Armer Leser! Da schreibt aber auch einer Alles auf. In diesem Falle war das eigentlich auch nicht vorgesehen, aber dann hat unser Hund mich doch überredet, ihm die Geschichte zu widmen.
Ich hatte gerade ein wunderschönes Buch von Hans Fallada: "Wir hatten mal ein Kind" gelesen, das spielt zum großen Teil auf der Insel Rügen und da kommt was mit Eisschollen und einer zugefrorenen Ostsee vor. Dann ruft Bärbel aus Zwickau an, die waren über Sylvester auf Usedom. "Ein andrer Mensch bist Du da!" versichert sie. Wir glauben das gerne.
Also werden kurzentschlossen Anke und Achim, unsere Fischersfreunde in Kölpinsee auf Usedom angerufen, die Gästezimmer sind frei, wer fährt schon um diese Jahreszeit nach Usedom. Na, dann eben wir - und Ajax dürfen wir auch mitbringen.
Um den Ajax zu beschreiben, kann man am besten erzählen, wie wir auf diesen Hund gekommen sind. Das war im Jahre 1991, nachdem uns der Vorgänger Jerry zweimal gebissen hatte und wir ihn leider als für uns nicht verwendbar an das Tierheim zurückgeben mußten. In der Folge haben wir - d.h. ich weniger - mehr auf private Annoncen auf dem Tiermarkt geachtet. So haben wir dann einmal einen Hund besichtigt, das war eine Mischung aus Schäferhund, Dobermann, Schnauzer und Rottweiler. So wurde uns jedenfalls erzählt. Was alle diese Rassen gemeinsam haben, ist ihre Größe, und das hatten sie wohl diesem Nachfahren in der Summe vererbt. Zudem ein fideles Temperament, was sich zur Begrüßung in einem Bächlein zu unseren Füßen kundtat.
In der Folge sprang dieses Kalb dann weiterhin fidel durch die Wohnzimmer der Besitzerin, alles umreißend, was so in der Sprunglinie lag. Wir konnten immer nur krampfhaft unsere Kaffeetassen festhalten und durch Wegdrehen die Köpfe vor dem liebevollen Schlabbern der Hundeschnauze zu bewahren trachten. Nach spätestens 10 Minuten waren wir fix und fertig, mit einem gemurmelten "Wohl doch zu groß für uns" machten wir uns bald aus dem Staube.
Wenig später eine Anzeige: "Hund umständehalber zu verschenken". Man könnte doch wenigstens mal da anrufen, wird an meiner unwesentlichen Meinung vorbei entschieden. Und so wird es gemacht: Um was für eine Rasse es sich handele? Eine wohl etwas tuddelige ältere Dame am Telefon ist ratlos, "Das ist ein Hund" sagt sie. Ja, wie der denn aussähe? "Na, wie ein richtiger Hund" bekommen wir zu hören. Der betr. Ort heißt auch noch Wedelheine. Immerhin neugierig machen wir uns auf den Weg, in einer geografischen Fehlleistug fahre ich über Hillerse und damit 30 km Umweg. Wir finden dann doch nach Wedelheine, ein Pensionär führt uns zu seinem Schrebergarten, wo ein einsamer schwarzer Hund sein Dasein fristet. Er darf nicht in die Wohnung, das hat der Hausbesitzer verboten, deshalb muß der Hund vor dem Winter einen neues zu Hause finden.
Bei dem schwarzen einsamen Schrebergartenbewohner ist natürlich die Freude groß, daß Besuch kommt, auch wir werden wie alte Bekannte durch Präsentieren eines Wuschelkissens in die Freude einbezogen. Sobald dieses Wesen etwas zur Ruhe gekommen ist, können wir es genauer inspizieren. Die Rasse ist nicht bestimmbar, von den derzeitigen Besitzern ist eine diesbezügliche Information auch nicht zu erhalten. Die nähere Beschreibung gelingt dennoch mit einem Wort: "Neufundläder light", d.h. die Gestalt eines Neufundländers, nur etwa kniehoch gehalten. Außerdem hat der Hund vier Ohren, zwei obenauf und zwei nach unten hängende. Was das denn sei, fragen wir. Das wisse man auch nicht, aber da sei "Leben" drin! wird uns versichert.
Wenig später sitzen wir wieder im Auto, Hundeleine, Impfpapiere, Wuschelkissen und den neuen schwarzen Familiengenossen hinten drin. "Ajax" heißt er, nicht gerade sehr einfallsreich, aber umtaufen wollen wir ihn auch nicht. Er hat sich dann auch von Anfang an gut eingelebt. Nur am ersten Abend, da ist irgendwo ein Feuerwerk in einem Nachbardorf losgegangen, da sah man aber einen Ajax unter das Sofa flitzen.
