschwinden sie hinter dem Horizont, dann wird die Kreisstadt Oschersleben, Partnerstadt von Schöningen erreicht. Auf dem Platz vor der eindrucksvollen doppeltürmigen Kirche mache ich die erste wohlverdiente Rast. An einem Kiosk entdecke ich eine Wanderkarte vom mittleren Thüringer Wald, die sogleich "vereinnahmt" wird. Später wird mir Lars aus Magdeburg einen kompletten Satz Karten vom Thüringer Wald zuschicken, aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Landschloß mit LPG
Es geht weiter, die Sonne entwickelt etwas Kraft. Da wird's einem in der Hose warm, es ist Zeit für die kurze Radlerhose. Ich folge einem Bachlauf, dieser Bach heißt schon wieder "Bode", man muß mal herausfinden, wo dieser häufige Name für Flußläufe seinen Ursprung hat (ein Blick auf die Karte ergibt: die Bode bei Oschersleben ist dieselbe, die bekanntermassen aus dem Harz kommt und in Nienburg in die Saale mündet. Offensichtlich herrschten in 1990 noch einige geografische Lücken...). Jetzt hat die Straße so ihre Tücken, oft stellt einen das fast unbefahrbare Kopfsteinpflaster vor Probleme. Meistens gibt es zwar so eine Art "Sommerweg", das ist ein unbefestigter Seitenstreifen, aber auch darauf läßt es sich wegen der Vertiefungen, Pfützen oder weichen Sandpassagen nur schwierig fahren. In der Mitte der Fahrbahn ist mitunter ein Betonstreifen, auf dem es angenehmer dahin geht. Doch als Radfahrer muß man ständig in aller Bescheidenheit das Hasenpanier ergreifen, wenn ein Trabbi geräuschvoll naht.

Bei Egeln überrascht mich ein kleines Landschloß, eine LPG ist dort inzwischen entstanden. Ich kurve durch den Schloßhof und begnüge mich mich mit dem Anstaunen der alten Gemäuer. Auf weiterhin schwieriger Strecke erreiche ich über die Orte Borne und Biere schon vor der Mittagszeit die Stadt Schönebeck an der Elbe.


Schönebeck
Man befindet sich nur wenige Kilometer südlich von Magdeburg, von Anhöhen kann man auch die Türme der Partnerstadt Braunschweigs erkennen. Das Passieren der Elbe ist wieder ein Markstein auf dieser Tour, nur das Wasser der Elbe sieht rabenschwarz aus. Schaumfetzen lassen die gehaltvolle Fracht dieses geplagten Stromes erahnen.

Über die Elbe
Auf der weiteren Route bieten sich erstmal keine Nebenstrecken an, so genieße ich endlich wieder ein annehmbares Pflaster auf der B 184. In Leitzkau gibt es wieder eine Sehenswürdigkeit: eine Burg mit ausgedehnten Hofanlagen, zum Großteil in schlechtem Zustand, aber wie immer "urig".

Leitzkau
Wenig später habe ich das nächste "Erlebnis" an einem Bahnübergang. Die Schranken sind geschlossen, eine lange Autoschlange verharrt in geduldigem Warten. Mit dem Fahrrad stellt man sich natürlich nicht hinten an, sondern brettert auf der Gegenfahrbahn an der Blech- Plaste- oder (Volksmund) "Pappe"-Ansammlung vorbei. Schließlich hat man alle Trabis hinter sich und genießt die unverstellte Aussicht auf die Bahnschranke. Während ich mich der darob willkommenen Verschnaufpause erfreue, ist eine Stimme zu vernehmen: "Hallo Kumpel, mach mal rüber!" Das ist der bärtige Bahnwärter auf der anderen Seite. Doch da kommt schon der Zug und ich werde zurückgewunken. Während anschließend die Schranken hochgekurbelt werden, muß ich doch noch auf einen Schnack bei dem interessierten Reichsbahnwerktätigen vorstellig werden. Ich stehe zwar verkehrsbehindernd quer auf der Fahrbahn, aber noch sind alle damit beschäftigt, ihre Motoren in Gang zu bringen. So entwickelt sich in Sekundenschnelle folgendes Gespräch: "wohin? nach Belzig - da biste bald - kann man da übernachten? - da is ne Jujendherberje - na dann will ich mal - jute Fohrt!"

