Radtour Cuxhaven - Leer, Sommer 1984
Paris - Leer, September 1985

Vorbemerkung (1994)

Die im folgenden beschriebenen zwei Radtouren bilden den Auftakt für eine Serie weiterer Touren in den folgenden Jahren. Sonderbarerweise bestand nicht nur bei uns in den siebziger und frühen achtziger Jahren keinerlei Interesse an Radreisen. Natürlich auch wegen der noch etwas kleinen Kinder (10 Jahre abwärts) machten wir stattdessen Reisen in die Lüneburger Heide, an die Ostsee, in den Bayrischen Wald, oder - wie im folgenden zu lesen - nach Cuxhaven.

Später erst habe ich mir angewöhnt, die Reisen per Tagebuch und Reisebericht zu dokumentieren. Die folgenden Berichte sind daher im Nachhinein verfaßt worden und enthalten natürlich weniger Details. Der Vollständigkeit halber gehören sie aber dazu - gerade diese als Neubeginn einer Art zu reisen, die vom Erlebniswert kaum zu überbieten ist.

Die Grundüberlegung bestand darin, einzelne Radtouren in der Zukunft miteinander zu verknüpfen, sodaß man mit der Zeit ein Streckennetz zusammenbekommt, das einen guten Teil von Europa durchmißt. Inzwischen haben wir durchgehende Strecken vorzuweisen wie Pyrennäen - Danzig oder Paris - Plattensee, das ist doch schon was.

Cuxhaven - Leer, Sommer 1984

Im Sommer 1984 haben wir unseren Sommerurlaub mit der ganzen Familie zum wiederholten Male in Cuxhaven verlebt. Bei aller Freundschaft zu Sonne, Sand und See, Wellen, Wind und Watt, ewig hält man das in einem Strandkorb dann doch nicht aus.

Nach Abklappern der näheren Umgebung, als da sind Otterndorf, Sahlenburg oder Wernerwald mangelt es schon bald an Zielen für weitere Touren, außerdem wäre eine längere Ausfahrt auch mal ganz schön.

Nach einigem Hin und Her läßt sich auf familiärer Basis eine Einigung herbeiführen, es wird auf ein paar Tage grünes Licht für eine Radtour gegeben. Endlich stehe ich vor der Ferienwohnung von Frau Paarmann mit bepacktem Rad. Der Nachbar fragt, wo es hingehen soll. "Nach Holland" wird geantwortet. "Heute noch?" "Mal sehen" - und anerkennender Respekt ist einem gewiß.

Das bepackte Rad ist ein Kettler-Alu-Rad mit Mixte Rahmen. Diese Räder sind derzeit wegen ihres leichten Gewichts sehr in Mode. Was die Stabilität angeht, sind sie eine Katastrophe, besonders mit Gepäck schlingert die ganze Chose bedenklich. Wenn man behutsam mit dem Lenker umgeht, gelingt es einem mitunter, geradeaus zu fahren.

Zu Hause habe ich inzwischen ein Sportrad von Motobecane (Concorde) im Stall stehen, das hat sogar einen Rennlenker. Aber das ist mir zum Radfahren noch zu schade. Und die Zeit des Hollandrades ist gerade vorbei...

So geht es nicht mit einem Holland- sodern einem Kettlerrad gen Holland. Aus Cuxhaven raus nach Sahlenburg, über die Deiche, dann ist bald Schluß mit einem fahrbaren Weg. Meine ganze Zeitplanung wird über den Haufen geworfen, indem ich endlose Strecken umkehren muß, zwischen Wiesen und Rindvieh herumirre, um dann doch nur wieder bei Sahlenburg rauszukommen.

Also geht es nach Bremerhaven besser über die Landstraßen, das ist in dieser Gegend auch ganz hübsch. In Bremerhaven setzt man mit der Fähre über nach Butjadingen, das geht alles wie geschmiert. Vorbei an Nordenham, eine gräßliche Industriegegend. Immer nach Süden, den Jadebusen umrundend. In den zahlreichen Gräben blühen Blutweiderich und Igelkolben. Störche sehe ich nicht. An den Alleen und vor den Gehöften sieht man viele sterbende Bäume. Es wird behauptet, ein trockener Salzwind im Winter habe in diesem Jahr das Baumsterben herbeigeführt. Aber ob das nicht wieder nur Ausreden sind, um von den eigentlichen Umweltproblemen abzulenken?

Der Wind weht von Süden, deshalb halte ich mich bald westlich, sobald der Jadebusen das zuläßt. Ich werde Ostfriesland, das Land der Ostfriesenwitze, durchqueren. Das Land ist platt, große Sehenswürdigkeiten zeigen sich nicht. Vergeblich schaue ich aus nach einem malerischen Kanal mit einer Windmühle, dahinter vielleicht ein überlebensgroßes Glas Bier - "Wie das Land, so das Jever" (oder gab es diese Werbung 1984 noch gar nicht?).

In Wirklichkeit sause ich aber doch gerade mit Rückenwind an einem Kanal, dem Nordgeorgsfehnkanal, entlang. Der führt genau nach Norden, über Wiesmoor. Dieser Ort ist bekannt für seine gärtnerischen Aktivitäten. Links liegt ein Moor, wo Torf gestochen wird, es heißt laut Karte Hinrichsfehn.

Eigentlich will ich aber gar nicht nach Norden, auch nicht nach Wiesmoor, sondern nach Holland. Also besinne ich mich irgendwann und fahre - nun gegen den Wind - 5 km zurück, immer am Nordgeorgsfehnkaal längs, bis ich wieder auf eine Straße Richtung Westen gerate.

Der Rest des Nachmittags bis Leer wird abgeklotzt, nach über 130 km bin ich bei der Ankunft in Leer ziemlich am Ende meiner Kräfte. In der Fußgängerzone suche ich ein Hotel auf, wo man sich so langsam wieder regenerieren kann.

Sonst ist in Leer nichts los, wie der Name schon sagt. Ein paar Häusergiebel verraten einem, daß man sich in Ostfriesland befindet, ansonsten sieht die Fußgängerzone hier genauso aus wie in Lübbecke/Westfalen. Geschäfte wie Rossmann, Seifen-Platz oder Tengelmann beherrschen die Szene.

Leer - Wittmund

Also mit einem Tag von Cuxhaven nach Holland, das war dann doch nichts. Aber was soll ich auch in Holland, ich kundschafte lieber Ostfriesland aus. Dazu überquere ich nun aber die Ems und fahre an ihrem linken Ufer durch Orte, die alle mit ...um enden: Bingum, Jemgum, Midlum, Critzum, schließlich Pogum. Hier geht es nicht weiter, vor einem liegt der Dollart, über die Ems zurück gelangt man nur mit einer Fähre.