Mit seinen beiden "Ersatzohren" haben wir uns natürlich auch beschäftigt, sie haben sich dann doch als verfilzte Fellzotteln herausgestellt - ohne "Leben" drin.
Das also die - wie ich meine - erzählenswerte Vorgeschichte zu unserem Hund. Nun aber auf nach Usedom.
Nun hatten wir schon seit zwei Wochen anhaltenden Frost, dazu in den letzten Tagen den schönsten Sonnenschein, da ist die Welt wie versilbert. Im Wetterbericht wird gemunkelt, eine Warm- und Regenfront ziehe heran, aber wer nimmt sowas schon ernst. Wir regeln in aller Ruhe alles Häusliche, Stefanie bleibt zu Hause wegen der Schule und Annikas Hasen. Annika geruht, in New York zu weilen, was sie von ihrem "Ersparten" selbst bezahlt hat. So ist Stefanie für eine Woche Einzelkind und Vollwaise, was sie durchaus attraktiv findet, schließlich ist sie soeben volljährig geworden.
Nach einem geruhsamen Frühstück brechen wir am Sonntagmorgen so gegen 10 Uhr zu der langen Fahrt auf, Ajax eingerollt zu Heidis Füßen, aber er liebt ja das Enge. Erstmal das Radio anschalten, wir wollen quer durch Mecklenburg fahren, wo wir ja etliche Gegenden schon kennen.
Um uns herum fahren alle so vorsichtig, kaum mal 80 kmh auf der Autobahn. Streuwagen schmeißen das leckere Salz um sich. Dann klären die Verkehrsnachrichten auf: In ganz Westdeutschland, momentan bis Hannover, ist der Verkehr wegen Eisregens zum Erliegen gekommen. In der Tankstelle Hannover Garbsen ist ein Reisebus quer in die Zapfsäulen gebrettert und hat das halbe Dach runtergerissen - ein Leichtverletzter. Anderswo gibt es aber auch Tote...
Wir fahren im Augenblick genau vor der Wetterfront her. Also ist es wohl besser, nicht über Mecklenburg, sondern stur östlich über die Autobahn dem Eisregen von der Schippe zu springen. Und das gelingt auch, kaum liegen die ausgedienten Laternen von Marienborn mit ihren verwaisten Abfertigungsruinen hinter uns, hört der leichte Sprühregen auf und die Straße ist trocken. Schulterblätter und andere verspannte Körperteile des Fahrers lockern sich allmählich. Ajax ist allerdings etwas nervös und hechelt zum Erbarmen. Wir halten an einer Raststätte und spendieren ein Schälchen Wasser aus der Toilette. Das aber wird verschmäht, außer Beinheben nichts gewesen.
Bei der Weiterfahrt genießen wir einen Stau in der Gegenrichtung, da wird gerade ein allseits gleichmäßig abgeschliffener PKW aus der Botanik gepolkt. Weiteres ereignet sich danach nicht mehr, kaum Verkehr, Bleifuß rund um Berlin herum - das zieht sich. Die Restautobahn Richtung Stettin scheint noch im Vorkriegszustand zu sein - geradezu romantisch aber huckelig und teilweise nur einseitig befahrbar (links). Das letzte Stück von Prenzlau über die Landstraße. Anscheinend zeigt der Tacho ständig ein zu hohes Tempo an, dabei kommt das von der langen Autobahnfahrt - das weiß ja jeder Fahrschüler.
Und so sind wir am frühen Nachmittag unversehens am Ziel, 480 km, 5 1/2 Stunden Fahrt. Bevor wir aber Kölpinsee ansteuern, gehen wir erstmal Gassi in dem Dorf Usedom auf Usedom. Es besitzt eine gewaltige Backsteinkirche, die niedrigen Häuser ducken sich um sie herum. Bei eisigem Wind gehen wir hinunter zum Hafen, da tummeln sich ein paar Kinder auf dem dicken Eis. Einige Boote sind im Eis eingefroren, daß die man nicht zusammengedrückt werden. Sonst ist hier nichts weiter los. Ajax inspiziert dies und jenes - gibt es denn hier so viele Hunde, wir kommen ja kaum vom Fleck.
Endlich wieder im warmen Auto und das letzte Stück nach Kölpinsee, über den unveränderten holperigen Lochplattenweg zum Teufelsberg, dann sind wir da. Verschwitzt kommt gerade eine Gruppe mit Schlittschuhen und Eishockeyschlägern vom Kölpinsee heran. Und da ist er auch schon, der Achim: "Frohes Neues Jahr" heißt es zur Begrüßung. Am liebsten würde ich auch gleich die Schlittschuhe anlegen und losdüsen, aber wir haben ja Zeit. Anke erscheint auch schon auf dem Balkon und bald sitzen wir in der warmen Stube beim Kaffee.
