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Radtour durch Mecklenburg
28.6.-8.7.93

Planung

Eigentlich wollten wir in Südengland radfahren. Doch dann wurde mal wieder nichts daraus. Erst muß die Terrasse neu gefliest werden. Dann muß Verena mit ihren Mandeln ins Krankenhaus.

Dann gibt es da auf dem Trödelmarkt die billigen Bildbände aus alten DDR-Beständen. Einer ist dabei mit schönen Bildern aus Mecklenburg...

An England denken wir schon bald nicht mehr. Nach all dem Stress beschließen Heidi und ich, die kleinere Runde zu fahren, und das ist Mecklenburg.

So wird erstmal der Starttermin von Sonnabend auf Sonntag verschoben. Aber erst am Sonnabend ist die Terrasse fix und fertig, da verschieben wir nochmal auf Montag. Allerdings auch im Einklang mit dem Wetterbericht, der erst ab Dienstag schöneres Wetter verspricht.

Nachdem alles gepackt und die Räder beladen sind, sitze ich am Sonntagabend planend über den Karten. Das sind die neuen Radwanderkarten vom ADFC mit speziell gekennzeichneten Nebenstrecken für Radwanderer. Außerdem verfüge ich über den ADFC-Dachgeber, das ist ein Adressverzeichnis von Radfreunden zum kostenlosen Übernachten. Da findet sich eine interessante Adresse in der Nähe von Rathenow, eine Familie B. in Wassersuppe am Hohenauer See. Ein Telefonanruf klappt, ja, das mit der Übernachtung würde gehen. Wie weit es von Magdeburg, wo wir starten wollen, bis dorthin genau ist, bleibt aber offen.

Montag, 28.6.

Endlich sitzen wir am Montagmorgen um 8 Uhr in dem Eilzug nach Magdeburg mit der schönen Nummer 4711. Schnieke sieht der Zug auch aus. Nagelneue Wagen mit Obergeschoß, wie sie bei der Deutschen Reichsbahn eingesetzt werden. Besonders bequem ist in den geräumigen Waggons die Fahrradmitnahme: das Gepäck kann draufbleiben, fast kann man ohne abzusteigen in den Zug hineinfahren.

Um 9.15 steigen wir in Magdeburg aus, Minuten später sitzen wir auf den Rädern, die Tour beginnt.

Zuerst fällt auf, die Wilhelm Pieck Allee gibt es nicht mehr in Magdeburg, jetzt ist sie nach Fritz Reuter benannt. "Macht ja nichts", die Straße bleibt dieselbe. Zweites Problem, wieviel Brücken führen über die Elbe samt Nebenarmen? Vier, hatte ich mir gemerkt. Aber dann sind es nur drei, weil nach einigem Fahren keine vierte Brücke mehr kommt. Stattdessen umkehren und einen holperigen Weg an der Alten Elbe entlang bis zur B1. Diese müssen wir überqueren. Und das dauert, denn der Verkehr ist so abgestimmt, daß sich die Pulks der Autos und Lastwagen in beiden Richtungen abwechseln und man keine Chance auf eine Traverse bekommt. Reichsstraße 1, von Aachen bis Königsberg, einst und heute wieder Lebensader Deutschlands, sogar ein Buch gibt es über sie.

Ein Lieferwagen hat schließlich ein Einsehen mit uns verlorenen Gestalten und wir hoppeln dankwinkend hinüber.

Kaum diesem mörderischen Verkehr entronnen, befinden wir uns nach wenigen Metern in einem verschwiegenen Auwald, links blinkt die Elbe. Bald soll es wieder den Elbe-Radwanderweg von Cuxhaven bis Dresden geben, noch muß man sich den Weg alleine suchen.

Wir erreichen einen Park, vorbei am Herrenkrug, einem schloßartigen Gebäude, den zugehörigen Rennwiesen, wo sich edle Rennpferde miteinander messen mögen, heute ist alles wie ausgestorben.

Aber so will man es ja haben, Ruhe und kein Verkehr, da blüht man auf. Mit dem Aufblühen hat das noch so seine Weile, es beginnt in Biederitz, einem Magdeburger Vorort, sachte zu nieseln. Nach Befragen einer netten Dame gelangen wir auf einem abenteuerlichen Weg nach Gerwisch, und Lostau. Sandige Trampelpfade, gesäumt von Polstern der leuchtendroten Heidenelken, kleine Wäldchen, blühende Wiesen, Teiche, eine kleine Brücke über den Rest eines Elbarmes.

