Das Tal der Wipper (Ostharz, 26.5.95)

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Die lieblichen Flüsse im Harz wie Sieber, Oker, Oder, Innerste, Bode oder Selke sind bereits abgegrast. Seit längerem beschäftige ich mich mit der Wipper in einem für uns noch unbekannten Terrain. Die Wipper entspringt oberhalb von Stolberg und fließt dann in einem von Verkehrswegen nahezu unberührtem Tal genau nach Osten bis Mansfeld. Dann fließt sie nach Norden und mündet in Bernburg in die Saale. Zur Erweiterung der Ortskenntnisse im Harz sind die ca. 40 km bis Mansfeld interessant. Über alte Harzkarten vom Flohmarkt gebeugt, 1952 oder so, wird die Tour vorbereitet.

Ende der Vorgeschichte, über die neue Autobahn zum Harz, quer durch den Oderwald - allen Protesten an der Trassenführung zum Trotz - rasen wir harzwärts, dann durch Braunlage - die Umgehungsstraße ist immer noch nicht fertig - nach Sorge, Tanne, Hasselfelde, schließlich Stiege, wo ich bei meiner Selkefahrt schon mal gestaunt habe.

Wir haben Lust auf einen Kaffe und halten vor einer maroden Restauration mit dem Namen "Burgstieg". Eine Frau fegt vor der Tür, hinter den Fenstern erkennt man Gäste beim Frühstück. Thomas hat keine Probleme mit seiner charmanten Überzeugungskraft, nach einigem Bezirzen der Bedienung: "Sie haben Farbe auf der Nase, haben sie die ganze Nacht gepinselt?" ist diese zu einem Einlenken bereit, obwohl wir ja nicht angemeldet seien. Wir bekommen unseren Kaffee (Kännchen). Mit der fegenden Frau vor dem Haus wird anschließend die Eignung ihres Besens diskutiert. Schon haben wir uns als "Besserwessis" enttarnt. Dann kommt sie auch schon zum geschäftlichen Teil, das Hotel solle verkauft werden, obwohl man es eher verschenken könne, soviel sei daran zu machen.

"Gehört Ihnen das Lokal?" fragen wir leutselig. Nein, das gehöre dem Chef, erfahren wir dann. Der Name des Lokals "Burgstieg" rühre daher, daß sich oberhalb ein nun leerstehendes Gemäuer befinde, bis vor kurzem noch ein Altersheim. Das ist inzwischen "abgewickelt", erregt aber nunmehr unsere Neugierde, sodaß wir unser Auto über einen holperigen Weg dort auch noch hinauflenken müssen. Mangels Kleingeld sehen wir aber von einer käuflichen Übernahme der Einrichtung ab.

Ich bin so langsam ungeduldig, eigentlich hatten wir noch eine Radtour vor. Gegen 9.30 erreichen wir endlich den vorgesehenen Parkplatz am Auerberg, wo es losgehen soll. Die Räder werden gesattelt, der zuvor eingenommene Kaffee wird im Gebüsch entsorgt, dann endlich rollt man auf die zu erwartenden Sensationen zu.

Immer gut, wenn es gleich bergab geht, das Rennrad ist schon weit voraus, gerade noch reicht der Ruf: "Am Waldrand links!!".

Zunächst geht es nur durch den Wald, weiter bergab, bis man nach kurzer Strecke den Oberlauf der Wipper erreicht. Ein stilles Wiesental, nur das Gezwitscher der Vögel ist zu hören, von der garstigen Außenwelt dringt kein Ton hierher.

Leider sind wir keine Botaniker, erkennen nur hin und wieder einen Buschen von Sumpfdotterblumen. Bei Claus Novak, Der Ostharz, S. 174 ist über das Tal der Wipper aber nachzulesen: man treffe auf fast alle mitteleuropäischen Holzarten und die Strauch- und Krautschicht sei reich entwickelt.