Nach dem Auspacken machen wir uns auf den Weg zum Ort, wo wir zu speisen gedenken. Ajax kommt mit. Das Hotel "Ostsee" hat Betriebsurlaub bis in den Februar hinein. Das nagelneue Hotel "Seerose" hat ebenfalls Betriebsferien. Bleibt nur noch das "Cafe am See", das immerhin hell erleuchtet ist. Wir finden auch einen Platz, denn wir sind außer einer älteren Dame, die apathisch in einer Ecke sitzt, die einzigen Gäste.
Ajax wird unter dem Tisch deponiert und wir bestellen uns etwas aus der erstaunlich reichhaltigen Speisekarte. Knapp vor Betriebsschluß (20 Uhr) haben wir Speisegericht, Bier und Verdauungszigarette absolviert. Wir gehen zur nahen Telefonzelle, an der gerade ein paar Jugendliche zugange waren. Schnell ist Heidi wieder draußen: "Da qualmt was" sagt sie schreckensbleich. Wir gehen auf ein paar Meter Abstand und warten auf eine Detonation oder dgl. Besonders Ajax, der um die Sylvesterzeit immer nur ein halber Mensch ist. Aber es passiert nichts, kein Molli oder Schweizer Kracher, nur eine zugenebelte Telefonzelle. Wir beschließen, lieber bei Anke zu telefonieren.
Als wir daselbst eintreffen, klingelt das Telefon gerade und die geplante Verbindung kommt in der Gegenrichtung zustande. Unsere Stefanie ist ganz aufgelöst, es habe soviele Verkehrsunfälle wegen des Eisregens gegeben, ob wir denn gut angekommen seien. Danach sind alle Beteiligten beruhigt und wir erbarmen uns gemeinsam einiger Reste von Sylvester (Cognac).
In der Hoffnung auf ein paar Radtouren habe ich wenigstens ein Rad (meins) mitgenommen, das verurteilt mich jetzt zum Brötchen holen. Wer das schon mal im Sommer während der Ferienzeit gemacht hat, denkt mit Schrecken daran, manchmal muß man beim Bäcker stundenlang Schlange stehen. Zur Zeit ist dem nicht so, eine nette blonde Bedienung serviert die Brötchen, deren Qualität in gewohnter Weise hervorragend ist. Was im Sommer auch noch anders ist: man kann nicht mit dem Fahrrad über den See fahren.
Achim kann zur Zeit wegen des Eisgangs dagegen nicht zum Fischen, daher ist er froh über jede Abwechslung und leistet uns beim Frühstück Gesellschaft. Das ist besser als jede Zeitung, wenn man etwas über Land und Leute erfahren will.
Erstmal erfahren wir etwas über das Land, und zwar das Weggeschwemmte. Im Herbst hat es eine Sturmflut gegeben, die schlimmste seit 40 Jahren. Ein Nordweststurm hatte massenhaft Wasser aus dem Nordsee- in den Ostseebereich gedrückt, und dadurch war der Wasserstand sehr hoch. Sowas nennt man dann ein Jahrhundertereignis. Wollen wir nicht hoffen, daß sich das dann innerhalb von einem oder zwei Jahren wiederholt wie z.B. bei den Jahrhunderthochwassern im Rheingebiet vor ein paar Jahren.
Was nun hier an Schäden entstanden ist, das die sehen wir uns gleich nach dem Frühstück zusammen mit Ajax einmal an.
Um zum Strand zu kommen, kann man nicht mehr die Treppe das Steilufer hinunter benutzen, es gibt sie nicht mehr. Wo das Steilufer in die Dünen übergeht, da ist jetzt der Zugang. Hier wäre die Ostsee bei der Sturmflut fast bis zum Kölpinsee durchgebrochen. Oben thront ein schönes Holzhaus, das stand früher einmal versteckt unter Bäumen. Heute steht es ratzekahl in der Gegend, die Reste der Bäume liegen ihm zu Füßen. Eine Tür im Erdgeschoß führt direkt in die freie Luft, selten wohl findet man ein Anwesen, wo man aus der Tür tritt und direkt am Strand landet (sofern einem ein paar Meter abwärts nichts ausmachen).
Des weiteren ist die Steilküste übersäht mit herabgestürzten Bäumen, z.T. mächtige und altehrwürdige Eichen und Buchen. Das tut einem in der Seele weh. Man plant, einen Streifen oberhalb der Steilküste ganz abzuholzen, um dem Abstürzen weiterer Bäume zuvorzukommen. Zumindest für Brennholz ist für die nächsten Winter gesorgt, ein schwacher Trost. Ajax hat eine gleichfalls unkritische Haltung zu alledem, denn die überall herumliegenden Baumkronen sind auch nicht das Schlechteste.