Doch dann endet die Straße in einem Industriegebiet, wir müssen zwei Kilometer zurück. Wenig später finden wir uns in sumpfigen Elbwiesen wieder, vorne stakt ein Storch, rechts mäht ein Bauer seine Wiese, weiter vorn zieht ein Elbkahn seine Bahn. Das ist alles sehr schön, nutzt uns nur wenig bei der noch bevorstehenden Tagesroute. Auch beginnt Heidi mit Recht an meinem Orientierungssinn zu zweifeln. Schließlich geben wir vor einem mit Brennesseln zugewachsenen Wanderweg die Eroberung der Elbwiesen auf.

Die weitere Strecke führt dann leider weniger reizvoll über die Landstraße nach Burg. Es gibt dort eine Fußgängerzone, wo wir vor einer Bäckerei einen Kaffee trinken können.

Der Regen hat aufgehört, dafür ärgert uns der Wind, der kräftig aus Nordwesten weht. Die Nordkomponente macht uns zu schaffen, wenn die Straße in nördliche Richtung führt. Und das zieht sich über 30 km bis Jerichow hin, das wir am frühen Nachmittag erreichen. Eine wohlverdiente Rast unter blühenden Linden. In Jerichow zeigt sich, wer bibelfest ist. Heidi ist es nicht. "Jerichow, das ist doch irgendwie bekannt" sagt sie. "Die Trompeten von Jerichow" sage ich. "Aber das war doch wohl nicht hier" sagt Heidi...

Nun verlassen wir den Lauf der Elbe und es geht mehr östlich über die Dörfer Richtung Rathenow. Gegenwind haben wir eigenartigerweise trotzdem ständig. Aber wir kommen gut voran, auf Waldstrecken verschont uns der Wind. Bei einer Rast hören wir den Pirol über uns flöten, unser alter Familienpfiff: Ui-u-iu...

Tatsächlich sind wir kurz nach 5 Uhr in Rathenow. Hier hat unser eingeplanter Gastgeber ein Sportgeschäft. Nun haben wir 110 km zurückgelegt, ich staune über Heidis Unverdrossenheit, wie sie diese nicht leichte Strecke bewältigt hat. Ich muß aber versprechen, daß es nicht jeden Tag so weitergeht. Soll es ja auch nicht, nur dieser Ort Wassersuppe, das ist schon ein Ziel.

Rathenow ist ein scheußlicher Ort. Alles Neubauten, der Verkehr geht mitten durch. Eine Telefonverbindung mit unseren Gastgebern kommt nicht zustande, so sind wir vom Vorabend nur halbangemeldet. Eine Enttäuschung muß ich Heidi noch bereiten: bis Wassersuppe sind es noch weitere 15 km, das hatte ich wohl vorher nicht so klar präzisiert.t.

Nach einer Kaffeerast in Rathenow wird aber das auch noch wacker bewältigt. Die letzte Abzweigung belohnt uns mit spiegelglatt asphaltierter Straße und Rückenwind. Dann Wassersuppe, ein winziger Ort an einem verschwiegenen See. Die Ruhe schlägt einem geradezu entgegen. Hier verirrt sich nur selten ein Auto her.

Als wir uns zu unserer Adresse durchgefragt haben, winkt uns eine Frau zu, das ist Frau B. "Hier wird man sogar eingewinkt" freuen wir uns. Hinter einem Getreidefeld liegt ein strohgedecktes Haus, dahinter ziehen sich die Wiesen hinab zum Schilfgürtel des Sees. Herzlich werden wir aufgenommen, erstmal ein erfrischender Apfelsaft. Das Haus ist selbst erbaut, zum Teil mit Ziegelsteinen aus der ehemaligen Ziegelei. Auf einigen Steinen ist eingeritzt Wasrsup, das sind schon fast Museumsexemplare. In früheren Zeiten war der Ort zu feuchten Jahreszeiten durch Überschwemmungen von der Umwelt abgeschnitten und nur mit dem Boot zu erreichen. Daher vielleicht der lustige Name.

Frau B. ist Lehrerin, jetzt sind Ferien. Ihr Mann war Sportlehrer, hat sich aber vor einem Jahr selbständig gemacht und betreibt nun ein gutgehendes Sportgeschäft in Rathenow. Nur die Zeit ist knapp seitdem. Wenig später erscheint auch der Hausherr mit seinem bedruckten VW-Bus bärtig und in sportlicher Kluft. Um im Training zu bleiben, wird uns erzählt, legt er oftmals die 15 km von Rathenow laufenderweise zurück. Wenn ihm die Strecke zu kurz ist, läuft er auch schon mal um den See herum. Mir fällt es erst jetzt auf, daß es sich gerade um den See handelt, den sich Kollege B.im Vorjahr als Geheimtip für ein ruhiges Wochenende auf dem Campingplatz bei Ferchesar ausbaldowert hat.