In sausender Fahrt geht es an der auf der Gegenseite auch wohl auf einen Kilometer angewachsenen Autoschlange entlang, hinter einem die aufröhrenden Motoren der Verfolger. An einer kleinen Nebeneinfahrt lasse ich die Stinkwalze erstmal passieren, ein Taschentuch vor der Nase. Dann sinniere ich über den nicht vorhandenen Jugendherbergsausweis nach und gelobe Besserung. Die nächste Stadt heißt Zerbst, am Ortseingang ein Schild: Pension ..., Übernachtung mit Frühstück. Na also! Bloß jetzt so gegen 16 Uhr ist es noch zu früh, demnach kann man ja doch wohl darauf hoffen, daß eine Übernachtungsmöglichkeit auch auf dem weiteren Weg zu finden sein wird. In Zerbst schaue ich mich erstmal um. Man fährt durch die Reste eines Stadttores, Stadtmauer mit Wehrgang sind erkennbar. Wie immer orientiere ich mich an den Kirchtürmen, um in das Zentrum zu gelangen. An einem zentralen Platz gilt es sich zu entscheiden, links ist die Kirche, rechts tummeln sich die Menschen in der Fußgängerzone. Ich halte mich links und passiere den Rathausplatz. Eine Rolandfigur hält Wache. Dann gibt es ein Unikum zu bestaunen. Die Kirche ist verdeckt von einer im üblichen Stil erbauten Wohnanlage. Kurvt man um diese herum, stellt man fest, daß die Kirche eine Ruine ist, nur die Türme und Grundmauern stehen, Birken und anderes Grün sprießen aus den noch erhaltenen Mauern. Wie von einem Karton ist dieser Kirchenrest von Wohnbauten im Betonplattenstil umgeben, die Bewohner derselben haben statt Gärten oder Grünanlagen von ihren Fenstern und Balkonen den reizvollen Ausblick auf die verfallende Kirche. Nur eine kleine Baulücke ist noch vorhanden, und dort werden gerade in Massen große Betonplatten abtransportiert. Ich kenne die örtlichen Gegebenheiten natürlich nicht, aber ich schließe daraus, daß vielleicht diese kleine Baulücke ein Umdenken dokumentiert und diesem baulichen Unsinn ein Ende gesetzt wurde. Da müßte man noch mal hinfahren und näheres in Erfahrung bringen. (Da ich Reiseführer immer erst hinterher lese, ist anzumerken, daß Zerbst über eine fast vollständig erhaltene Stadtmauer von 4 km Länge sowie drei erhaltene Stadttore verfügt).

Durch ein weiteres Tor der mittelalterlichen Stadtbefestigung verlasse ich die Stadt Richtung Dobritz. Es geht nun auf den Hohen Fläming zu, meinem Tagesziel. Der Hohe Fläming ist eine von der Eiszeit geschaffene hügelige Moränenlandschaft, dessen höchste Erhebung, der Hagelberg, auf 201 Meter ansteigt. Nun hoffe ich auf ein wenig touristische Infrastruktur, immer noch in Erwartung eines geeigneten Quartiers für die Nacht. Für alle Fälle habe ich ja einen Schlafsack und Isomatte im Gepäck. So langsam fange ich also damit an, mir die Wälder anzusehen, ob da unauffällige Dickichte mit einladenden Plätzen für eine Übernachtung in Frage kommen könnten.

Ein gerade startendes Flugzeug steigt in diesem Moment vor mir auf, wenig später passiere ich ein ausgedehntes militärisches Gelände, hier sind die Russen einquartiert. Diese haben außerdem offensichtlich etwas vor, überall sind große Zeltlager aufgebaut, farbenfrohe Plakatwände deuten auf eine bevorstehende Feierlichkeit hin. Eine Gruppe von gelbbraun uniformierten Soldaten winkt und ruft mir zu. Was würde passieren, wenn man sich da einladen ließe? Stur, wie ich bin, mache ich, daß ich weiterkomme, irgendwann liegt rechterhand ein ganzes Lager von Soldaten malerisch im Gras, wie die Ameisen. Neidisch bin ich nur auf die Zeltstädte, da wäre doch ein Dach über dem Kopf. Leider bin ich nicht so spontan, daß ich mein Übernachtungsproblem auf diese Weise löse, vielleicht wäre man aber auch wodkageschädigt nur mit Mühe wieder in das Leben zurückgekehrt, wenn überhaupt.