Letzteres wirkt sich so aus, daß der Wanderweg schon mal zu einer ungemähten Wiese entartet, kleine Knüppelholzbrücken geleiten einen über sumpfige Partien. Da klemmt man die Räder dann unter den Arm. Ich muß öfter zu Thomas hinschielen, ob er noch bei Laune ist. Während ich mit meinem Rad ganz unbesorgt über Stock und Stein holpere, läßt sich das Rennrad nur vorsichtig zwischen Schotter und Baumwurzeln hindurch manövrieren. Wenn man nebeneinander fährt, schießen zuweilen aufspritzende Steine dem anderen in die Speichen.

Aber es wird Wert auf die Feststellung gelegt, daß diese Tour ja die Qualität des Rennrades dokumentiere (einen Tag später kauft er sich aber Lenkerhörnchen für sein Mountainbike).

Ab und zu passieren wir verlassene Anwesen, das sind ehemalige Mühlen. Doch davon ist nichts mehr zu erkennen. Unterhalb von Dankerode liegt z.B. die Markthals-Mühle, die unterscheidet sich in nichts von einer der allfälligen Wochenend-Datschen.

Wir arbeiten uns also weiter vor, laut Beschilderung in Richtung Campingplatz Wippertal. Dort ist dann auch ein reger Betrieb, Hauptsport ist hier wohl Angeln und Grillen, abgesehen von den dazu notwendigen Getränken. Die Kfz-Kennzeichen entstammen Orten aus der Vorharzgegend. Thomas erkennt mit Kennerblick, das dieser Platz noch schön unverfälscht sei, schließlich besteht er auch aus kaum mehr als einer ungemähten Wiese.

Wenig später erreichen wir die Wipper-Talsperre. Um die Windungen des Tals geht es auf gut fahrbarem Weg über dem Wasserspiegel dahin. Das Wasser ist mit seiner braunen Farbe weniger einladend. Am Ende kommen wir oberhalb der Staumauer heraus, dem "Panoramablick", wie die Beschilderung ausweist.


Staumauer
Die Route bis Wippra besteht nun aus einer unbefestigten Straße, hier gibt es noch echte Schlaglöcher. Es kommen uns zum Glück nur zwei Autos entgegen, die bei unterschiedlichem Fahrertemperament auch für unterschiedlich große Staubwolken sorgen.

Es erscheinen die Häuser von Wippra, Zeit, etwas zu verköstigen. An der Kreuzung vor der Brücke schauen wir uns um. Ein Fischwagen bietet leckere Fischbrötchen an, aber es läßt sich kein Verkäufer blicken. Also geht es in eine Metzgerei mit reichhaltigem Angebot. Eine heiße Bockwurs für DM 1.50 findet ihre Käufer. Noch einmal umkreisen wir danache die Fischbude. Aus einem Blumenkiosk gegenüber kommt ein Mann herangeschlendert, der hat sich offensichtlich weniger wegen der Blumen in der Bude aufgehalten. Ja, vorhin hätte er uns auch schon gesehen.


Wippra
Wir erstehen ein Matjesbrötchen (DM 1.50), echte Ostbrötchen, wird versichert, und das schmeckt man auch. Thomas bestellt nach. Während wir so kauen diskutieren wir, warum der Fischwagen mit dem Rücken zur Straße aufgestellt ist, wo jeder erst um den Wagen herumlaufen muß, wenn er etwas kaufen will. Die Antwort ist einfach: Der freie Blick auf den Blumenkiosk ist es.

Der Rest der Fahrt verspricht nun mehr Komfort an Wegequalität. Dafür ist es mit der vollendeten Beschaulichkeit des unzugänglichen Wiesentales vorbei. Die Straße ist frisch geteert, was unserer Sitzfläche auch nicht unangenehm sein mag. Es geht entlang der Bahnlinie Wippra - Mansfeld, die wohl mehr historischen Wert hat.

Die Weiterführung ist zunächst unklar, ein Weg im Tal läßt sich nicht ohne weiteres finden und wir geraten unversehens in die Höhe. Und dann passiert wieder das, was einem nur widerfährt, wenn man Karte und Reiseführer vorher nicht zu genau liest.