Bild 1 In Wassersuppe

Frau B. ist ehrenamtliche Bürgermeisterin und begibt sich alsbald auf eine Gemeindeversammlung. Wir suchen die Seeterrassen auf, da kann man gut essen. Auf der Terrasse findet die Gemeindeversammlung statt, da geht es um den Bau eines Bürgersteiges und die Organisation beim Schneeräumen. Als die Versammlung zuende ist, finden sich alle an der Theke ein.

Wir sind inzwischen mit dem Essen fertig und schlendern noch durch das Dörfchen. Die Kirche ist sehenswert, auf einem Ziegeldach erhebt sich ein Türmchen in Fachwerk. Derlei Kirchen werden wir noch mehrfach zu sehen bekommmen. Ein Gutsbetrieb mit einem Schlößchen ist leider sehr heruntergekommen. Ein Wappen kündet von besseren Tagen.

Kirche in Wassersuppe

Unsere Gastgeber bereiten uns einen gemütlichen Abend. Der Kamin wird entzündet, eine Flasche Wein, Jg. 86 geöffnet. Der Wein hat wenige Wochen zuvor im Keller auf Tauchstation gelegen, als heftige Regengüsse in der Region einen Katastrophenalarm auslösten. So ist auch hier der Keller abgesoffen. Dem Wein hat es offensichtlich nicht geschadet.

So manches erfahren wir noch über Land und Leute. Die Landwirtschaft ist allerorts stark eingeschränkt worden, so werden die die Seen umgebenden Wiesen nicht mehr gedüngt. Seitdem hat sich die Wasserqualität drastisch verbessert. Seltene Vögel nisten in den Schilfgürteln. In diesem Ort ist man ökologisch - nicht zuletzt durch das Zutun unserer Gastgeber - vorbildlich eingestellt. Neusiedler haben es nicht leicht, Land zu erwerben, da man die Ursprünglichkeit so weit wie möglich erhalten will.

So wird es einigermaßen spät, bevor wir in unseren Schlafsäcken verschwinden.

Dienstag, 29.6.

Der Morgen begrüßt uns mit wolkenlosem Himmel, der Wetterbericht hat Wort gehalten. Unser Gastgeber ist schon unterwegs zu einem Termin in Stendal. Frau B. bewirtet uns mit einem schönen Frühstück, dann brechen wir auf mit ungewissem Ziel. Um nicht wieder eine Gewalttour zu machen, haben wir die Stadt Wittstock, 80 km nördlich, ins Visier genommen. Ob es da schön ist oder aber wie in Rathenow, kann man uns nicht sagen.

Von der Bundesstraße 102 biegen wir bald rechts ab auf eine stille Waldstraße, zwei Betonspuren verschonen uns vor dem Sand. Kilometerweit geht es durch einsame Wälder. Ländchen Rhinow nennt sich die Gegend, im Norden begrenzt durch die Rhinower Berge, da ist ein 96er dabei, wie ich Herr B. ausdrückte. Vor dem Örtchen Stölln befindet sich der älteste Flugplatz der Welt. Kaum zu glauben, aber das liegt daran, daß hier der Flugpionier Otto Lilienthal die günstigen Aufwinde ausnützte und im Jahre 1896 seine Flugversuche mit bis zu 350 m Weite veranstaltete. Einer davon - der letzte - endete mit dem Absturz und Tod des Wagemutigen.

Inzwischen hat man sich eine weitere Attraktion einfallen lassen. Als eine sowjetische Verkehrsmaschine vom Typ Iljuschin ausgemustert wurde, hat man sie mit einigem Risiko auf einem Berg gelandet. Da steht sie nun und wird für originelle Hochzeiten und andere gesellschaftliche Veranstaltungen benutzt. Disneyland ist überall, auch im Ländchen Rhinow.

Kunst für Otto Lilienthal
Die Iljuschin im Maisfeld
Rhingraben

Noch sind wir gar nicht in Mecklenburg, sondern im Land Brandenburg. Wir durchfahren den Rhingraben, ein eiszeitliches Urstromtal. Über einen Wassergraben schweift der Blick zurück auf Otto Lilienthals Schicksalsberg.

Rings um uns ist es tiefgrün, meistens Viehweiden von Gräben durchzogen. Eine Brücke über den alten Rhin, der ist kanalisiert. Durch Dreetz geht es nach Neustadt. Dort spendieren wir uns in einem Straßenlokal ein Würstchen. Nur ab und zu zucken wir zusammen, wenn eine elektronische Schaukelmaschinerie neben uns eine melodische Tonfolge erklingen läßt.

Wenig später erreichen wir wieder einen reizvollen Ort: Wusterhausen am Klempow See. Eine trutzige Kirche, ein schneeweißes Rathaus, Marktgetriebe. Ich kaufe einen neuen Film, dann geht es am Klempower See entlang.