Diese legt gerade vom Ufer ab, als ich die Szene betrete. Nun kann ich zwei Stunden warten. Was macht man zwei Stunden lang in Pogum oder Ditzum hinterm Deich? Als erstes über den Deich gucken. Da liegt der Dollart, grau bis braun, links zieht sich die holländische Küste entlang. Dann gibt es eine malerische Brücke, die ist sogar in einem Bildband über norddeutsche Dörfer (Vorwort Walter Kempowski) abgebildet. Außerdem gibt es auch einen Einkaufsladen, das ist dann letztendlich noch das Interessanteste. Versehen mit Trinkbarem und der BILD-Zeitung mache ich es mir am Fuße des Deiches bequem.

Im Laufe der zwei Stunden erscheinen nach und nach weitere Personen auf der Bildfläche, die auch auf die Fähre warten. Gelegenheit für ein paar Schwätzchen, so geht die Zeit einigermaßen kurzweilig herum.

Am anderen Ufer der Ems ist man flugs in Emden. Die einzige deutsche Stadt aus einem Buchstaben: "EMM" sagt der Ostfriese! Wie immer auf Radtouren reizt eine großere Stadt wenig, am Hafen entlang und schon bin ich wieder draußen. Ein Stück kann ich hinter einem Opa im Windschatten herfahren, dann bin ich wieder auf dem platten Land. Die Dörfer sind vor allem bemerkenswert durch ihre Backsteinkirchen, die einen schon von weitem grüßen.

Schließlich umfahre ich die Leybucht, auf dem Deich geht es leider nicht, der gehört den Schafen. Und unten sieht man leider nichts von der Nordsee, nur die Sendemasten von Radio Norddeich ragen in den Himmel.

Wie ich so auf den Bahnhof Norddeich zurolle, läßt sich meine Stehgreifplanug wieder um eine bemerkenswerte Variante bereichern. Wie wär's mit einer Überfahrt nach Norderney, dem Sylt Ostfrieslands! Es ist noch früher Nachmittag, ein Schiff legt auch bald ab, der Fahrpreis von DM 18.- ist bezahlbar. Schon befinde ich mich auf einer Seereise. Auf einer Sandbank lagern ein paar Seehunde, am Horizont tauchen die Wolkenkratzer der Strandhotels von Norderney auf.

Kaum angekommen werde ich schadenfroher Zeuge eines Vorgangs, daß zwei Autos nicht über eine Kreuzung kommen, ohne sich zu berühren. "Gut geteimt", denkt man so bei sich, meint aber nicht die beiden Kontrahenten auf der Kreuzung. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuß. In der Kurverwaltung lachen sie einen aus, wenn man nach Quartier fragt. Alles ausgebucht! So ab DM 200.- pro Nacht, da ließe sich vielleicht noch was machen. Mir bleibt die Spucke weg. Nun sehe ich Norderney mit ganz anderen Augen, alles aufgemotzt und nur auf Geldschneiderei aus.

Schon bin ich wieder am Hafen, das nächste Schiff bringt mich wieder an Land zurück. "Auf Wiedersehen in Norderney..." tönt der Lautsprecher, ich knirsche nur mit den Zähnen.

Aber der Abend ist schön, es herrscht Windstille, man kann herrlich radfahren. Eigentlich ist nach 18 Uhr immer die schönste Tageszeit zum Radfahren, meistens verplempert man diese Zeit mit Quartiersuche. So an die 40 km fahre ich noch, dann komme ich bei Dämmerung nach Wittmund, wo ich in einem Gästehaus unterkomme. Der dortige Kellner kommt aus Oesterreich und erzählt mir wunders was über die Vorzüge der oesterreichischen Seen.

Wittmund - Cuxhaven

"Emden, Leer und Aurich, da geht der Mond so schaurig" - diesen Spruch muß ich noch loswerden, obwohl er hier gar nicht reinpaßt. Ich fahre nämlich über Jever, das durch das gleichnamige Bier (s.o.) einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzt. Auf meiner Rückfahrt muß ich nun wieder den Jadebusen umrunden. Leider wird der Genuß heute durch das Regenwetter entschieden getrübt. An einer Allee sind die Bäume von Umweltschützern durch Kreuze als Todeskandidaten markiert.

So kommt keine rechte Stimmung auf, durchnäßt erreiche ich die Fähre nach Bremerhaven. Daselbst lege ich mich erstmal trocken und merke jetzt erst, daß ich auch gründlich durchgefroren bin. Damit ist meine Unternehmugslust und der sportliche Ehrgeiz gestillt, ganz unzünftig setze ich mich in Bremerhaven in einen Zug und lasse mich auf die bequeme Art nach Cuxhaven zurückbringen.

Paris - Leer, September 1985

Der Grundstein für eine langfristig projektierte Europatour mit der Vorjahrestour von Cuxhaven nach Ostfriesland hin und zurück ist noch denkbar kurz, nicht einmal über eine Landesgrenze ist man hinausgelangt. Ein kurzer Blick in den Fahrplan, eine Woche Urlaub eingeschoben - schon steht die Route fest, es soll von Paris aus an die Kanalküste und dann an dieser entlang durch Belgien und Holland bis nach Ostfriesland zum Anschluß an die letzte Tour gehen. Die Fahrtrichtung lege ich deswegen so fest, weil der hierzulande vorherrschende Westwind eine nicht unwesentliche Reiseerleichterung bedeuten wird. Erstmal gibt es natürlich eine organisatorische Panne, denn mir als "Auslandsgreenhorn" ist noch nicht bekannt, daß man das Fahrrad nicht per Selbsttransport mitführen kann, sondern rechtzeitig als Gepäckstück aufzugeben hat. So stehe ich einen halben Tag vor der Abfahrt einigermaßen ratlos am Gepäckschalter und verhandle mit dem Schalterbeamten, der mir immerhin verspricht, daß das Rad mit dem gleichen Zug mitgeht. Nur der Zug nach Paris geht ab Hannover, es kann nicht garantiert werden, daß das Rad dort prompt umgeladen wird.

So ist für Spannung gesorgt. Ich verlebe noch einen ganz normalen Arbeitstag, Verena holt mich ab und bringt mich zum Bahnhof. Um 19 Uhr steige ich in den Zug nach Hannover und dort in den Parisexpreß, in dem ich einen Liegeplatz reserviert habe. Der Schaffner des Liegewagens ist bereits ein Franzose, er nimmt die Papiere für die Grenzformalitäten entgegen. Anschließend ziehe ich mich in ein leerstehendes Abteil im Nachbarwaggon zurück und vertausche bei ein paar Dosen Bier die anfänglichen Aufregungen mit der nötigen Bettschwere. Gegen 23 Uhr suche ich mein Schlafgemach auf, wir sind wohl mittlerweile irgendwo hinter Bielefeld oder schon im Ruhrgebiet.