Seeseitig ist natürlich auch was zu sehen, nämlich nicht viel. Jedenfalls von der Ostsee, das verliert sich im Dunst. Am Eigenartigsten ist die völlige Stille, u.a. wegen des Meeresrauschens fährt man ja schließlich an die See. Es sieht so aus, als ob sich da eine riesige Eisfläche ausdehnt. Davor türmt sich ein aus Eisschollen zusammmengeschobener Wall, grünblau schimmernd. Ein wenig weiter entdecken wir aber doch freie Wasserflächen, wo ein paar Enten darauf dümpeln.
So kann man nun stundenlang weiterlaufen, bis man irgendwo umkehrt. Genauso passiert das auch bei uns und nach zwei Stunden erfrischender Strandwanderung sind wir wieder zurück.
Was macht man nun mit so einem angebrochenen Ferientag. Wir erinnern uns an ein leckeres Fischgeschäft in Zinnowitz, das ist doch eine Reise wert.
In Zinnowitz wird die Strandstraße neu gestaltet, Platten, Bordsteine, Verbundpflaster... ob das nachher besser aussieht als die vorherigen windschiefen und groben Steine mit den Pfützen dazwischen, das ist sicher Geschmackssache.
Unser Fischgeschäft hat montags geschlossen. Also schauen wir uns die neue Seebrücke an, auch hier hat die See einen Großteil der Planken zerdeppert. Hier ist weniger Eis am Strand, einige Flächen sind ganz offen. Als ein paar Jugendliche sich auf das zweifelhafte Eis begeben, entfernen wir uns schnell, damit wir die nicht womöglich noch retten müssen.
Auf der Rückfahrt fahren wir statt außenrum innenrum durch Koserow, aber dabei fällt einem auch nicht viel neues auf. Ebenso am Achterwasser in Loddin, wo sich das Restaurant "Waterblick" befindet. Das Achterwasser ist fest zugefroren, die Fischer fahren sogar mit den Autos darauf herum und fangen ein paar Fische durch aufgehackte Löcher. Das ist aber mehr ein Sport und lohnt sich nicht - wie Achim uns versichert hat. Aber davon bekommen wir auch nichts zu sehen, alles versinkt im Dunst. Ohne Kompaß sollte man sich bei dieser Witterung wohl nicht auf das Achterwasser wagen.
Es gilt erstmal, sich auszuruhen und von den vielen neuen Eindrücken zu erholen. Das erledigt man am besten durch einen ausgiebigen Mittagsschlaf. Danach gibt Ajax natürlich keine Ruhe und wir brechen wieder auf mit ungewissem Ziel. Vielleicht mal nach Ahlbeck?
Seebrücke Ahlbeck |
Draußen auf der Seebrücke benimmt Ajax sich seltsam, merkwürdig flach kriecht er dahin, anscheinend irritieren ihn die Ritzen zwischen den Holzplanken. Das kenne ich sonst mehr von Heidi. Die kriecht dann allerdings nicht so flach dahin, sondern fuchtelt eher nach einer Stütze tastend mit den Armen und bekommt einen starren Ausdruck in den Augen. Also hat Ajax unser Mitgefühl und wir begeben uns bald wieder auf das solide Pflaster zurück. Er fühlt sich hier nicht wohl und kriecht erleichtert ins Auto, während wir noch ein wenig weiter herumgeistern.
In einem Geschäft sind alte Ansichten von Heringsdorf zu sehen, da kann man auch die alte Seebrücke namens "Kaiser Wilhelm Brücke" bestaunen. So schön bekommen unsere heutigen Architekten so ein Bauwerk offensichtlich nicht mehr hin. Ganz gut gelungen sind dagegen die Verschönerungsmaßnahmen an einigen ollen Kästen, die ehemals Ferienheime des FDGB und dgl. waren. Da hat man mit modernen Stilmitteln erreicht, daß der Betrachter auf einen Neubau tippt. Dann ärgert man sich aber wieder, daß nach wie vor so hoch hinaus gebaut wird - dabei waren die Dinger eben doch schon vorher da. Und manchmal trägt man sogar die oberen Geschosse ab.
Wir freuen uns jedenfalls schon auf in ein paar Jahren, dann sieht es hier genauso aus wie überall und sonstwo auch.
Nachdem wir vergeblich nach Saus und Braus, Jubel und Trubel im Ortskern von Heringsdorf Ausschau gehalten haben, gesellen wir uns wieder unserem Hund zu und fahren mit dem Auto nach Bansin, damit man das auch mal kennenlernt. Dort geht es schließlich nicht mehr weiter, statt auf der Hauptstraße landen wir wieder in Heringsdorf.