Lieber setze ich nun doch meine Hoffnungen auf den Ort Wiesenburg, schon mitten im Hohen Fläming. Am Ortseingang sieht man schon von weitem ein großes Schild, sicher ein Hinweis auf ein Hotel oder Restauration? Doch was ist zu lesen:

Wir sind auf Draht!
Die Metallurgen der Drahtzieherei
Wiesenburg sind nicht zu schlagen!

Das ist ja doll! Vom Drahtziehen hat man doch wohl inzwischen genug, sollt man meinen. Es bleibt nun nichts anderes übrig, als die Verpflegungsreserven aufzufüllen. In einem Laden kann ich gut einkaufen: Plätzchen, Schokolade und sogar Erdnüsse, damit müßte man die Nacht - wie auch immer - überstehen. Noch 20 km bis Belzig. Wegen des Rückenwindes habe ich schon 170 km hinter mich gebracht, aber so langsam könnte man für heute auch einen Abschluß gebrauchen.

So fahre ich durch die immerhin recht reizvolle Landschaft mechanisch vor mich hin. Es geht wieder durch Wald und entlang einer schönen Allee. Rechts voraus, mitten in der Botanik wieder ein großes Schild am Straßenrand. Welche Drahtzieher mögen nun wieder ihre Netze auslegen. Und dann steht zu lesen:

Schulungszentrum Schmerwitz
erwartet seine Gäste.
Übernachtung, drei Gaststätten
9 - 22 Uhr geöffnet.

Das klingt ja himmlisch, das muß erkundet werden: links ab, nach 5 Minuten stehe ich vor einem Schlagbaum. Bei der Wache dieser Institution frage ich ganz vorsichtig nach, ob man hier womöglich übernachten könnte. "Ja sicher, die Rezeption ist im Flur". Dort langweilt sich eine Dame und ist ganz erfreut, daß sie etwas zu tun bekommt. Schon fallen alle Sorgen von mir ab, man hat geradezu auf einen wie mich gewartet, Radfahrer sind hier schon öfter aufgenommen worden. Mit meinen Finanzen herrscht allerdings ein gelindes Durcheinander, ich habe noch 55 Ostmark, 11 Mark West und zwei Hundertmarkscheine. Erstaunlicherweise nimmt man die 50 Mark Ost für ein Zimmer mit Dusche entgegen.

Ich bin der einzige Gast, deswegen muß die Frau aus der Rezeption mitkommen, um mir einen Wohntrakt (Haus 6) aufzuschließen. Nun ist zu erfahren, daß es sich hier um ein ehemaliges Schulungszentrum für Kampftruppen handelt. Jetzt nennt man sich FSB = Fläming Service Betriebsgesellschaft. Offensichtlich gehört das Ganze noch der PDS. Ab 18 Uhr könnte ich auch in die Sauna. Aber ich will lieber zum Essen gehen, geschwitzt habe ich heute schon genug.

So suche ich nach der wohltuenden Dusche die "Flämingklause" auf und esse zu Abend. Meine Zeche beträgt 10 Mark Fünfzig, das begleiche ich nun zur Freude der Bedienung in West. Dabei kommt noch ein ganz interessantes Gespräch über die Umgebung und Situation der Menschen hier zustande. Man bangt um seinen Arbeitsplatz und weiß nicht, was die bevorstehende Währungsunion für Folgen haben wird. Ich erfahre auch, daß man privat bestens übernachten kann, man muß nur herumfragen. "Wir hängen nicht gern Schilder vor die Tür", das mag noch von der Vergangenheit herrühren.

Anschließend mache ich noch einen Spaziergang, ich habe bislang noch gar nicht bemerkt, daß sich hier ein Schloß befindet, es hat einmal einem Graf von Lindau gehört. Darum herum sind ein paar Häuser: der Ort Schmerwitz. Eine Frau treibt mit einem Besen ihre Hühner zusammen: "Heinrich, los Mann!", damit meint sie den Hahn. Schließlich beziehe ich mein Quartier, in einem Fernsehraum kann ich ungestört den Abend genießen. Zufällig wird in "Monitor" eine Sendung über Stasi-Pensionen und PDS/SED-Guthaben gebracht. Selbst dem Berliner regierenden Bürgermeister stehen (symbolisch, da mangels Masse) die Haare zu Berge.