Freitag: Paris - Dieppe

Der Zug soll gegen 7 Uhr morgens in Paris einlaufen, rechtzeitig wache ich auf, es ist noch dunkel. Gespannt schaue ich aus dem Fenster, wo wir wohl inzwischen sind. Der Name der Station, die ich mühsam entziffere, ist mir entfallen, aber ist wohl schon ein Vorort von Paris. Der Schaffner bringt auch bereits die Papiere zurück, wenig später laufen wir dann in den Gare du Nord ein. Hier ist ein Trubel, Menschen aller Nationalitäten und Hautfarbe drängen sich auf den Bahnsteigen. Ich raffe mein weniges Gepäck zusammen und versuche auf den zahlreich vorbeirollenden Gepäckkarren mein Fahrrad zu entdecken. Natürlich zeigt es sich nicht. Bevor ich mich zur Gepäckabfertigung begebe, erstehe ich erstmal eine Ansichtskarte samt Briefmarke und berichte meine glückliche Ankunft nach Hause.

Meine Nullkenntnisse in Französisch sind nun das Problem. Schließlich finde ich die Gepäckabfertigung in einem Seitenflügel des Bahnhofs. Ich lege den Gepäckschein vor und murmele sowas wie byciclet oder velo, jedenfalls macht sich der Gepäckexperte auf die Suche. Und da hängt mein Rad tatsächlich an einem Karren und ich nehme es aufatmend in Empfang. Noch recht zittrig montiere ich mein Gepäck und schiebe dann hinaus. Jetzt kann es losgehen, das berühmte Freiheitsgefühl zu Beginn einer jeden Reise setzt ein. Vor dem Bahnhof liegen eine Menge Individuen mit mehr oder weniger ähnlichem Freiheitsbedürfnis in den Ecken oder auf U-Bahnschächten in Schlafsäcken und tiefem Schlaf. Eine armselige Kreatur liegt in abgetragenen bis zerlumpten Klamotten auf dem Pflaster, eine Sandale ist gerissen und das Bein hinaufgerutscht. Das ist noch nicht das, was ein naturliebender Radfahrer sucht, ich will so schnell es geht, aus Paris hinaus Richtung Norden.

Nun rächt sich ein weiteres Versäumnis in der Planung: ich habe nur eine Hallwag-Straßenkarte, M 1:1.000.000 dabei, und die ist über 15 Jahre alt. Damit kann ich in Paris wenig anfangen, aber es gibt Übersichtstafeln an den Metrostationen, an denen orientiere ich mich. Mitten im aufkommenden Frühverkehr halte ich mich Richtung Norden. Ich erwarte, bald den Rand der Stadt zu erreichen, verfange mich aber immer wieder in dem Gewirr von Schnellstraßen und mehrspurigen Zubringertrassen. Einmal gelange ich an einen Fluß, ist es die vielbesungene Seine? Bei aufgehender Sonne mache ich ein Foto von dem idyllischen Panorama und versuche, auf dem Bürgersteig der Uferpromenade weiteren Raum gen Norden zu gewinnen.

ST. Denis an der Seine

Bald befinde ich mich aber wieder in gräßlichen Vorstadtlandschaften mit Supermärkten, Tankstellen und Wohnfabriken, alles nur auf den Autoverkehr zugeschnitten. Schließlich geht es über die Oisebrücke in den Ort Pontoise. Der macht einen historischen Eindruck, aber ich bleibe lieber auf der Straße Richtung Rouen/Le Havre. Das ist natürlich eine Umgehungsstraße, die in weitem Bogen um den Ort herumführt.

Entnervt versuche ich mich an einer Nebenstraße und gerate in ein riesiges Neubaugebiet, wo die meisten Straßen in irgendeinem Acker enden. Viele Baustellen machen einen merkwürdigen Eindruck, sie sind architektonisch aufwendig und großzügig geplant. Irgendwann komme ich an ein Hinweisschild in einen Ort, den ich auf meiner antiken Karte nicht finden kann. Nach ein paar hundert Metern erscheint mir die Richtung auch eher südlich, aber ich will ja nicht ans Mittelmeer. Also zurück und in die andere Richtung. Endlich sehe ich vor mir vorbeirasende Autos aufblitzen und erreiche wieder die Fernstraße nach Rouen. Da ist auch eine Tankstelle, ich kaufe mir etwas Trinkbares und gerate zum Glück an einen Angestellten, der etwas Englisch kann. So erfahre ich, daß ich zuvor durch ein großes Freizeitprojekt geradelt bin, das so a la Disneyland den gestreßten Menschen in den Randzonen des auswuchernden Paris Erholung bieten soll.

Ich habe auch so allmählich Erholung nötig, nach dem Verkehr und der nicht enden wollenden Großstadt. Wohl über 50 km bin ich schon unterwegs, es geht schon auf den Mittag zu. Ich befinde mich immer noch hinter Pontoise, kann aber meine Position auf der Karte erkennen. Immerhin sehe ich nun auch weite Felder um mich herum und bald kann ich in Höhe von Vigny von der Fernstraße rechts Richtung Marines abbiegen. Den Namen Marines verbinde ich mit einer militärischen Einrichtung, gerate aber in einen idyllischen Ort, der so aussieht, wie ich mir französische Kleinstädte vorstelle. Das Straßenbild und die dazugehörigen Häuser haben nichts gemein mit der deutschen Gründlichkeit bei uns. Irgendwo entdecke ich hinter einer Einfahrt eine in den Fels gehauene Art Garage, das ist doch schon recht interessant. Gleich hinter Marines liegt auch in einem baumbestandenen Park und hinter einer hohen Mauer ein idyllisches Schloß. Hier lege ich eine Rast ein und genieße die merklich besser werdende Stimmung.

Französischer Friedhof
Katakomben

Nun geht es "auf Strecke", bis an die Küste liegt noch ein ordentliches Stück Weg vor mir. Ich erreiche Gisors, dann Gournay, jedesmal beeindruckt von dem Stadtbild, einer Kathedrale oder einer historischen Brücke. Ich befinde mich schon in der Normandie, gelegentlich erinnern Gedenkstätten oder Museen an die unrühmliche Vergangenheit im letzten Krieg. Auf dem Rad hat man Gelegenheit darüber nachzuspinnen, unter welch ganz anderen Bedingungen ich mich heute durch diese Landschaft bewege. Vor gerade gut 40 Jahren haben meine Landsleute hier noch etwas andere Ziele verfolgt.