Hinter einer Kurve liegt vor uns auf dem Berg plötzlich eine wunderschöne Burg. Daran flicht sich eine kleine pikante Nebensächlichkeit: es gibt eine bayrische CSU-Abgeordnete, die heute bitter bereut, im jugendlichen Überschwang in einem Film namens "Stoßburg" mitgewirkt zu haben. Das fällt einem jedenfalls ein, wenn man den Namen dieser Burg liest: "Rammelburg".

Rammelburg
Es ist dann weniger lächerlich, was sich hinter ihren Mauern verbirgt. Schon am Eingang des umgebenden Ortes findet sich ein Warnschild, daß man es mit Behinderten zu tun habe. Wir fahren die paar hundert Meter zum Burgtor hinauf, ein wunderschöner Blick in den Innenhof. Ich mache schnell ein Foto, da äugt auch schon jemand herüber und kommt heran. Schnell verstaue ich den Fotoapparat und bereite mich auf eine schnelle Wende vor.

Es kommt aber ganz anders, der Mann, der da herankommt, ist wohl von unserem Interesse an diesen Gemäuern angetan und erzählt gleich los. Er ist seit 8 Jahren hier Pfleger. Geld zum Restaurieren sei so gut wie keins da, nichtmal zu einem Gerüst reiche es. Zu DDR-Zeiten schon gar nicht. Allein die Wiederherstellung der historischen Fenster sei mit 18 Millionen DM veranschlagt. Das verschlägt einem ja die Sprache. "So eine schöne Burg!" entfährt es ihm immer wieder.

Thomas als Sozialpädagoge verwickelt sich nun in ein Gespräch über die soziale Situation. Es ist hier z.Zt. ein Heim für behinderte Jugendliche untergebracht. Sobald sich ein Finanzier finde, solle aber alles privatisiert werden. Ein Luxus-Hotel und ein Fortbildugsseminar für verdiente Beamte sei geplant. Die Tage des Heims seien dann wohl gezählt.

Wir können nur alles Gute wünschen und die Angelegenheit der weiteren (ungewissen) Zukunft überlassen. Nun nehmen wir einen steilen Weg in Angriff, am besten zu Fuß, nach wenigen Metern schon sind wir ordentlich am Schwitzen. Das ganze lohnt sich insofern, als man dann oben aus Wald und Flur heraus auf die stark befahrene B 242 gerät. Dieser zu Ehren hat man einen Rastplatz mit Restaurant und Imbißbude eingerichtet. Das reicht immerhin zu einem "Spezi" bei einer brummigen Kellnerin, die naserümpfend ihre ledernen Speisekarten wieder mitnimmt.


Im Tal
Etwa einen Kilometer fahren wir auf der Bundesstraße weiter. Auf dieser kurzen Strecke erleben wir so an die 10 riskante Überholmanöver der dahinrasenden Reisenden. "Genauso fahren die hier" ist Thomas' diskriminierende Feststellung. Wir biegen in einen Waldweg ab. Das Problem besteht darin, nun hinunter in's Tal zu kommen, wo einen wieder die Ruhe erwartet.

Da es immer bergab geht, glauben wir, auf dem richtigen Weg zu sein. Und das ist sogar der Fall, wie selten kommt sowas bei mir vor. Wir geraten hinab auf den Talgrund. Dort kündet eine großes Schild davon, daß hier ein großes Projekt mit Naturpark usw. im Gange sei. Tatsächlich hatte ich doch vorhin im Herunterrattern ein Knabenkraut am Wegesrand gesehen...

Der letzte Ort vor unserem Ziel heißt Biesenrode und liegt recht weltabgeschieden. Ein Gebäude mit Supermarkt, früher sicher HO-Laden, hat den Charme der 50er Jahre bewahrt.


Einkaufsladen
Dann sind die letzten Kilometer bis Mansfeld schnell abgerollt. Unübersehbar sind rings um Mansfeld die Abraumberge, die auf den seit Jahrhunderten umgehenden Abbau von Kupferschiefer hinweisen. Heute ist alles "abgewickelt". Wir wollen noch einen Blick auf die Kirche werfen, finden diese aber nur durch einen schmalen Einlaß in der hinteren Kirchhofsmauer.