Viele Pläne haben wir noch auszuführen. So wartet nach dem Frühstück die andere Richtung am Strand auf eine Wanderung. Zur Erklärung: Hier auf Usedom kann man den Strand in genau zwei Richtungen abwandern. Die Freunde der Nordsee mit Ebbe und Watt dagegen wissen, daß sich dort zuweilen im Bereich von 180 Grad beliebige Richtungen einschlagen lassen.
Entlang der Dünen, auf die man seit der schlimmen Flut nun auch ein besonderes Auge geworfen hat. Da liegt Achims Boot auf dem Strand, eine Nußschale eigentlich, nicht einmal Funk an Bord. Wir bewundern den Mut, damit bei Wind und Wetter auf der See rum zu schippern. Bis zum Streckelsberg erstreckt sich nun wieder das Steilufer, an dieser Stelle der Insel das höchste, das folgt jedenfalls daraus, daß der Streckelsberg mit 66 m die höchste Erhebung der Insel ist. Ganz so schlimm sind in diesem Bereich die Verwüstungen nicht. Eine Eisentreppe ist fast unversehrt geblieben. Aber Bäume, um die es schade ist, liegen noch genug zu Füßen der Steilküste. Um den Streckelsberg herum hat man ehemals eine Betonbefestigung angelegt, die nun auch vor Schäden bewahrt hat. Wegen Baufälligkeit des Ganzen darf man dort aber nicht lang laufen, und auch wir drehen brav um.
Einmal müssen wir noch den Hund anbrüllen, wie der den Rappel kriegt und sich anschickt, Richtung Eiswall über das trügerische Eis zu pesen. Da hat man keine Lust, dem Hund nachzusteigen und ihn aus einem Wasserloch zu ziehen.
Als zweite Unternehmung steht der Polenmarkt in Swinemünde auf dem Programm. Ajax bleibt zu Hause, das ist seine Sache nicht. Schnell ist man in Ahlbeck, an der Grenze ist ein großer Parkplatz, heute fast leer, zwei DM kostet es aber doch. Wir marschieren schnurstracks zwischen den Schlagbäumen hindurch, aber so einfach geht das dann heute doch nicht. Eine Hand winkt uns unter einem Schalterfenster hindurch auf die richtigen Wege der Kontrollprozedur. Interessiert registrieren wir, daß man anhand der Personalausweise auch überprüft, ob wir fahnen- oder sonstwie flüchtig sind. Damit können wir nicht dienen, vielleicht ein andermal!
Früher befand sich der Polenmarkt auf einem großen Platz am Stadtrand von Swinemünde. Dort mußte man mit dem Taxi hinfahren oder laufen. Heute stehen die Buden schon wenige hundert Meter hinter der Grenze, da braucht man kein Taxi mehr. Trotzdem stehen -zig Karossen herum und warten auf Kunden. Wer vornehm ist kann auch mit der Pferdekutsche nach Swinemünde fahren. Wer weniger vornehm ist, nimmt den Bus.
Wir laufen. Eine dralle und blonde Polin steht an einer Sitzbank und spielt mit Inbrust auf dem Akkordeon:
"Wo die Nordseewellen schlagen an den Strand..." (NORDsee wohlgemerkt!)
Ja die Sehnsucht nach der Ferne ist auch hier zu Haus. Aber das kleine Geldtöpfchen vor der Musikantin läßt wiederum weniger auf Fernweh schließen.
Beim Schlendern entlang der Verkaufsbuden gibt es zwei Probleme, eines unten und eines oben. Unten sorgen glatte Eisplatten für einen tänzelnden Gang und oben von den Dächern herunter ergießen sich ab und zu Wasserfälle. So ist die Aufmerksam mitunter geteilt, wobei auch die angebotene Ware nur selten einem gehobenen Geschmack entspricht. Man darf auch nicht stehenbleiben, dann wird man sofort animiert, sein Interesse auf eine bestimmte Ware zu lenken. Wie wir später erfahren, ist dieser ganze Markt stramm organisiert, die Verkäufer sind nur Angestellte, die eigentlichen Fäden ziehen ganz andere.
Mit Käse, Butter und den unvermeidlichen Zigaretten kehren wir schließlich wieder in unser Mutterland zurück.
Heute wollen wir nun aber wirklich Ahlbeck anschauen, munkelt man nicht schon vom "Neues Sylt" oder sowas? Aber das ist wohl doch noch verfrüht - wenn überhaupt wünschenswert. Es wird jetzt vor Beginn der Sommersaison überall eifrig gebaut. Die Seebrücke ist verwaist, wenn man sich die Nase an den Scheiben plattdrückt sieht man nur einen leeren Tanzsaal. Die Promenade macht dagegen einen gepflegten Eindruck, man kann sich schon vorstellen, daß bei entsprechendem Publikum mit Genuß der eine oder andere Kilometer in die eine oder andere Richtung abgeschritten wird.