Schmerwitz - Berlin

Nach einer gut verbrachten Nacht weckt mich am Morgen der Kuckuck. Schnell wird zusammengepackt und der Zimmerschlüssel zur Rezeption gebracht. Jetzt so um 7 Uhr herrscht "Rush-Hour", die Bediensteten des Schulungszentrums strömen zur Arbeit: Küchenpersonal, Reinigungstrupps, Büroangestellte... An mich als einzigem Gast hat man auch schon gedacht: "das Frühstück ist ihnen oben" weist man mich auf die richtige Sprur. Es kostet 5 Ostmark, so bin ich mit meinem Kleingeld gerade ausgekommen. Eine Apfelsine und einen Apfel stecke ich für die Fahrt ein. Dann geht es bei herrlichem Wetter los, erst längs verwunschener Alleen, dann durch ausgedehnte Kiefernwälder mitten durch den Hohen Fläming. Die Kiefernrinden sind auf großen Flächen zur Harzgewinnung V-förmig abgeschabt, unten hängen Töpfchen zum Auffangen der Tränen.

Bald erreiche ich einen Ort mit nur wenigen Häusern mitten im Wald, der hat den schönen Namen "Verlorenwasser". Nach einer langen Fahrt durch den Wald, bei der ich schon am richtigen Weg zu zweifeln beginne, stoße ich in Dippmannsdorf auf die B 102. Bis Golzow folge ich dieser, dann geht es rechts ab nach Lehnin. In dieser Gegend wird ein ausgedehnter Obstanbau betrieben, neben riesigen Kirsch- und Apfelplantagen gibt es Erdbeerfelder, bei denen man nicht von einem Ende zum anderen sehen kann. Da die Erdbeeren jetzt reif sind, herrscht ein buntes Treiben auf den Feldern.

Dorfkirche
Nach Lehnin nähert man sich irgendwie fühlbar bereits Berlin. Zuerst überquert man die Autobahn nach Magdeburg, dann den Berliner Ring. Schließlich muß ich ein paar km auf der B1 zurücklegen. Der Radweg ist kaum zumutbar, auf der Fahrbahn wird man nur ungern gelitten. Ein Trabbi hupt unwirsch.

Bei dem lebhaften Verkehr bin ich froh, vor Geltow wieder auf eine Nebenstraße abbiegen zu können. Ein schöner See läd zu einer Rast ein, ich finde auch zwei Bänke, eine fürs Fahrrad, eine für mich. Weiter geht es durch eine amphibische Landschaft, verlandende Reste von kleinen Seen, natürlich alles Naturschutzgebiet. Dann ist Potsdam erreicht, schon ein Hinweis auf einen großen Parkplatz, Busse, Menschenmassen: "Das Neue Palais". Durch einen kleinen Einlaß fahre ich in den Park von Sanssouci ein. Da liegt das neue Palais, teilweise eingerüstet und für die Instandsetzung vorbereitet. Gegenüber befinden sich die Communs, zwei barocke Backsteinbauten (wieder aus dem Reiseführer).

Zwischen den Menschen muß ich mir einen Weg bahnen, um mich in Richtung des eigentlichen Ziels vorzukämpfen. Aber es gibt auch Nebenwege, erstmal vertausche ich die Radlerhose mit einem normalen, der Zivilisation besser gerechten Beinkleid. Im Vorbeifahren höre ich einmal "Der Mann macht's richtig", warum nur ich? Vor der Orangerie treffe ich immerhin zwei Radfahrer, die aus Bremen angereist sind. Dann wieder ein Parkplatz und noch mehr Menschen, hier liegt das Schloß Sanssouci. Das Fahrrad wird abgeschlossen, gleich danach hüpfe ich die berühmte Freitreppe über die Terrassen vor dem Schloß hinunter. An den Wänden werden hinter Glasabdeckungen Feigenbäume gezogen. Unten mache ich ein Foto und stelle erschreckt fest, daß der Film zuende ist. Hoffentlich hat es noch geklappt mit dem letzten Bild.