Auf dem Kirchhof ist man schwer im Gange, da wird mit Sensen, Mähmaschinen, Harken und Rechen der blühenden Schafgarbe der Garaus gemacht. Die Arbeitenden sind hübsche Mädchen, die nur wenig Deutsch sprechen. Wir tippen auf Polinnen. Wie wir da so staunend stehen, kommt wieder ein Herr herbei und klärt uns auf. Man hat es mit Sozial-Hilfe-Empfängerinnen zu tun, die kommen alle aus Kasachstan im Zuge der Rücksiedlung. Nun läuft ein Programm ab mit dem Ziel, diese Leute zu Pflegekräften auszubilden. Der Herr ist begeistert, wie schnell die jungen Mädchen lernen, - heute morgen das erste Mal die Sense in der Hand, und jetzt schon die halbe Wiese... Von der Pastorin der Gemeinde ist er weniger begeistert, die ganze Aktion laufe hinter ihrem Rücken ab.

Na, da haben wir doch schon wieder was dazu gelernt. Ein paar Ecken weiter stoßen wir auf einen Einkaufsladen, aber den brauchen wir gar nicht zu betreten. Indem wir zwischen einem fahrenden Bäckerladen und einem Kiosk hin und her pendeln, gelingt es uns, richtig zu Kaffee und Kuchen zu kommen. Hinter dem Kiosk halten sich ein paar Typen am Tresen fest, die wirken auch reichlich "abgewickelt". Als wir von der Mähaktion an der Kirche anfangen, sagt die KioskFrau: "Hier hinterm Kiosk wird nicht gemäht, da können die Männer dann auch nicht hinpinkeln". Wer weiß?

Während Thomas den fahrenden Bäcker nach Umsatz und anderen Geschäftsbedingungen ausfragt, versuche ich bei der KioskFrau anhand der Landkarte Informationen über den Rückweg zu erhalten. Nach 10 Sekunden merke ich schon: zwecklos, die kann die Karte gar nicht lesen (das habe ich zuletzt in Polen erlebt). Die Beratung endet mit der Empfehlung, über Wippra und die Wipper-Talsperre zurückzufahren, das sei schön. Das können wir bestätigen.

Thomas kommt mit der Auskunft, der Bäcker mache am Tag etwa DM 500 Umsatz. Das ist allerdings schwer vorstellbar. Es wird Zeit für die Rückfahrt, 45 km haben wir schon auf dem Tacho, der Rückweg wird genauso weit sein. Als wir Mansfeld verlassen, entdecken wir zurückschauend oben über dem Ort auch eine Burg. Dazu langt es nun heute nicht mehr.


Rapsfeld
Rechts ab nach Möllendorf und Gorenzen, auf und ab zwischen gelben Rapsfeldern. Der kritische Punkt heißt "Ludwigsstrauch", hier stößt man auf die historische "Kohlenstraße". Sie diente zu Vorzeiten der Versorgung des Mansfelder Reviers mit Holzkohle aus den Harzwäldern. Es ist nach der Karte nicht ganz klar, ob man hier weiter kommt, und besagte KioskFrau wußte es ja auch nicht.

Aber das ist kein Problem. Wieder - fast - autofrei, immer durch den Wald geht es wunderbar dahin. Wir haben vielmehr Glück, nicht in eine endlose Baustelle geraten zu sein, denn vor kurzem hat man längs dieser Straße Versorgungsleitungen gelegt. Die Waldschneisen werden gerade wieder aufgeforstet.

Als wir wieder "normale" Straßen erreichen, trübt es sich mehr und mehr ein, über Orte wie Horla, Rotha, Wolfsberg und Hayn geht es dem ersehnten Parkplatz Auerberg entgegen. Die letzten Meter holt uns der Regen ein, gerade noch fast trocken, 90 km in den Beinen, Durchschnittsgeschwindigkeit 14.7 km/h, Uhrzeit 17.30, das sind die äußeren Parameter des Tages.

Zwei Stunden später sind wir wieder zu Hause, am darauffolgenden Samstag erleben wir einen Regentag, der sich gewaschen hat. Glück muß man haben!

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