Kirche in Gisors
Alte Brücke

In Forges-les-Eaux entdecke ich auf der Karte eine Abzweigung nach Gaillefontaine, die gibt es auch in Wirklichkeit. Hier geht es auf einer für den Radfahrer idealen Straße entlang dem Fluß Arques über Neuchatel Richtung Dieppe. Es ist landschaftlich ein Genuß, von der Landwirtschaft geprägte kleine Ortschaften werden passiert. Bei meinen mangelnden Sprachkenntnissen scheue ich doch davor zurück, hier ein privates Nachtquartier zu suchen, und fahre lieber bis Dieppe durch. Immerhin geht es am Schluß schön steil hinunter und ich bin schnell am Hafen dieser Stadt. Man sieht das Meer und steil aufragende Klippen, wie man sie von den Invasionsfilmen her kennt. Die Brücke am Hafen kann ich gerade nicht passieren, sie ist hochgeklappt, um ein Schiff hindurchzulassen. Dort treffe ich zwei deutsche Radfahrer, die vor etlichen Tagen in Deutschland Richtung Westen aufgebrochen sind. Sie sind ganz entnervt von dem ständigen Gegenwind. Da bin ich besser dran.

Nun muß ich mich nach einem Nachtquartier umsehen und irre erstmal in den verwinkelten Straßen herum. An einem verwahrlosten Haus sehe ich ein Schild "Chambre", das verstehe ich immerhin (...Komm mit mir in's chambre separet...). Ich versuche, dort jemand herauszuklingeln oder zu -klopfen, dann aber erscheint - sie möge es mir verzeihen - so eine alte Schlampe, schickt mich aber angesichts des Fahrrads - zu meinem Glück sicherlich - weiter. Nun muß ich auch nicht im Elend hausen, so suche ich ein formidables Hotel auf, dort spricht man Englisch, und beziehe angesichts der vollbrachten Tagesleistung ein schönes Zimmer. Das Fahrrad wird in einem Nebenraum verstaut, nach der üblichen Auffrischung gehe ich abends auf einen Rundgang, esse in einem preiswerten Imbißrestaurant im Freien und schaue mir den Ort an. Bald machen mich laufende Menschen und Feuerwehrsirenen neugierig und ich komme am Hafen noch in den "Genuß" eines Großbrandes einer Lagerhalle. Ein paar schwarze Punkte auf meiner Plastikjacke sind ein Andenken an dieses Ereignis.

Sonnabend: Dieppe - Boulogne

Obwohl ich herrlich schlafe, höre ich irgendwann in der Nacht am Rauschen auf den Dächern, daß der kommende Tag nicht so vielversprechend zu werden beginnt. Beim Frühstück regnet es immer noch in Strömen, aber ich muß mein Zimmer räumen und montiere trotz des anhaltenden Regens das Gepäck. An Losfahren ist jedoch nicht zu denken, das Rad bleibt im Hotel und ich gehe noch in den Ort. Dort ist heute in allen Straßen großer Markt, Blumen, Obst, Gemüse und vor allem "Früchte des Meeres" wie Muscheln, Fische, Krebse usw. Danach gehe ich nochmal ans Meer, doch dann heißt es doch aufbrechen, der Regen läßt immerhin etwas nach. Obwohl die Straße enlang der Küste verläuft, ist sie recht bergig, man muß bei jeder Mündung eines Flusses auf Meereshöhe hinunter, danach geht es wieder hinauf auf die Höhe der Steilküste. Von dieser bekommt man oben nichts zu sehen, dazubedarf es eines Abstechers nach links in einen der Küstenorte. Ich will aber erstmal vorankommen und verkneife mir das. Leider ist die Straße sehr verkehrsreich, man wird nicht nur von oben sondern auch seitlich von den vorbeirauschenden Autos und Lastwagen naß. Hinter Criel-sur-Mer geht es wieder über lange Serpentinen hinauf, die muß ich in einem schweren Wolkenbruch bewältigen. Danach hört der Regen endlich auf, und ich rolle nach Le Treport und Mers-les-Bains hinunter.

Hafen in Le Treport
Balkonkunst

Hier kaufe ich mir Pfirsiche, dann bewundere ich die romantische Ansicht des Hafens von einer Brücke aus. Auch der Ort ist sehenswert, die Häuser sind sehr malerisch. Zunächst auf einer Nebenstrecke geht es weiter, bis ich bei Lamotte wieder auf die Hauptstraße treffe. Gegen Mittag erreiche ich Saint-Valery an der Somme-Mündung.

Das ist ein historischer Ort, oben liegt eine mittelalterliche Befestigungsanlage, dort mache ich Mittagsrast. Einige "Schulbrote" und gekochte Eier von zu Hause muß ich opfern, die sind naß geworden oder machen einen zweifelhaften Eindruck. Ich bin ein wenig verfroren und erlebe plötzlich ein Stimmungstief. Ein paar Dextro und Bifis helfen mir so halbwegs auf die Beine, doch lustlos fahre ich weiter. Es geht über den Somme-Kanal und man muß die ausgedehnte Bucht der Somme-Mündung umrunden. Mit Schrecken sehe ich hinter mir im Westen eine rabenschwarze Wand aufziehen, ich befinde mich auf freier Strecke und sehe gar keine Unterstellmöglichkeit. Da bricht es auch schon los, kaum kann ich meine noch nassen Regenutensilien überstreifen. Geduckt geht es weiter, die Regentropfen bilden richtige Einschläge auf der geschlossenen zentimeterhohen Wasserfläche auf der Straße. Dieser Guß dauert zum Glück nicht allzulange aber da kommt das nächste Malheur, am Hinterreifen schlägt es durch, dann fahre ich auf der Felge. Also eine Panne! Auf einer matschigen Feldwegeinfahrt mache ich mich an die Reparatur. Pfützen gibt es genug, da läßt sich wenigstens das Loch im Schlauch erblubbern. Trotz der klammen Finger gelingt die Reparatur und ich fahre auf der noch nassen Straße weiter Richtung le Crotoy, das man - nun in dem vorigen Unwetter - voraus am Horizont liegen sieht. Bei der Reparatur war ich wohl etwas nachlässig, das Hinterrad hat einen Schlag, da die Reifendecke um das Ventil herum nicht sorgfältig genug eingepaßt wurde. Nochmal anhalten, Luft ablassen, Reifen ausrichten und wieder aufpumpen.