Schloß Sanssouci
Weiter geht es durch Potsdam Richtung Cecilienhof. Wieder Kasernen der Russen, links eine Art Spielplatz. Aber die aufgestellten Geräte sind etwas überdimensioniert, Kletterseile, Kletterwände usw. Offensichtlich ist das ein Trainingsplatz für militärische Klimmzüge. Dann erreiche ich Cecilienhof. In dem herrlichen Park sonne ich mich am Gestade des Heiligen Sees eine Weile, danach wird der Park mit seinen Attraktionen erkundet. Das Marmorpalais ist verwahrlost. Das Schloß Cecilienhof dagegen ist als Gedenkstätte für das Potsdamer Abkommen, das 1945 hier abgeschlossen wurde, tiptop in Schuß. Liebevoll gepflegte Blumenrabatten umgeben das im englischen Landhausstil erbaute Schloß. Ich bedauere, daß ich nun nicht mehr fotografieren kann.

So langsam mache ich mich Richtung Grenzübergang nach Westberlin auf den Weg. Ich möchte über die Glienicker Brücke fahren. Diese haben wir im Jahre 1962 auf unserer Oberprimafahrt nach Berlin als ein Symbol der Teilung bestaunt. Vorher werden Häuser passiert, an denen noch Spuren des Krieges zu beobachten sind, Splitter- und Geschoßspuren an den Fassaden, die seither weder Putz noch Farbe gesehen haben. Schließlich die Glienicker Brücke, wieder mit leichter Gänsehaut überquere ich sie und bin dann wieder im Goldenen Westen. Bis zur Pfaueninsel fahre ich auf dem wunderschönen Weg entlang der Havel. Dann geht es weiter auf der Pfaueninsel Chaussee, die für Autos gesperrt ist, nach Wannsee. Von dort entlang am Schlachtensee und der Krummen Lanke. Hier reimt sich Lanke auf Banke und Bully auf Buhlan. Schließlich rolle ich die letzten Kilometer auf der Onkel Tom Straße nach Steglitz, wo mich Freund Werner M. in der BAM (Bundesanstalt für Materialprüfung) erwartet. Ein Blick vom Hochhaus der BAM ersetzt eine Turmbesteigung. Es ist ein schönes Gefühl, daß man jetzt auch in alle Richtungen, in die man den Blick schweifen läßt, gelangen kann. Besonders für die Berliner muß diese Befreiung aus der Inselsituation ein tiefes Durchatmen bedeuten.

Ostberlin

Bevor am Donnerstag Mittag das Arbeitstreffen des WRAKG (Wissenschaftliche Rechenzentren Arbeitskreis Graphik) in der Universität in Dahlem beginnt, habe ich noch einen halben Tag Zeit. Da gibt es nicht viel zu überlegen, ein Besuch im Osten der Stadt ist angesagt. Um Zeit zu sparen, steige ich in Steglitz in die S-Bahn, die Mitnahme des Fahrrads gehört zum Standardangebot von S- und U-Bahn. Nur versäume ich, vor dem Eisteigen meine Fahrkarte zu entwerten. Im Zug ist das nicht mehr möglich. So zähle ich ungeduldig die Stationen bis zum Anhalter Bahnhof und beobachte argwöhnisch die Zusteigenden. Aber meine unfreiwillige Schwarzfahrt gelingt und ich steige unbehelligt am Anhalter Bahnhof aus.

Zuerst muß ich mir dringend einen neuen Film besorgen. Es ist noch vor 9 Uhr und die Geschäfte haben noch nicht geöffnet. An zwei Tankstellen versuche ich mein Glück, aber da gibt es keine Filme. So passiere ich während meiner Suche ein Zeltlager von Autonomen, die gegen Immobilienhaie und für Hausbesetzungen demonstrieren. An der Bernburger Straße gibt es den "Polenmarkt", da ist um diese Zeit schon ordentlich was los. Ich traue mich da aber nicht näher ran. Vor einer ALDI-Filiale hat sich eine lange Schlange aufgebaut. Gleich daneben bekomme ich in einem Tabakgeschäft endlich meinen Film.