Uns knurrt der Magen und wir schauen nach einer Würstchenbude oder sowas aus. Wir finden auch bald was geeignetes, und das heißt "Bistro am Park". Da sitzen auch Einheimische drin und erzählen sich was, da ist man immer richtig aufgehoben. Heidi kommt mit der Speisekarte nicht klar, weil sie nur die Ohren spitzt. Da geht es um Abriß, Renovierung, Vermietung, Verpachtung, Ankauf, Verkauf und so fort. Uns schmeckt es trotzdem.
Nach der Heimfahrt läßt sich mit dem Rest des Tages nicht mehr viel anfangen, der Hund scheucht uns nochmal raus, wir holen Kuchen vom Bäcker und trinken mit Achim Kaffee. Der hat nun wieder eine Schauergeschichte: von einem Tag zum anderen soll die Fabrik, wo Anke arbeitet, dicht gemacht werden. Es werden dort Lebensmittel zur Konservierug hergerichtet. 70 Arbeiter sitzen auf der Straße, manche Ehepaare arbeiten beide bei diesem Betrieb. Es ist bekannt, daß Mecklenburg-Vorpommern die strukturschwächste Region in Deutschland ist, auf Usedom ist das Problem der Arbeitslosigkeit noch um eine Größenordnung kritischer.
Die beiden Söhne von Anke und Achim sind in der Maurerlehre. Da ist die Situation so, daß der Bauunternehmer mangels Fachkräften, die großteils längst vor oder nach der Wende abgewandert sind, angelernte Arbeiter einstellt. Häufig kommt es so zu Pfusch, wo der Auftraggeber dann nicht zahlt. Das wird dann wieder solidarisch allen Mitarbeitern im Lohn vorenthalten, obwohl man vielleicht direkt an dem betreffenden Pfusch gar nicht beteiligt war. Und wehren kann man sich auch nicht, weil "an der nächsten Ecke schon ein and'rer steht", wie es so schön heißt.
Achim als Fischer ist immerhin selbständig, aber auch er ist abhängig von den Abnehmern, ob sie zahlen oder nicht, und wenn einer dicht macht, sind die ausstehenden Gelder auch flöten.
Das Wetter wird jeden Morgen scheußlicher und grauer, unsere Wanderung am Strand wird kürzer. Nun läßt sich noch eine Sache unternehmen, wo man nicht so abhängig vom Wetter ist, das ist Peenemüde, wo man während des Krieges die ersten Raketen fliegen ließ.
Auf dem Wege dahin kehren wir in Zinnowitz in unserem Fischgeschäft ein, das heute nicht seinen Ruhetag hat. Grüne Heringe gibt es zur Zeit nicht, aber tiefgefrorene Heringsfilets, die hat auch schon die Kundin vor uns gekauft.
Dann ab nach Peenemünde, zuerst kommt man aber nach Karlshagen. Nun sind wir schon fast so eine Art Seebadinspektor, denn auch hier inspizieren wir erstmal den Strand. Der ist hier eher langweilig, in beide Richtungen aber so weit wie das Auge reicht. In Strandnähe befinden sich große Wohnblocks, wer da wohl wohnen mag und wo finden die alle Arbeit?
Früher war der ganze westliche Teil der Insel Sperrgebiet und vom Militär besetzt, womöglich sind die Wohnungen noch aus jener Zeit. Jetzt legt man gerade einen großen Parkplatz für die Sommergäste an.
Wir fahren nun endlich nach Peenemünde, das nennt sich inzwischen "Historisch technisches Informationszentrum für Raumfahrt- und Raketentechnik". "Was das wohl Eintritt kostet" überlegen wir und taxieren 5.- DM als obere Schmerzgrenze. Der Schmerz bleibt uns nicht erspart: es kostet DM 6.- pro Nase. Meine üblichen Sprüche von wegen "eher was dazukriegen um diese Jahreszeit" stoßen auf keinerlei Humor.
Dafür kann man gleich links hinter dem Eingang eine Dokumentation der hiesigen Strohdachdeckerkunst bewundern. Was das mit Raketentechnik zu tun hat, kriegen wir nicht ganz raus, vielleicht wegen der herabfallenden Feuerbällchen - daß dadurch die Dachdecker mehr zu tun kriegten ...?
Dann stehen ein paar Raketen, Hubschrauber und Jagdflugzeuge im Gelände herum, die man staunend umrundet. Man landet in der Ausstellungshalle, dem ehemaligen Luftschutzbunker mit 2 m dicken Wänden und Geschoßdecken. In der Halle hat man Dokumente, Fotos, Waffen und allerlei Gerätschaften aus der Peenemünder Zeit zusammen getragen.