Leider komme ich danach wieder nur ein paar hundert Meter weit, da habe ich schon wieder einen Platten. Jetzt bin ich aber gleich dem Heulen nahe! Da ist ein Bach mit einer Brücke, hier geht es an die zweite Reparatur. Diesmal bin ich immerhin so schlau, auch den Reifenmantel zu kontrollieren und finde ein durchpiekendes Stückchen Split. Danach kann ich ohne weitere Behelligung weiterfahren. Immerhin habe ich das Bewußtsein, auch unter schwierigen Bedingungen eine Panne beheben zu können - wenn man es denn schon braucht. Noch vor le Crotoy geht es rechts ab Richtung Rue.

Trotz oder wegen der überstandenen Unannehmlichkeiten bessert sich die Stimmung und es geht flott voran. Man ist hier ein Stück von der Küste entfernt im Hinterland. Nach Rue geht es vorbei an Quend, eine Zeitlang fahre ich mit gleichem Tempo hinter einem bedreßten Möchtegern-Rennfahrer her. Der ist allerdings nicht ganz jung, trotzdem schaut er sich häufiger irritiert um. Dann trennen sich unsere Wege irgendwann. Schon am Spätnachmittag gelange ich nach Etaples, einem größeren Ort. Da es mir für heute reicht, möchte ich hier ein Quartier suchen. Das gelingt nicht, selbst am Bahnhof in einem wenig vertrauenerweckenden Etablissement versichern mir ebensolche Gestalten sowas wie "occupee", was ich dankend quittiere. Es geht ja auch ans Wochenende, vielleicht ist deswegen alles besetzt. Da muß ich schließlich mit gemischten Gefühlen weiterfahren. Bis Boulogne, das sind knapp 30 km, wird wohl keine weitere Übernachtungsmöglichkeit existieren. So ist es auch, mechanisch fahre ich vor mich hin, bis ich den Ortsrand von Boulogne erreiche.

Von rechts oben mündet eine steile Straße. Ich denke noch so über die Gefährlichkeit dieser Kreuzung nach, da höre ich hinter mir Reifen quietschen und ein gräßliches kratschendes Geräusch und sehe im Umdrehen einen Motorradfahrer vor einem Auto liegen. Helfen kann ich nicht und neugierig bin ich noch weniger. Ich werde nie erfahren, welche Folgen dieser Unfall gehabt hat.

In Boulogne gibt es viele Hotels - alle sind besetzt und man versichert mir, daß man kaum Quartier bekommen würde. Das liegt daran, daß in England die Schulferien zuende gehen. Infolgedessen sind alle Kontinentfahrer von der Insel geschlossen hier eingefallen, um am nächsten Tag mit der Fähre überzusetzen. Das ist hart, einigermaßen hoffnungslos fahre ich einfach weiter und stelle mir so eine Übernachtung im Freien vor. Dabei ist es sehr stürmisch, hoch schlagen die Brecher an die Mole im Hafen.

Bei einbrechender Dunkelheit erreiche ich Wimmereux, den nächsten Ort. Auch hier gibt es Hotels, also versuche ich nochmal mein Glück. Eine Pension mit verdächtig schummrig beleuchtetem Gastraum liegt rechterhand, trotzdem frage ich dort. Eine üppige Dame, die auf die Art dieser Herberge schließen läßt, spricht englisch und bedauert, mich nicht aufnehmen zu können. Ich bin überrascht, wie freundlich sie sich aber um mein Problem kümmert, denn sie ruft in einem Hotell schräg gegenüber für mich an. Die Auskunft ist positiv und ich soll mich dort melden. Aufatmend schiebe ich hinüber und finde mich dort an der Rezeption oder was man dafür zu halten hat, ein. Ein mittelaltes Frauenzimmer ist für die Zuteilung der Zimmer zuständig und komplementiert gerade gestikulierend und wortreich ein paar Leute aus Paris aus dem Hotel hinaus. Ich dagegen bekomme trotz meines sicher nicht geschniegelten Aussehens einen Zimmerschlüssel, selten war ich erleichterter. Auf dem Zimmer entdecke ich alle möglichen Defekte, die Tür läßt sich nicht schließen, das Waschbecken ist verstopft, auf der Leitung ist kein Druck, die Lampen sind bis auf eine defekt und was weiß ich noch alles. Das ist mir allerdings alles egal, eher finde ich das ungeheuer erheiternd, wie man mir nachfühlen wird.

Zum Abschluß finde ich auch noch ein nettes Lokal, wo ich mich stärken und bei einem Wein (oder war es Bier) still vor mich hinfeiern kann. In der Nacht wieder starke Regenfälle, wie wäre das wohl unter freiem Himmel ausgegangen?

Sonntag: Boulogne - Brügge

Trotz allem gibt es ein schönes Frühstück, geradezu sonntäglich. Wie nicht anders zu erwarten, sitze ich mit einer englischen Familie am Tisch, die erzählen mir dies und jenes. Unter anderem erfahre ich, daß Leute aus Paris hier zuweilen recht unbeliebt sind, so erklärt sich vielleicht der gestrige Rausschmiß. Ich freue mich heute auf die Strecke nach Calais und mache mich bald auf den Weg. Das Wetter ist heute prima. Die Strecke ist landschaftlich ein Höhepunkt, es geht zwar rauf und runter, dafür bläst der Wind aber meistens von hinten.

Weil Sonntag ist, sind viele Radfahrer unterwegs, meistens in sportlichem Dreß auf Rennrädern. Mit meinem "Salut" hoffe ich, der Landessprache gerecht zu grüßen. Auch ich höre manche aufmunternden Zurufe, deren Sinn trotz des fehlenden Verstehens wohl klar ist. Die Landschaft ist hier noch vielfach geprägt von der kriegerischen Vergangenheit, riesige Bunkeranlagen, zuweilen vernarbte Hänge an den Bergen, wo noch die Artillerieeinschläge erkennbar sind. Es gibt auch ein Museum über die Vorgänge des Weltkrieges in dieser Region, einem wichtigen - wie man fälschlicherweise meinte - dem wichtigsten Abschnitt des Atlantikwalls. Bald sehe ich voraus weiße Klippen aus dem Meer ragen, die kommen aber nicht näher, bis mir einfällt: "The white cliffs of Dover...". Es ist schon eigentümlich, in Sichtweite von England zu radeln.