Wusterhausen

Die vielen Wurzeln auf dem Uferweg lassen uns aber bald wieder auf die Straße flüchten. In Bantikow ist ein Reiterhof, den weiteren Teil der unbefestigten Straße hat man eifrig als Reitweg zweckentfremdet. Wir schieben. Ein Mädchen übt mit einem Pferd das Gehorchen, das klappt nicht so richtig. "Die hat Angst vor'nm Gelände" erfahren wir, als wir uns vorbeidrücken.

Bevor Heidi so richtig ins Meckern kommt, erreichen wir zum Glück wieder eine befestigte Straße, die nun schnurgeradeaus durch die Wälder führt. In Lellichow machen wir Kaffeepause. Um der Landstraße zu entgehen biegen wir nochmal auf eine sandige Nebenstrecke ab. An einem kleinen Gewässer liegt ein malerisches Restaurant. Ein Seniorenverein strebt gradlinig von einem Bus in das Lokal. Wir schieben durch den Sand einen Berg hinauf.

Von Königsberg mit gleichnamigem See kehren wir dann doch reumütig unter Vermeidung weiterer sandiger Unannehmlichkeiten zur Landstraße zurück. Die Autobahn Berlin - Hamburg wird überquert. Nach 80 km sind wir noch vor 16 Uhr in Wittstock. Der Blick auf einen Stadtplan am Straßenrand verheißt Gutes: eine Stadtmauer, Stadttore, ein historischer Ortskern. Ein großes I weist uns zur Information und Quartiervermittlung im Amtsturm mit angeschlossenem Museum. "Bin bis 16 Uhr bei einer Stadtführung" steht auf einem Zettel.

Zwei Frauen kommen vorbei, wir kommen ins Gespräch. "Das ist ja eine schöne Stadt hier" machen wir unser Kompliment. "Oh ja," antworten sie, "deswegen kriegt uns hier auch keiner weg!" Wir beglückwünschen uns jetzt schon zu der Wahl dieses Ortes als Etappenziel. Erstmal warten wir auf die Informationsdame. Wir haben ja Zeit wie Heu und setzen uns auf eine Bank im angrenzenden Wallgelände. "Wollen Sie zu mir?" tönt es über eine Hecke. Unsere bepackten Fahrräder haben uns verraten.

Nun versorgen wir uns mit Informationsmaterial über das "Rothenburg des Nordens". Ein Privatquartier bekommen wir nicht, aber ein schönes Zimmer zum Marktplatz raus im Hotel Deutsches Haus. Nicht gerade billig, aber alles ist neu gemacht und seinen Preis wert. Als mir der Zimmerschlüssel überreicht wird, protestiere ich: "Der Schlüssel fehlt ja!". Es handelt sich um eine Magnetkartenanlage, sowas kennen wir Wessis eben noch nicht.

Marktplatz in Wittstock

Das Abendprogramm: Bummel über den Markt, durch die Stadt, an der Stadtmauer entlang. Abendessen im Zum Stern. Ein Bierchen (Lubzer) im Cafe Beroun am Marktplatz. Es ist warm, wir sitzen draußen bis Zapfenstreich. Ein Angestellter erscheint, umwickelt mit Ketten, mit denen er laut rasselnd die Gartenmöbel abschließt. Am Nebentisch sitzen zwei jüngere Leute über Baupläne gebeugt und fingern was aus. Aus dem Inneren des Lokals kommt eine vierköpfige Gruppe mit Aktentaschen, man verabschiedet sich geschäftsmäßig verbindlich. Auch da ist wohl was ausbaldowert worden.

Nun liegt Wittstock am Autobahndreick Hamburg - Rostock - Berlin. Im Westen der Stadt hat man große Industrieflächen angelegt und wirbt um Investoren. Da gibt es wohl manches zu verhandeln.

Im Hotel bekommen wir noch ein weiteres Bierchen, das ist ganz was besonderes, ein tschechisches Produkt aus Prag. Leider haben wir uns den Namen nicht gemerkt (Budweiser oder Urquell war es nicht).

Mittwoch, 30.6.

Heute soll's auf Mecklenburg zu gehen. Vielleicht finden wir einen hübschen Ort für ein paar Tage. Anvisiert ist Malchow, das liegt zentral zwischen den großen Seen der Mecklenburger Seenplatte.

Heidi schlägt persönlich einen Umweg vor, zwei Attraktionen auf der Strecke: das Kloster Heiligengrabe und Burg Freyenstein. Auf dem Weg nach Heiligengrabe passieren wir das Industriegebiet, einige Hallen sind im Bau. Sonst hat Mecklenburg Vorpommern größte Schwierigkeiten mit der Ansiedlung von Industriebetrieben, das hier ist schon die Ausnahme.