Endlich kann ich nun richtig starten und komme an den Potsdamer Platz. Hier ist ein Grenzübergang, aber ich will natürlich zum Brandenburger Tor. Direkt an den Resten der Mauer entlang oder sogar im Todesstreifen bin ich wenige Minuten später auf der Straße des 17. Juni und vor dem Brandenburger Tor. Dem ist in diesem Jahr die Neujahrsnacht nicht so gut bekommen, die Quadriga ist abgebaut, um restauriert zu werden, das Brandenburger Tor ist eingerüstet. Im Todesstreifen stehen bereits frisch angelieferte Pflanzcontainer herum, sicher wird bald ein lieblicher Park das Brandenburger Tor umrahmen.

Ich mische mich unter die Menschen, die hauptsächlich in Gruppen auftreten und wohl nach Bussen sortiert sind. Immerhin muß ich meinen Paß vorzeigen, dann betrete ich den Pariser Platz am Beginn der Prachtstraße "Unter den Linden". Die Linden sind nur halbstark, sicher Nachkriegsmodelle. Wieder dieses Gefühl, als ob man den Mond betritt. Erstmal schiebe ich das Rad, um die Eindrücke rings umher besser aufzunehmen. Botschaften, Büros von Fluggesellschaften, Banken und Nobelgeschäfte säumen den Boulevard. Dann Humboldt Universität, Altes Palais, Deutsche Staatsoper, Neue Wache, Museum für Deutsche Geschichte ... - zuviel, um alles auf einmal zu verarbeiten. Anhand einer Bildkarte "Zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz" kann ich die einzelnen Gebäude identifizieren.

Berlin Mitte

Etwas übersichtlicher ist es auf dem Marx-Engels Platz. Der Berliner Dom mit der erst in den letzten Jahren wiederhergestellten Kuppel, das Staatsratsgebäude, Rotes Rathaus und der Palast der Republik mit der Volkskammer, aus dem fast täglich in den Nachrichten berichtet wird. Das Hammer und Zirkel Emblem ist längst entfernt, aber man sieht, wo es einmal hing. Zwischen Dom und Palast der Republik ist kein Durchkommen. Es ist eine muntere Demo gegen Mißstände im Bildungswesen im Gange. Die Polizei kanalisiert durch Absperrungen die ganze Angelegenheit in den gewünschten Bahnen.

Das Rote Rathaus
Ich halte mich rechts, um das Nikolaiviertel zu inspizieren. Einer geführten Gruppe wird gerade erklärt, wie dieses Viertel für die 750-Jahrfeier komplett aufgebaut wurde. Unauffällig bleibe ich daneben stehen und höre ein wenig zu. Die Nikolaikirche ist geöffnet, aber die Besichtigung verschiebe ich auf einen späteren Besuch. (Im Juli wird hier Bundespräsident Weizsäcker zum ersten "Nachkriegsehrenbürger Gesamtberlins" gekrönt werden). Mich zieht es weiter, ich möchte noch ein wenig "Milieu" sehen und vor allem entlang der Mauer Entdeckungen machen.

Doch um den "Alex" kommt man nicht herum. Irgendwie unübersehbar der 365 m hohe Fernsehturm, zum Leidwesen der Westler das bei weitem höchste Gebäude Gesamtberlins. Wie vielerorts hat man das Gelände, auf dem der Turm steht, auf nicht ganz legale Weise der Öffentlichkeit angeeignet, sodaß selbst hier Rückgabeforderungen anfallen. Diese Sache wird einmal im Fernsehen gebracht, die ehemalige Eigentümerin interviewt, und die findet zu der erstaunlichen Einsicht: "Was soll ich denn mit einem Fernsehturm auf meinem Grundstück?"

Dahinter quer über den Platz der S-Bahnhof. Vor dem Interhotel "Stadt Berlin" und dem Centrum Warenhaus wimmelt es von Polen, die Waren anbieten, meistens Unterhaltungselektronik. Auch Leute mit Geldbündeln in der Hand machen ganz ungeniert Tauschgeschäfte. Jetzt kehre ich aber diesem ganzen Treiben den Rücken zu und mache mich in Richtung Prenzlauer Berg auf den Weg. Bis zur "Immanuel Kirche" fahre ich die Prenzlauer Straße entlang, dann biege ich in Nebenstraßen ein. Hier ist die Pracht zuende, die Häuser stehen zum Teil unverändert seit Kriegsende oder vermutlich früher. Wahrlich ein Stück Vergangenheit, schaurig schön. Leider bringe ich nicht Mut und Zeit auf, mir einen Hinterhof anzusehen, man müßte nur durch einen der meist offen stehenden Durchgänge gehen.