Küstenlandschaft vor Calais
Küstenlandschaft vor Calais

So vergeht die Fahrt bis Calais wie im Fluge, zuletzt ist hinter Escalles mit dem Mt. d'Hubert noch ein richtiger Paß zu überwinden. In Calais ist heute ein großer Flohmarkt, mich zieht es aber weiter. In Gravelines mache ich Rast, hier sehen die Straßen aus wie die Kulissen eines Kriegsfilmes. Die letzte Stadt in Frankreich ist Dünkirchen, ein Name, den man auch aus dem Schulunterricht und anderswoher kennt.

Zwischen Sonne und Regen

Von hier sind es nur noch wenige km bis zur belgischen Grenze. Es geht in flachem Gelände immer an einem Kanal entlang. An der Grenze wird Geld gewechselt, und nun auf nach Belgien. Hier gibt es immerhin schon einen Radweg, das war in Frankreich nicht üblich. Der erste Ort hinter der Grenze heißt "De Panne", ein böses Omen - na warte. Unmittelbar an der Küste, mittlerweile der Nordsee, geht es durch einen Badeort nach dem anderen. Es ist alles eng bebaut, hier hat der Tourismus gründlich seinen Einzug gehalten. Ich wollte in Oostende Quartier nehmen, das sagt mir aber gar nicht zu. Das ist schon wieder zu großstädtisch und zugebaut. Ich beschließe, Richtung Brügge weiterzufahren, einer Stadt, deren Reize ich von einer früheren Reise in Erinnerung habe.

Vorher rächt sich das aber - die Panne ereilt mich nun bei der Stadtausfahrt von Oostede. Mangels Wasser kann der Defekt nicht geortet werden und der Schlauch wird ausgewechselt. In Zukunft will ich das immer so machen, das Flicken des defekten Schlauches kann man später an einem günstigeren Ort machen.

Es geht auf die letzten 30 km nach Brügge, dort treffe ich am frühen Abend ein. Doch wieder wird mir mulmig zumute, hier ist die ganze Innenstadt gesperrt, ein großes Festival scheint hier stattzufinden. Rudelweise laufen Japaner mit umgehängten Kameras herum. Jetzt gegen Abend des Sonntags scheint das Fest aber dem Ende zuzugehen. An dem schönen Marktplatz im Rathaus befindet sich das Verkehrsbüro, das hat heute ausnahmsweise geöffnet. Es wird mir ein Hotel vermittelt, das liegt gleich gegenüber und ich staune über den geringen Zimmerpreis. Noch mehr bin ich erfreut, daß ich bei dem Trubel hier überhaupt unterkomme. Wahrscheinlich sind viele Gäste gerade abgereist.

Meine abendliche Verpflegungsunternehmung findet in einem italienischen Lokal am Marktplatz statt, womöglich haben wir hier vor Jahren auf einer Tramptour von Paris auch schon gespeist. Ich schreibe an die Rolands eine Grußkarte, das verdirbt mir einen Teil des Abends, weil mir die Adresse nicht einfällt, aber schließlich ist sie da: "Ulmenweg". Einigermaßen zufrieden kann ich mein Zimmer aufsuchen, von dessen Fenster ich über die Dächer einen Teil des Rathauses sehen kann.

Montag: Brügge - Brielle

Noch vor dem Frühstück wird der kaputte Schlauch repariert. Bei trübem Wetter mache ich mich auf zur holländischen Grenze, die ist bald erreicht. Wieder Geld umtauschen, dann komme ich in den Ort Sluis, der macht schon einen typisch holländischen Eindruck. Durch die Fußgängerzone und Einbahnstraßen in umgekehrter Richtung darf man hier mit dem Fahrrad fahren: "Uitgesonderd Fietsers" heißt das dann am Verbotschild für andere Verkehrsteilnehmer. Mopeds heißen übrigens "bromfietsen" und Radweg "fietspad". Das kann man sich schon merken.

Nun folgt eine Strecke ohne viel Abwechslung, der Himmel zieht sich immer mehr zu, noch vor dem Regen erreiche ich die Fähre über die Westerschelde von Breskens nach Vlissingen. Kaum auf dem Schiff, fängt es an zu nieseln, aber zunächst sitze ich hier trocken. In Vlissingen aber wird abgeheuert, es geht hinaus in den stärker werdenden Regen. Es gibt einen ausgeschilderten Radweg Richtung Goes, die Ausschilderung ist für mich aber nicht gut genug, bald habe ich mich bei strömendem Regen rettungslos verfranzt. D.h. nicht gänzlich rettungslos, nach einigem Hin und Her gerate ich wieder auf die richtige Strecke. Es regnet die ganze Zeit in Strömen, und das ist ein Dauerregen. Einmal stelle ich mich eine Weile an einer Unterführung unter, aber da friert man bald mehr als auf dem Rad. Auch der Wind meint es heute nicht gut mit mir, ich fahre Richtung Norden, da bläst er mir zuweilen ganz schön entgegen. Endlich komme ich an Europas längste Brücke, wie es heißt, der "Zeelandbrug" über die Osterschelde. Sie ist mehrere km lang und führt in kühnem Bogen auf gewaltigen Stelzen über das Meer. Hier kann jedes Schiff unter der Brücke durchfahren. Auf der anderen Seite liegt Zierikzee, ein sehr malerischer Ort mit Kanälen, Zugbrücken, Windmühle und allem, was dazugehört. Endlich hat der Regen aufgehört und ich lege mich, so gut es geht, trocken.

Zieriksee
Auf der Zeelandbrücke

Auf der Insel Schouwen geht es weiter nach Norden, mit dem Wind von vorn. Die Landschaft hat wenig Reize zu bieten, alles flach, die Straße führt schnurgeradeaus. Dann hinter Scharendijke wird es wieder abwechslungsreicher, es geht über den Brouwersdam. Auch scheint endlich die Sonne und der Wind weht mehr von der Seite. Der ist hier so stark, daß er eine Menge Windsurfer, sogar aus dem Ruhrgebiet, anzieht, die in Campingbussen anreisen. Das sind wohl alles Profis, wenn sie bei diesen Bedingungen über die rauhen Fluten zischen und ein malerisches Bild abgeben. Ihnen verdanke ich sicher die eine oder andere Imbißbude, an der man sich stärken kann. In der Mitte des Dammes befindet sich eine Gezeitenschleuse, die im Rahmen der Maßnahmen des Delta-Planes zum Ausbau des Maass/Rhein-Deltas nach der großen Flut Anfang der 50er Jahre erbaut wurde. Wieder befindet man sich auf einer Insel zwischen den Armen der Rheinmündung. Vielleicht liegt es an der Sonne, alles wirkt freundlicher, Blumenfelder und Heugestelle erfreuen das Auge. Über Ouddorp erreicht man den Haringvlietdamm über den letzten großen Arm der Maassmündung. Der Damm wird eigentlich nur durch eine riesige Gezeitenschleuse gebildet.