Heiligengrabe: wir streifen auf dem Klostergelände herum, hier hausen Diakonissen, hoffentlich stechen die nicht. Eine bekommen wir auch zu Gesicht, kenntlich durch eine große Haube. Die alten Klostergebäude liegen verträumt zwischen den Bäumen. Alles ist sehr einsam, und das genießen wir.

Bild 1 Kloster Heiligengrabe

Nun geht es direkt nach Norden, der Wind liegt wieder sausend auf den Ohren. Die Strecke ist sogar bergig, mehrere "Hunderter" werden passiert. Das sind alles Endmoränen aus der Eiszeit. Kennzeichnend ist auch, daß nach den Anstiegen die Bergabfahrten meistens auf einer mit Feldsteinen gepflasterten Straße stattfinden, wo nur durch kräftiges Bremsen ein Gabelbruch verhindert werden kann. Namentlich in den Ort Freyenstein mit gleichnamiger Burg kann nur sehr behutsam eingefahren werden.

Wieder haben wir eine Rast verdient und lagern uns im Burgpark. Von der Burg ist nicht viel übrig. Ein stehengebliebenes Turmgebäude fällt durch seine kunstvollen Ziegelornamente ins Auge.

Bild 1 Burg Freyenstein
Dorf ohne Auto

Hinter Freyenstein passieren wir die Grenze Mecklenburgs. Ein Getreidefeld mit üppigen Mohnblumen entläßt uns aus Brandenburg. In einem Ort ist tatsächlich kein Auto zu sehen. Da machen wir doch gleich eine weitere Rast. Bei dem Tante Emma Laden muß man die Klingel betätigen, um den Ladeninhaber aus den hinteren Gemächern heranzuholen. Mit zwei Cola sind wir dabei. Auf dem Ortsplatz ist ein Arbeiterpaar mit der Rasenpflege beschäftigt. Das geht alles nicht so hektisch zu - bald rasten auch sie.

Fachwerkkirche

In Dammwolde entzückt uns wieder ein hübsches Kirchlein, diesmal ist das Gebäude in Fachwerk und der Turm aus Holz erbaut. Vor Stuer mündet unsere Strecke auf die B 198, die wir aber bald wieder verlassen können. Nun nimmt uns der Wald am Plauer See auf, der Wind hat das Nachsehen. Den See bekommen wir erstmal überhaupt nicht zu Gesicht. Auch touristisch tut sich wider Erwarten gar nichts, Suckow und Zislow, da ist der Hund verfroren. In einem Wegelokal leisten wir uns ein Würstchen. Ein Ehepaar aus Hannover ist auch da, die machen hier irgendwo Camping und heute eine Wanderung. Auch sie preisen die Ruhe rings umher.

Nun gilt es noch einen ungewissen Waldweg zu bewältigen. Da herrscht purer Sand vor. Wo unsere bepackten Radkamele ins Schlingern geraten, heißt es Schieben. Unversehens erreichen wir den "Lenz", vor uns die Weite des Plauer Sees. Ein kleiner Badestrand und Liegewiese sind einladend, aber wir wollen ans Ziel: Malchow. Das sind noch 4 km, 75 km haben wir heute zurückgelegt, bei dem Gegenwind gar nicht so ohne.

Malchow empfängt uns mit seiner Rückseite, das sind die allgegenwärtigen Siedlungen in Plattenbauweise und verlotterte Anwesen. Da wird man schon wieder skeptisch, ob wir hier auch richtig sind. An der Kirche vorbei, auf der belebten Ortsdurchfahrt hinunter an die Drehbrücke am Malchower See. Dahinter liegt der alte Ortskern auf der Insel, die seit 1928 durch einen Erddamm mit dem jenseitigen Ufer verbunden ist.

Am kommenden Wochende sollen die Malchower Festtage stattfinden, ob wir da überhaupt ein Quartier bekommen?

Die Quartiervermittlung liegt direkt an der Brücke. Eine andere Radtour taucht auf, also schnell hinein, ehe die uns das Quartier wegschnappen. Die Informationsdame telefoniert gerade: "Nein, nichts zu machen, Juli/August, alles ausgebucht". Da rutscht einem das Herz in die Hose. Wir murmeln was von vier Tagen, die wir bleiben wollen. "Na, da woll'n wir mal" ist die freundliche Antwort, ein Blick in den Computer, dann wird eine Privatadresse angerufen. Ob es auch für nur drei Tage gehe, ob wir evtl. auch das Zimmer wechseln würden? Sicher doch, wir machen alles mit. Also dann, gleich um die Ecke, Familie Müller, Mühlenstraße 56.