Zwei weitere Besucher haben den Aufsicht führenden Pensionär mit schmuck gestutztem Graubärtchen in ein interessantes Gespräch verwickelt. Früher sei der Strand ja immer schmaler geworden, nun komme er ihnen viel breiter vor, wundern sich die Besucher. Ja das sei wegen der Sturmflut. Da müßten nun die Politiker ran, und Geld bewilligen. Aber was sei schon mit den Politikern los? "Wie man da die Affen in Kenia abschlachtet - und da schaut auch alle Welt zu!"
Wir widmen uns noch ein wenig den Forschungsbemühungen um weitreichende Waffen, aus denen dann die Wiege der Weltraumfahrt wurde. Dann werden wir darauf aufmerksam gemacht, daß zur vollen Stunde eine Video-Vorführung stattfindet. Bis dahin sind es noch 15 Minuten, die reichen gerade, vorbei am ehemaligen Ungetüm von Kraftwerk bis an die Peene und einem Museumsschiff zu wandern. Dann ist man ausreichend ausgekühlt und nimmt mit drei anderen Interessierten im Videoraum Platz.
Im ersten Videofilm wird nun alles genau auseinander klamüsert, wie es zu dieser Raketenentwicklung gekommen ist, aber auch wie sie wieder zum Erliegen kam, nämlich durch einen vernichtenden Bombenangriff der Engländer. Dann ist man in den Ostharz nach Nordhausen umgezogen, davon haben wir ja schon gelegentlich gehört.
Der zweite Videofilm wiederholt Passagen des ersten und zeigt die weiteren Erfolge der Weltraumforschung, deren Zeitzeuge nun genau unsere Generation ist. Deshalb müssen sie hier nicht wiederholt werden.
Wieder draußen machen wir noch einen Schritt zur nahen Gedächtniskapelle, die aber verschlossen ist. Ein Gedenkspruch lautet: "Die Wiege zum Weltraum wurde den Opfern zum Grab". Da meldet sich dann doch der Widerspruch, das mit dem Weltraum hatte man derzeit so sicher noch nicht geplant, sondern die Entwicklung von Langstreckenwaffen, die ihrerseits dann auch nicht schlecht für Opfer gesorgt haben.
Zu Hause sind wir einigermaßen müde, nachdem wir den leckeren Hering verzehrt haben, kommen Anke und Achim zum Kaffee und wir um unseren Mittagsschlaf. Das mit Ankes Arbeit geht nun doch noch einen Tag weiter, danach wohl auch noch einen Tag, am Montag nächster Woche solle man auch nochmal kommen... Aber wie es wirklich weitergeht, das weiß keiner.
Die Wetterregel bestätigt sich: jeder Tag ist grauer als der vorige. Heute fahren wir nach Ückeritz an den Strand, die Inspektion soll Ajax übernehmen. Direkt am Parkplatz beginnt der große Campingplatz, der früher mal der größte der DDR war. Ein paar Geräteschuppen der Fischer sind zerschlagen von dem Unwetter. Schön aber hat es das Aussichtsrestaurant "Kiek Ut" erwischt: die seeseitige Cafeterrasse ist freischwebend und daher sicher etwas fußkalt.
Richtung Bansin ist das Ufer ab hier flach, entsprechend weniger ist da durch das Hochwasser auch Schaden angerichtet worden. Wir wandern ein ziemliches Stück, bestimmt mehr als zwei Kilometer vom Parkplatz weg. Am Umkehrpunkt werfen wir noch einen Blick über die Düne zum Campingplatz und pfeifen nach dem Hund, der sich momentan nicht zeigt.
Die Situation ist so, daß hinter dem schmalen Streifen Campinggelände ein Fahrweg verläuft, dahinter liegt ein Deich und dann dehnt sich endlos der Wald aus mit vielen leckeren Hasen, Rehen und Wildschweinen. Und wir kennen ja unseren Ajax, wenn der mal eine Spur findet, verliert er die Besinnung. Da kann man noch so angestrengt in das Waldgewirr spähen oder brüllen, das hat gar keinen Zweck, da einen Hund darin zu suchen.
Nachdem wir so eine halbe Stude herumgepfiffen haben, machen wir uns ratlos an den Rückweg. Wir haben uns bei einem Spaziergang wohl noch nie im Leben so oft nach hinten umgedreht. Die weiteren Maßahmen werden diskutiert, Polizei, Tierheim, eine Zeitungsanzeige usw. Ich werde erstmal das Fahrrad holen und dann die Gegend gründlich abfahren. Daß der Hund inzwischen zum Auto zurückgefunden hat, ist auch unwahrscheinlich, dann hätte er sich über zwei Kilometer in unbekanntem Gelände orientieren müssen.