Blumen und Heu
Kanal in Brielle

Der nächste größere Ort ist Brielle. Dort finde ich ein Hotel, das für meine Verhältnisse eigentlich eine Nummer zu vornehm ist, auf dem Parkplatz stehen dicke Autos, fast nur Mercedes. Für 110 Gulden nimmt man aber auch einen armen Radfahrer auf, der dringend seine Sachen zum Trocknen ausbreiten muß. Der Komfort ist seinen Preis wert, die Heizung verbreitet die angenehme Wärme, die ich heute sehr nötig habe, sogar ein Fernsehapparat steht für die abendliche Unterhaltung zur Verfügung. Vom Einnehmen des Abenddiners im gleichen Haus nehme ich angesichts der befrackten Kellner, mehr noch wegen der rechten Spalte der umfangreichen Speisekarte und nicht zuletzt wegen der Gesellschaft der Mercedesfahrer mit gewölbten Jackettaschen Abstand. Stattdessen lasse ich es mir in einer schräg gegenüberliegenden Imbißstube bei Pommes und Klops gut ergehen. Anschließend verfalle ich noch eine Weile dem holländischen Fernsehprogramm, neben einer Schlagersendung gelingt es mir bei einer urigen Wettkampfsendung mit allerlei ausgefallenen Schlammspielen die sprachlichen Probleme zu vergessen.

Dienstag: Brielle - Alkmaar

Bei endlich schöner Wetterlage starte ich am Morgen gut erholt. Einige Brücken und schließlich eine Fähre führen mich nach Maassluis. Hier ist Industriegebiet, man befindet sich nicht weit von Rotterdam. Dann geht es weiter nach Delft, die ersten Windmühlen werden staunend passiert, oft geht es auf schönem Weg entlang von Kanälen. Nach Delft hinein fahre ich mit einem freundlichen Radfahrer, der mir den Weg weist. Auf dem Marktplatz vor dem ehrwürdigen Rathaus tummeln sich allgegenwärtig allerlei Touristen, eine Menge Busse stehen herum. Überall sind Porzellangeschäfte, da läßt man das Fahrrad lieber draußen. In einem der Geschäfte erstehe ich für jeden der zu Hause harrenden eine Kachel mit einer Delfter Ansicht. Sorgsam verpackt habe ich sie tatsächlich unversehrt heimgeführt.

Rathaus in Delft

Von Delft geht es ein bißchen im Zickzack über Zoetermeer nach Leiden, einer geschichtsreichen Universitätsstadt. Mit einem Stück Gebäck in der Hand nehme ich ein wenig von der Atmosphäre dieser Stadt auf, dann geht es wieder weiter. Mir fehlt die Zeit und die Ortskenntnis, mir einen Weg durch die Dünen zu suchen, stattdessen fahre ich durch bekannte Orte wie Hillegom und Haarlem. Hier ist im Frühjahr was los, wenn die Tulpen blühen, jetzt im September ist es etwas weniger interessant. Ich fahre nur auf der Hauptstraße, da komme ich gut voran, sehe dafür weniger von der Landschaft. Schließlich biege ich doch mal links ab und gerate in einen Ort mit dem seltsamen Namen Castricum. Auch hier ist nicht der Nabel der Welt, so fahre ich weiter nach Alkmaar, einer Stadt, von der ich zuvor noch nichts wußte. Das ist gut so, denn umso überraschter bin ich über das Juwel, das sich hier auftut. Ein großes Volksfest findet gerade statt, wieder bange ich um mein Quartier. Es ist noch früh genug, sodaß ich im Verkehrsamt eine Privatadresse vermittelt bekomme. Das ist sehr preiswert, ganz herzlich werde ich bei Familie Leek in der Oudegracht aufgenommen. Endlich trifft man auf Menschen, die sich lebhaft für meine Tour interessieren und alles erdenkliche tun, um mir für den abendlichen Rundgang Tips zu geben. Das führt mich in ein Fischrestaurant, wo ich der Örtlichkeit gerecht speisen kann. Dann ein Rundgang durch die malerischen Straßen und Grachten, schließlich lande ich einer Art Bierbar, wo ich mangels sprachlicher Möglichkeiten mir etwas deplaziert vorkomme.

Alkmaar

Mittwoch: Alkmaar - Groningen 210 km

An diesem Tag steht mir die längste Etappe meines bisherigen und einstweilen zukünftigen Radlerlebens bevor, aber das weiß man am Morgen noch nicht. Bei herrlichem Wetter und Rückenwind geht es in Richtung Nordholland. An der Nordspitze wartet der Abschlußdeich des Ijsselmeers, von dessen Befahrung ich mir den Höhepunkt der Tour verspreche. Vor dem Vergnügen die Arbeit, ersteinmal am Nordholland - Kanal entlang und auf einsamen Nebenstrecken, natürlich immer topfeben, geht es knappe 50 km durch typisch holländische Landschaft.

Am Nordhollandkanal

Kurz vor der Küste liegt eine Siedlung namens "Anna Paulowna", das hört sich so nach russischen Emigranten an. In "Van Ewijcksluis" erreiche ich die Küste, hier ist schon ein kleiner Damm zu überfahren, der das Amstelmeer von der See trennt. Dann fährt man noch durch die beiden Orte "Hippolytushoeff" und "Den Oever". Es wird nochmal Proviant eingekauft, dann geht es an die Überquerung des Abschlußdeiches.

Aber Moment - da, wo der Deich beginnt, wird das Rad erstmal abgestellt, es wird tief durchgeatmet und der Blick nach Seemansart in die Ferne gerichtet. Da es recht diesig ist, kann man die andere Uferseite des Ijsselmeers, die knapp 30 km entfernt ist, natürlich nicht sehen. Ansonsten bietet sich ein herrliches Bild, die Sonne spiegelt sich in den Wellen, Seevogelgeschrei liegt in der Luft, ein paar Schiffe ziehen vor dem Horizont vorbei. Die Insel Texel kann man schon erkennen. Während ich mein Reisebrot verzehre, fahren schon eine ganze Menge anderer Radtourer vorbei, hier ist offensichtlich das Nadelöhr. Der Autoverkehr hält sich in Grenzen, mit keinem Autofahrer würde ich jetzt tauschen.