Frau Müller empfängt uns, als seien wir alte Stammgäste. "Bis Sonntag, das kriegen wir schon hin". Die Wohnung: Wohnzimmer mit Fernseher und Küchenteil, dahinter das Schlaf und Badezimmer. Am Sonnabend müßten wir nur leider in das Gartenzimmer umziehen. Ob wir das auch gleich mal ansehen könnten. Und das ist es, was wir suchen. Die Gartenwohnung mit sonnenüberfluteter Terrasse, ein großer und gepflegter Garten schließt sich an. Himmlische Ruhe! Wir jauchzen geradezu auf. Da wollen wir doch wohl gleich einziehen. Das versteht Frau Müller gar nicht. Eine Familie aus Hamburg, ja, die hätten das auch schon viel schöner gefunden. "Und meine schöne Wohnung" klagt sie fast, die sei nun wieder vakant, aber nur für zwei Tage, dann kommen Gäste aus Rostock.

Herr Müller bosselt derweil in seiner Werkstatt. Darüber befindet sich ein Hinterhofschuppen aus altem Fachwerk. Wie ich mir das so ehrfürchtig ansehe, wird Herr Müller aufmerksam, "Sie schauen da so hoch, das wird noch ausgebaut". "Das sieht so romantisch aus" gebe ich zur Antwort, in der Hoffnung, daß er das auch so sieht. Das ist durchaus der Fall, es soll alles fachgerecht ausgebaut werden, eine weitere Ferienwohnung ist geplant.

Wir schnappen endlich unser Gepäck und beziehen das Gartenetablissement. Für vier Tage, da können wir uns ja richtig häuslich einrichten. Die zerknautschten Klamotten wandern in den Schrank, viel Arbeit haben wir damit nicht.

Als nächstes: Ortsbegehung. Wie ist man immer gespannt, einen neuen vielverheißenden Ort zu erkunden. Auch müssen wir uns mit Lesestoff versorgen, vier Tage, da hat man ja massig Zeit. Im Buchladen werden wir fündig. Heidi spendiert sich einen Roman von H. Courths Mahler: "Durch Liebe erlöst". Dadurch beflügelt, findet sie auch für mich gleich das richtige, sogar das Superrichtige: "Damals in Mecklenburg" von einem Peter Jokostra. Nie davon gehört. Auf dem Buchdeckel ist zu lesen:

Das Mecklenburg, wie es hier lebt und ackert, gibt es nicht mehr.

Oder:

aus diesem Roman spricht die tiefe Liebe zum kargen, sandigen Mecklenburg mit seinem hohen blauen Himmel, seinen schlichten Seen und Heiden, seinen bodenständigen, hart arbeitenden Menschen.

Nicht weiter auszuführen, daß ich dieses Buch in den nächsten Tagen geradezu inhaliere, zumal es genau in dieser Gegend zwischen Malchow, Waren und Teterow seinen Schauplatz hat. Heidi ist mit ihrer Kotz Mahler auch zufrieden.

Die weitere Ortsbegehung ist erstmal mehr ernüchternd. Positiv ist: der Massentourismus hat hier im Herzen der Seenplatte noch nicht so sichtbar seinen Einzug gehalten. Negativ: die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung. Früher das "Manchester" von Mecklenburg wegen der Textilindustrie, die nun danieder liegt, sind heute 80 % der Einwohner arbeitslos. Leider sieht man das dann auch hier vielen Häusern an, die dringend eines erhaltenden Eingriffs bedürfen. Viele Haussockel sind mehr oder weniger schön mit Kacheln verkleidet. Heidi muß mich immer weiterzerren, wenn ich mit abgenommener Brille die Fugen inspiziere, die Arbeit mit der Terrasse zuhause wirkt noch nach.

Malchow

Romantischer bietet sich Malchow von der Seeseite aus. Bootshäuser und Anlegestege, verwinkelte Anbauten und die Gärten, die bis an den See heranreichen.

Schließlich zollen wir wieder dem Leiblichen Tribut und speisen im Cafe am See, der kühlen Witterung wegen aber im warmen Stübchen. Ein paar Unentwegte kommen herein und bestellen für draußen vegetarische Kost. "Körnerfresser" sagt Heidi.

Die Bedienung ist wohl frisch angelernt, etwas unbeholfen und nicht über die Gerichte informiert. Das Essen ist auch nicht so doll, aber das kann uns die Laune nicht verderben. Wir lassen den Abend - wo auch anders - auf unserer Gartenterrasse ausklingen und machen noch ein Pläuschchen mit den Müllers.

Donnerstag, 1.7.

