Radfahren in Deutschland aus der Sicht eines Amerikaners
...
Ich merkte schnell, dass ich auf dieser Strecke nicht allein bleiben
würde.
Der Weg war wie ein schmaler Schlauch und zwang die Radler, sich wie
im Gänsemarsch
einzuordnen. Die Radfahrer pflegen in Gruppen aufzutreten. Der Anführer
strebt in
aufrechter Haltung voran und erkundet den Weg mithilfe einer am Lenker
befestigten
Karte. Die Halterung am vorderen Ende des Fahrrads, groß wie
ein Laptop, erinnert an
einen kleines Pult und erweckt den Anschein, man sei mit einem Gebetbuch
zum Wohle
der Allgemeinheit unterwegs. Alles was zu diesem Eindruck noch fehlte,
wäre das
Anstimmen eines Kirchenchorals. Der stabile Kartenhalter hält
die Karte in einem
Winkel von 45 Grad zum besseren Ablesen während der
Fahrt. Auf diese Weise
kann der unerschrockene Anführer auf schnellstem Wege eine der
vielen rätselhaften
zusätzlichen Umwege durch die Städte vermelden, sodass keine
bemerkenswerte Kirche,
das Denkmal eines Bischoffs oder ein Kloster verpasst wird. Ich war
so beeindruckt
von diesem Tableau auf dem Fahrrad, dass ich beschloss, mir selbst
ein solches
anzuschaffen. Es würde sich ideal dazu eignen, einen Schreiber
zu befestigen und
Notizen für eine Fahrtenbuch aufzunehmen.
Der Rest der Corona folgt dem Anführer wie die Gänse beim Überqueren einer Straße, die Füße rotierend im begleitenden Rhythmus von zwitschernden Vögeln, alle Hast eines geruhsamen milden Mittsommertages verkörpernd, energisch voranstrebend wo zuvor tausende dasselbe taten.
Eine Gruppe besteht im Durchschnitt aus zwei bis zehn Personen. Ihre Kleidung offenbart, dass man sich auf einer langen Tour befindet. Männer und Frauen tragen bequeme Hosen und weite Hemden und Blusen. Wenn es sich um eine kurze Ausfahrt von zu Hause handelt, tragen Frauen einen Rock umd Männer Hosen mit Bügelfalten. Man fährt aufrecht, hat Schutzbleche und Dynamo- betriebene Beleuchtung. Die Lenkstange ist entsprechend aufrecht eingestellt, einige der mehr sportlichen Modelle haben gekrümmte Lenker. Alle sind tourenmäßig ausgerüstet, entweder mit Gepäcktaschen oder Körben mit Kleidung, Butterbroten und Luftpumpe darin. Alle scheinen eine Abneigung gegen schmale Fahradsättel zu haben und bevorzugen gefederte Plattformen von der Größe eines Traktorsitzes in der Hoffnung, dort Unterstützung zu finden, wo es am nötigsten ist. Ein sich eher sportlich abhebendes Kontingent der Menge trägt Lycra Shorts mit grell bunten Streifen und Hemden so ausgefallen, dass Greg Lemond sich dagegen wie ein Stück Asphalt vor einem Cirkus-Zelt ausmachen würde. Es ist erstaunlich, dass jede Art von Schuhfixierung die Ausnahme bildet, selbst bei den offensichtlich modebewußteren Vertretern.
Gegen 12 Uhr leeren sich die Radstrecken. Doch das Volk sucht sich nicht
ein
schattiges Plätzchen um die Verpackung eines "Power Bar" aufzupellen.
Dieses Volk
hat ein anderes Mittagskonzept. Anstatt an einem Imbißstand herum
zu stehen,
lässt man sich auf den Stühlen von anheimelnden Freiluftcafes
und Biergärten
nieder. Anstatt synthetische Kohlehydratgetränke aus dem Rucksack
zu sich zu nehmen
bestellen sie riesige Gläser Weizenbier mit einer vollendeten
Schaumkrone, gekrönt
durch eine Zitronenscheibe. Sie benutzen nicht ihre Finger, um Stücke
von Power Bars
in handliche Kugeln zu formen, nein, sie nehmen gleichzeitig Gabel
und Messer zur
Hand und zerlegen aufwendig zubereitete Zusammenstellungen von Fleisch
und Kartoffeln,
die auf vornehmen Porzellantellern serviert werden. Dem guten Essen
kommt eine hohe
Bedeutung zu. Alles was in Cellophane verpackt ist, wird als unkultiviert
und
unschick erachtet, das ist kein richtiges Essen. Gutes Trinken ist
genau so wichtig.
Jedes Getränk mit einer Schaumkrone darauf wird besser beurteilt
als eines ohne.
Die bevorzugte Art Mittag zu machen ist das Sitzen unter Weinranken
in einem
Biergarten, sich durch einen Stapel von Tellern mit gepökelten
Schweinshaxen, gelierten
Ziegenkopf (?), Schaschlikspießen hindurcharbeitend oder eine
Ochsenschwanzsuppe
auslöffelnd. Ein selten fortschrittlicher Vegetarier der Gruppe
kann jederzeit
auf Pommesfrites oder das harte Brot von der Konsistenz eines Hockeypucks
reflektieren. Sich dagegen während der Fahrt aus irgendwelchen
Plastikbehältern zu verpflegen
(...stuffing a bag of "goo" in their mouths...),
würde ihnen nicht in ihren schlimmsten Träumen einfallen.