Der Abschlußdamm Ijsselmeer

Schließlich fahre ich los, der Rückenwind ist hier auf dem Damm so stark, daß man kaum zu treten braucht bzw. ein tolles Tempo fahren kann. Der Radweg liegt auf der Seeseite des Dammes, die Autofahrer müssen mit der anderen Seite vorliebnehmen. Als die Mitte des Damms erreicht ist, ist weder hinten noch vorne Land in Sicht. Irgendwann tauchen voraus die Konturen von Häusern und Bäumen auf, so nähert man sich wieder dem festen Land. Bei dem Tempo werden die 30 km in einer guten Stunde zurückgelegt. Eine wohlverdiente Rast bietet sich in dem malerischen Ort Harlingen an.

Für die nun folgende Strecke durch Westfriesland sollte man sich genügend Zeit nehmen und sich reizvolle Orte und Straßen möglichst in Küstennähe heraussuchen. Ich sehe dagen schon das Ziel der Ankunft mehr oder weniger vor Augen und habe keine Lust mehr auf irgendwelche Umwege. So geht es erstmal - weiter in sausender Fahrt - nach Leeuwarden. Auch das ist ein hübscher Ort, die Hauptgeschäftsstraße zieht sich an den beiden Seiten eines Kanals entlang. Ich kehre in einer Imbißbude ein, und denke über die Weiterfahrt nach, bis Groningen sind es noch gute 60 km, das ist noch zu schaffen. Ich habe bloß schon über 100 km an diesem Tag hinter mir. Die Rechnung aber geht auf, vor Einbruch der Dunkelheit müßte ich in Groningen sein.

Kanal bei Groningen

Erstmal aber gilt es, aus Leeuwarden herauszufinden. Das gelingt mir ganz und gar nicht, zu sehr fahre ich nach Gefühl und lande in irgend einem Industriegebiet. So eine halbe Stunde Zeitverlust muß ich wohl dafür anrechnen. Entlang der Hautptstraße fährt es sich danach einigermaßen angenehm, da ja alles mit vorzüglichen Radwegen ausgestattet ist. Sonst bietet die Landschaft wenig Abwechslung, Windmühlen und Kirchtürme der entfernt liegenden Dörfer ziehen vorbei. Man fährt durch grüne Wiesen und überquert viele Wasserläufe oder Kanäle. So geht es an diesem Spätnachmittag etwas stupide bis Groningen, das ich so gegen 19 Uhr erreiche.

Jetzt gibt es wieder einen gehörigen Schrecken. Auch hier ist der Bär los, neben einem riesigen Rummelplatz komme ich an einem Platz vorbei, der für die nationalen Rollschuhmeisterschaften abgesperrt ist. Gar nicht daran zu denken, hier um diese Zeit noch ein Hotelzimmer zu bekommen. Ein paar Mal stelle ich noch Erkundigungen an, merke aber, daß es keinen Zweck hat. Hinter Groningen ist der Hund verfroren, da kommt kaum ein größerer Ort. Ich will trotzdem weiterfahren, notfalls fahre ich die Nacht durch, sofern ich nicht vorher vom Rad falle, bin ich spätestens in den Morgenstunden in Deutschland.

Nun kann gebummelt werden, es ist sowieso alles egal. Groningen ist recht groß, es dauert eine Weile, bis der Stadtrand erreicht ist. Zum Auffrischen der Getränke finde ich noch ein Imbißrestaurant, wo ich auch nochmal nach Quartier frage. Einen km weiter, sagen die freundlichen Leute, sei ein "Weghaus" für Schiffer, Fernfahrer oder sonstwie Reisende, da sei sicher noch was zu bekommen. Das kann ich gar nicht glauben, und mache mich mit neuer Hoffnung auf den Weg. Eine neuerliche Panne kündigt sich außerdem an, noch kann ich mit der Luftpumpe gegenhalten.

Bald finde ich das Weghaus: Übernachtung kein Problem und billig ist es außerdem. Wenn ich noch essen möchte, möge ich das innerhalb der nächsten halben Stunde tun, danach mache die Küche zu. Also ab aufs Zimmer, geduscht und wieder runter. Selten hat mir das Essen nebst dem wohlverdienten Bier so gut geschmeckt. Danach bin ich bald fällig, erstmals habe ich die 200 Tageskillometer überschritten, und das spürt man.

Donnerstag: Groningen - Leer

Der Morgen beginnt mit dem Beheben der Panne, die mich am Vorabend zum Glück erst ganz zuletzt ereilt hat. Dann fahre ich gemächlich los, denn es liegt nur eine Halbtagestour vor mir. Um heute die Hauptstraße zu vermeiden, schlage ich hinter Hodgezand einen nördlichen Haken über Noordbroek, Midwolda und ähnliche weltbekannte Orte. Schließlich stehe ich vor einer Kanalbrücke, die wird gerade überholt, eine Umleitung mit 10 km Umweg steht selbstverständlich zum Ausweichen zur Verfügung. Da die Brücke aber einen halbwegs intakten Eindruck macht, nähere ich mich vorsichtig den dort beschäftigten Arbeitern. Die grinsen schon und versuchen mir klarzumachen, daß die Brücke ja gesperrt sei. Ich tue so, als ob ich genau merke, daß sie mich veräppeln wollen, zeige auf meinen Schlafsack und sage, daß ich dann die Fertigstellung der Arbeiten abwarten wolle. Dann wird aber in Aussicht gestellt, daß in einer viertel Stunde Frühstückspause sei, bis dahin müßte ich noch warten. So geschehen überquere ich nach Ablauf dieser Sperrfrist die Brücke und komme nach Beerta, Klein Ulsda und Nieuweschans, dem Grenzort.

Hier benutze ich einen ausgeschilderten Radweg und finde mich nach wenigen km plötzlich in Bunde an der B75 wieder, von der Grenze war nichts zu sehen gewesen. Jetzt tausche ich die letzten Gulden um und hebe Geld ab für die Rückfahrt mit der Bahn. Die letzten 15 km nach Leer sind dann endlos, die Luft ist raus und man sehnt nur noch das Ende herbei. An der Emsbrücke gilt es nochmal zu warten, bis ein Dickschiff passiert hat und die Brücke freigegeben wird. In Leer gibt es keine Probleme mit einer Verbindung nach Braunschweig, der nächste ist sogar ein durchgehender Zug. Abgeschlafft versinke ich in diesem und beende damit meine erste größere und teilweise aufregende Europaetappe.

Nachsatz:

Diesen Bericht habe ich im November 89, also mehr als 4 Jahre später, im Zuge der Aufarbeitung vergangener Unternehmungen ohne Verwendung von Tagebuch oder Notizen verfaßt. Das mag dokumentieren, welchen Erinnerungswert ein "Erlebnisurlaub" besitzt.