Badewetter - keine Wolke am Himmel! Welchen See werden wir geruhen, zum Baden zu erwählen? Wir entscheiden uns für den Plauer See, am Lenz, wo wir am Vortag schon vorbei kamen. Mit den unbepackten Fahrrädern sind wir ungeheuer mobil, wir fahren diesmal nicht die Straße, sondern den Wanderweg entlang am Malchower und Petersdorfer See. Landschaftlich herrlich, fahrradmäßig eine Geschicklichkeitsprüfung. Am Lenz breiten wir unsere Isomatten aus, der Plauer See ist ein blauer See, das Wasser durchsichtig.

Der Plauer See

Als wir uns so richtig in unsere frisch erworbenen Bücher vertieft haben, erscheint eine fünfköpfige Motorradrotte auf der Bildfläche. Helmvermummt, in Leder gerüstet, schreiten sie wiegenden Schrittes einher und schlagen neben uns ihr Lager auf. Aus Köln kommen die, der Kopf brummt ihnen noch von der gestrigen Sauferei, wie man hört. Als sie sich aus ihren Monturen geschält haben, sehen sie in ihren Badehosen und bleichen Körpern nicht gerade wie Machos aus. Nur zwei sind ganz kaputt, die bleiben gleich in ihren Rüstungen und legen sich in der prallen Sonne zum Schlafen nieder.

Desweiteren drehen sich die Gespräche um das fachgerechte Bremsen, technische Datails der Motorradszene oder über überstandene Unfälle Ab und zu sagt auch schon mal einer "Schön hier, woll". Da sich die Ritter der Landstraße ansonsten anständig benehmen, stören sie uns nicht, lenken nur vom Lesen ab. Gegen Schluß der Vorstellung läßt einer einen Furz, ich gucke weg, weil ich Angst vor Heidis Lachanfällen bei solchen Gelegenheiten habe.

Dann erscheinen um die Mittagszeit ein paar Straßenarbeiter, die verzehren ihre Currywürste inmitten der Ledermonturen auf dem Imbißtisch. "Du sitzt auf meinem Platz" sagt der eine zum anderen. "Hier sitze ich schon seit gestern" antwortet der. Schade, daß die nicht Platt sprechen. Nun raffen die Motorradfahrer ihre Klamotten zwischen den kauenden Straßenarbeitern zusammen und rüsten sich wieder auf. Bald schon hört man die auffauchenden Maschinen der Lederhelden, wie sie lässig die Gänge einlegen und mit hochaufragendem Gesäß um die nächste Kurve gen Malchow entrauschen.

Wir klappen unsere Unterkiefer wieder hoch und erfrischen uns nun auch mal im Wasser. Ich gehe raus, soweit ich stehen kann, das ist schon fast eine Wanderung. Wenn man dann noch ein wenig schwimmt, ist man fast schon in Plau auf der anderen Seite. So kommt es einem vor.

Die Sonne tut das ihre, ich werde immer röter, vor allem im Gesicht. Auch das Eincremen hilft nicht mehr, es ruft eher den Eindruck einer polierten Tomate hervor. Wir fahren wieder die normale Straße zurück, freuen uns auf den Abend auf unserer Terrasse.

Heute essen wir im Deutschen Haus, Heidi wählt Rinderbraten, ich versuche mich erfolgreich an einer gebratenen Forelle, die kaum auf den Teller paßt. Im Lokal herrscht Hochbetrieb. Unsere Kellnerin ist ein echtes Original. Sie muß alles allein bewältigen, das hebt ihre Originalität erst hervor. Grauer Bürstenschnitt, die Schultern hochgezogen, eilt sie trotz einiger Fülligkeit behende von Tisch zu Tisch. Ein leeres Bierglas reißt sie einem aus der Hand, der Nachschub wird nicht weniger aprupt auf den Tisch geknallt. Alle Gäste amüsieren sich schon. Die Stufe zum Innenraum des Lokals nimmt sie jedesmal anders, mal mit dem Mittel- mal mit dem Vorderfuß, mal links, mal rechts, das Tablett balancierend.

Wieder "zu Hause", wie man in solchen Fällen immer gern sagt, lassen wir uns aufatmend auf "unserer" Terrasse nieder. Müllers haben etwas vor, und das ist das Grillen von einigen Lachsforellen am nächsten Abend. Ob wir, die jungen Leute, wie sie sich ausdrücken, auch Lust dazu hätten. Da sind sie an die richtigen geraten. Lachsforelle gegrillt, ein Traum.