Über die Dimitroff Straße, einer großen Baustelle und die Eberswalder Straße erreiche ich wieder die Grenze. Von hier bahne ich mir parallel zur berühmten Bernauer Straße einen Weg entlang der Mauer, sofern sie noch steht. An einer Stelle ist man gerade mit dem Abbau beschäftigt. Ich klaube zwei Brocken der Mauer auf und verstaue sie im Rucksack. Statt Grafitti haftet eine graugrüne Tarnfarbe an den Betonbrocken. Ein wenig weiter ist eine fotogene Stelle, es stehen nur noch die Pfosten, dahinter blüht der "Mauerpfeffer" und Hasen hoppeln herum.


Die Mauer in Auflösung
Da werde ich angesprochen, ein Pressefotograf der AP ist damit beschäftigt, den Mauerabbau zu dokumentieren. Er möchte mich zwar nicht zu einer illegalen Handlung anleiten, sagt er, aber ob ich nicht mal zwischen den Pfosten entlanggehen könnte, damit sein Foto etwas belebter wirkt. Da lasse ich mich nicht zweimal bitten, aber erstmal muß ich meine Hosenbeine herunterkrempeln und den Fotoapparat abhängen. Dann wird hinüber zu den immer noch allgegenwärtigen Grenzern geschielt und ich gehe mal eben da so lang. Hier liegen auch Brocken mit Grafitti herum, aber die sind zu groß. Alles geht gut, zum Dank bekomme ich einen Film geschenkt, geradezu ein Witz angesichts meiner Mühen bei der Filmbeschaffung am Morgen. Vielleicht komme ich mal in irgendeinem dokumentarischen Bildband vor.

Immer auf Tuchfühlung mit der Grenze fahre ich weiter, mehrmals verfranse ich mich in Sackgassen und Betriebsgelände. Dann fahre ich mitten durch den Komplex der Charite, muß man ja auch gesehen haben. Noch einmal gerate ich in das Niemandsland, unmittelbar an der Spree vis a vis vom Reichstag. Ein Liebespaar hat es sich im "Todesstreifen" in einem Trabbi gemütlich gemacht. Diskret fahre ich ein paar Meter weiter und mache noch ein Foto vom Reichstag, Mauerpfeffer im Vordergrund. Der Name Mauerpfeffer hat hier ja einen besonderen Klang.

Mauerpfeffer
Jetzt bekomme ich Schwierigkeiten, aus dem Gelände wieder heraus auf eine Straße zu kommen. Vorne sind Bauarbeiter, denen gebe ich Zeichen und sie winken, daß ich da durch kann. "Hier hätte man mal vor einem Jahr herumstiefeln sollen" sage ich zu ihnen, da lachen die, - mit Recht. Über ein paar Rohrleitungen muß ich das Rad hinwegheben, über die Otto Grotewohlstraße bin ich dann gleich wieder beim Brandenburger Tor.

Zurück geht es in den Westen, noch ein Abstecher zum Reichstag. Hier wie an vielen anderen Stellen werden Mauerbrocken angeboten, eingeschweißt in Plastik und mit Echtheitszertifikat. Alle Steine ziert eine makellose Graffiti-Farbe, keine Beschädigung ist zu entdecken. Da weiß man nicht, wie weit das echt sein soll, meine Steine mit der grauen Farbe sind mir lieber. Waren ja auch billiger.


Grafitti
Noch ganz benommen von den Eindrücken fahre ich zurück auf der Straße des 17. Juni, über den "Kudamm" und schließlich nach Dahlem, wo um 14 Uhr unser Treffen beginnt. Das gestaltet sich natürlich viel weniger beeindruckend als die Erlebnisse, die die Herfahrt und der Besuch in Ostberlin mit sich gebracht haben.

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