Ist es nicht faszinierend, wie verschieden kulturell geprägte Völker auch eine unterschiedliche Fahrradkultur pflegen?
Eine andere Art Mittag zu machen - ebenso beliebt - ist es, an einer der vielen Bänke längs des Weges anzuhalten. Die Blicke auf den Fluss von den Bänken aus sind so einladend, dass man zuweilen alle paar 100 m bereit ist, vom alten Drahtesel abzusteigen. Hier setzen sie sich nieder mit Butterbroten und Kartoffelsalat und vielleicht einer mitgeführten Flasche Weissbier und betrachten die trübe wie ein Teich da liegende Wasserfläche, versunken in Gesprächen. In einigem Abstand kann man ein sich näherndes Auto hören, aber nur schwach auf der anderen Seite des Flusses.
Ich wurde also Zeuge eines unterhaltsamen Schauspiels: einer anderen Art zu radeln als wir es in den Staaten kennen. Dies sind Deutschlands Fahrradwanderer, die einer Tradition entstammen, die älter ist als das Autoreisen. Es ist eine beliebte Art von Urlaub, eine Woche mit der Familie oder in einer Gruppe zu radeln. Das Vergnügen besteht aus dem Verkonsumieren von Essen und Bier ebenso wie im Konsumieren von Kilometern. Kinder fahren einher auf winzigen Rädern oder Tandemkonstruktionen. Die Kleinsten werden auf einem Kindersitz oder dem Gepäckträger plaziert, oder in einen Anhänger verfrachtet. Diese letzte Transportart ist aber eher unüblich. Die Entfernungen sind so gering, dass das Fahrrad stets als adäquates Transportmittel gelten kann, das galt selbst zu Zeiten vor der Erfindung von Cyklometer, Titanium und Camelback(?).
Nach einer Anmerkung von M.Fiebach: Ich finde es herrlich, dass "Camelbacks" für manche Leute so ungewöhnlich sind wie für andere die Vorstellung, für ein gepflegtes Mahl die Fahrt zu unterbrechen. "Camelbacks" sind die in Amerika beliebten Rückenbeutel mit Wasser. Ein kleiner Schlauch führt direkt von der Rückentasche zum Mund. Der Fahrer kann nun an dem Mundstück saugen, und auf diese Weise fahren und trinken, fahren und trinken, fahren und trinken... So ist er niemals gezwungen anzuhalten, nur um ein Getränk zu sich zu nehmen. Ich glaube, darüber könnte man auch eine lustige Betrachtung anstellen...
Die Fahrradwanderer bilden einen besondere Sparte der Fahrradkultur in diesem Land. Ihr bevorzugtes Betätigungsfeld sind die zuvor erwähnten Fluß-Radwege. Es gibt keine Berge, und falls man wirklich einmal im Verzug ist, kann man jederzeit eine Flussschleife abschneiden und so die zu absolvierende Strecke auf Nahezu Null reduzieren.
Die Rennsportszene in Deutschland unterscheidet sich weniger von der in anderen Ländern. Man bewegt sich auf kleinen Nebenstraßen und weniger auf den Radwegen, wo das Passieren der Gänsemarsch-Kolonnen oft ein gewagtes Manöver bedeutet, wo man aus dem Rhythmus kommt und mit verächtlichen Blicken bedacht wird. Ich hatte oft das Gefühl, dass andere Flusspfad-Gefährten um mein Wohlergehen besorgt waren, wenn sie sahen, wie ich mich auf dem Rad abplagte. Der Ausdruck ihrer Mienen besagte: "Du wirst bald einen Herzanfall haben, wenn du weiter so hastig strampelst". Es gibt einen weiteren Grund für das seltene Auftreten von Rennradfahrern an Flusspfaden. Die Flusspfade sind oft unbefestigt, manchmal kilometerlang, ohne Ankündigung, als ob das für einen Flusspfad das natürlichste von der Welt wäre. Das ist selbstredend für einen Hightech-Freak mit seinem ausgewogen abgestimmten Equipment unannehmbar.
Man mag denken, das Mountainbike sei das perfekte Gefährt für dieses Gelände, und so würde ich sagen. Aber ich glaube, viele von diesen Leuten sehen ein Mountainbike immer noch als ein exotisches Freizeitgerät an und ziehen ihre herkömmlichen steifen Fahrradrahmen vor mit der "Bequemstuhl"-Geometrie (easy chair) und den Netzen am Hinterrad, um die Röcke vor den speichen zu schützen bzw. umgekehrt. Eine andere Radausstattung besteht aus komplett verkleideten Kettenkästen, wodurch das Verschmieren der Hosen durch die Kette nahezu ausgeschlossen wird. Eine weitere eigenheit vieler Fahrräder ist das Speichenschloss, ein zwei Zoll langer Bolzen, der durch die Speichen gesteckt wird, so dass eines der Räder nicht mehr drehen kann. Anscheinend sind die Diebe, die in der Lage sind, ein Fahrrad hinweg zu tragen, noch nicht bis in diesen Teil des Universums vorgedrungen.
Übersetzung Martin Wittram