So erreichen wir wieder den Parkplatz und ein erster Blick zum Auto: kein Hund in Sicht. Doch was schleicht da Schwarzes von rechts heran, zerknirscht und schuldbewußt? Aus pädagogischen Gründen müssen wir natürlich erstmal alleroberste Strenge walten lassen, können aber nur schwer abschätzen, wessen Erleichterung nun größer ist. Daß er zum Auto zurück gelaufen ist, stellt dem Hund immerhin das Zeugnis einer gewissen Intelligenz aus. Ich versuche das mit der Erklärung abzuschwächen, daß hier am Parkplatz auch eine Würstchenbude steht, die den Hund vielleicht über eine größere Entfernung anlocken konnte. (Wenn ich ein Hund wäre und nicht wüßte, in welche Richtung ich laufen sollte, würde ich jedenfalls im Zweifelsfalle der Witterung einer Würstchenbude folgen...).
So können wir den Tag wenigstens normal fortsetzen, und das besteht in einer nachmittäglichen Wanderung zum Höft am Achterwasser. Wir kommen sogar in den Genuß einer blassen Sonne, die ich hinter Baumwipfeln fotografiere, weil das so ein seltener Anblick ist. Wir begeben uns auch auf das Eis des Achterwassers, aber nur ein kurzes Stück, eine Woche Tauwetter macht einen doch etwas argwöhnisch. Die Reifenspuren der Autos, die hier gefahren sind, sind noch gut zu erkennen.
Der Weg zum Höft, das ist hier die letzte Landspitze, ist etwas eisig oder matschig oder beides aber sonst sehr schön. Wenn man eine klare Sicht hat, dann ist das sicher noch viel schöner. Unser Ajax hat den Schock vom Vormittag bereits total verarbeitet, er nutzt seine Freiheit mehr denn je und läßt uns bei jedem Gebüsch und Wäldchen gehörig warten.
So, das war der letzte Spaziergang, denn morgen wollen wir wieder nach Hause fahren, leider hat uns das Wetter in dieser Woche nicht verwöhnt. So ist Radtour und Schlittschuhlaufen ins Wasser gefallen. Trotzdem war es erholsam, wahrscheinlich weil man einfach einmal nur nicht zu Hause war.
Zum Abschied hat uns Anke zum Zander eingeladen, was wir als begeisterte Fischesser als ganz was besonderes honorieren. Die Flasche Wein, die wir mitgebracht haben reicht natürlich nicht für den ganzen Abschiedsabend.
Auch der Freitag bietet den gleichen Dunst wie die anderen Tage. Aber heute Morgen hängen die Brötchen schon an meinem Fahrrad, da hat einer Heinzelmann gespielt. Anke hat heute frei (weil die Firma bankrott ist), aber am Montag soll es wieder weiter gehen... Jedenfalls können wir nochmal alle zusammen frühstücken, und dann machen wir uns auf die Socken.
Die Mittagsrast machen wir in der Reuterstadt Stavenhagen, wo der Meister des Mecklenburger Platt geboren wurde. Wie es sich gehört, steht das Geburtshaus gleich neben dem Rathaus am Marktplatz, ein Denkmal des Dichters davor. Das hat sicher zu Reuters Geburtsstunde da noch nicht gestanden. Das Haus selbst bedarf auch gerade einiger Hilfsstützen, um nicht des Balkons oder einiger Fenstergesimse verlustig zu gehen.
Wir verziehen uns in eine Imbißstube und lassen den Hund im Auto. Als wir wieder zurückkommen, ist dieser verschwunden. Heidi ist schon wieder ganz aufgeregt, vielleicht gibt es Hundefänger, die einen Hund sogar aus dem Auto heraus klauen? Als ich die Tür aufmache, krabbelt da etwas unter dem Fahrrad hervor, über das ich zum Schutz vor dem Dreck noch eine Decke gelegt habe. Wahrscheinlich hat es draußen geknallt oder sowas, jedenfalls hat da einer Schiß gehabt.
Am Spätachmittag erreichen wir endlich Malchow, unser Ferienziel der Fahraddtour 1993. Aber zu einem Besuch der Familie Müller gleich um die Ecke reicht die Energie nicht, so eine Fahrt über die Dörfer schlaucht einen doch ganz schön. Ohne lange zu überlegen fahre ich wieder auf die Autobahn und zurück an Berlin vorbei, auch wenn es ein Umweg ist.
Als ich - wieder zu Hause - am späteren Abend die ersten Absätze dieses Berichts eingetippt habe, stürzt mir der Computer ab mit Glanz und Gloria: Festplatte hinüber, wenn man weiß, was das heißt, - die ganze Erholung ist für die Katz. Aber man muß ja was zum Erzählen haben, sonst würde es einem zu langweilig...