Nachdem das geregelt ist, fläzt sich Heidi vor den Fernseher, ich will auf der Terrasse noch mein "Damals in Mecklenburg" weiter genießen. Da habe ich mich geschnitten. Aus der Ruhe wird nichts. Ein Nachbar hat sich in den Kopf gesetzt, das Dach seiner Wellblechdatsche mit einer Hochdruckspritze einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Nachdem er das erste Mal das Dach abgespritzt hat, fängt er wieder von vorne an. Wenn er mal eine Pause einlegt, empfindet man die Ruhe, Hoffnung keimt auf. Aber dann geht es gleich wieder los, ich bin den Tränen nahe, verfluche alle Baumärkte der alten und der neuen Bundesländer, suche bei Heidi vor ihrem Fernseher Trost. Aber der spannende Western mit häufigen Schußwechseln, unterbrochen von Werbeeinlagen vermittelt auch nicht die reine Form der Abendruhe.

Als es dunkel wird, und das ist gegen 22 Uhr, ist dann endlich die Sache überstanden. Nun wird es aber kalt draußen, nach einer Weile muß ich mich von meinem Mecklenburgroman trennen und bibbernd das warme Bett aufsuchen.

Freitag, 2.7.

Wie es so schön heißt, wenn man auf einer Radtour ist, macht man an einem Ruhetag eine Radtour. Das sieht auch Heidi ein. Unsere Radtour aber ist ganz bescheiden, wir wollen nach Waren an der Müritz fahren, das sind so an die 30 km. Nach Frau Müllers kräftigem Frühstück fahren wir los, zwei Äpfel im Gepäck.

Wir fahren die "Güstrower Straße" hinaus, Felder und Wälder, dann geht es rechts ab, endlich Rückenwind, kein Gepäck. "Mopedfahren" sage ich, immer wenn man nicht treten muß, und das ist oft der Fall.

Nossentin am Fleesensee. Die ganze Dorfgemeinschaft bosselt am zentralen Dorfplatz herum und legt Rasenflächen an. Ein Trainingsanzug ist uns bekannt, darin steckt ein Einwohner, der gestern noch im Deutschen Haus einen Anteil der einheimischen Gäste ausmachte. Die Kirche von Nossentin sieht aus wie ein Schulgebäude, das ist dann auch schon alles.

Bild 1 Blumen

Wir fahren eine zweispurige Straße entlang. Die eine Spur ist asphaltiert und gehört den Autos. Die andere ist unbefestigt, da hat sich der Radfahrer abzuplagen, wenn von hinten oder von vorn ein motorisiertes Gefährt auftaucht. Aber die Blumen am Wegesrand, die gehören dem Genießer.

Wir durchfahren Jabel am Jabelschen See, hier werden wir noch einmal hinkommen, aber das wissen wir heute noch nicht. Von Jabel führt so eine Art Trampelpfad nach Waren, "Das muß aber nicht sein" meint Heidi. So fahren wir die Landstraße, immerhin mit blühenden Brachflächen gesäumt. Die Außenbezirke von Waren sind wie immer scheußlich, reine Industriegegenden. Wir stoßen auf die B 192, mit untrüglichem Sinn finden wir aber auch die Badebucht von Waren, "Am Kietz" nennt sich die Gegend.

Bild 1 Waren an der Müritz

Bis 14 Uhr haben wir Zeit, dann fährt das Schiff zurück nach Malchow. Waren an der Müritz ist der bekannteste und größte Ort des Seengebietes. Folglich ist der Ortskern entsprechend belebt, zudem ist heute Markttag. Wegen der Hitze beschränken wir uns bei der Ortsbesichtigung auf das Nötigste, und rauschen alsbald ab zu der Badebucht.

Vom eigentlichen Müritzsee ist von Waren aus nichts zu sehen. Waren liegt an einer Bucht, der "Binnenmüritz". Hier ist komischerweise die tiefste Stelle der Müritz mit 33 m. Sonst ist sie weniger als 10 m tief. Aber bei unsicherem Wetter kann sie gefährlich sein, vor einigen Wochen sind erst ein paar Segler ertrunken. Das haben uns Müllers erzählt.

Beizeiten machen wir uns wieder zur Kietzbrücke auf, wo das Schiff ablegen soll. Kurz vor zwei ist davon noch nichts zu bemerken, wir rennen mal wieder im Zickzack durch die Gegend und fragen alle möglichen Leute, die auch nicht Bescheid wissen. Schließlich erwischen wir das Schiff selbst, das hat es sich solange an einem anderen Anleger an der Steinmole gemütlich gemacht.

Doch dann geht alles nach Plan, bei strahlendem Sonnenschein stechen wir in See. Ich muß mich mit dem Rücken in Sonnen- und Fahrtrichtung setzen, mein Gesicht ist wieder rubinrot. Ein älterer Herr neben uns sieht noch schlimmer aus, seine Nase wirft schon Blasen. Auf der Rückbank im Heck des Schiffes hat sich eine Frohnatur lang gemacht, der hat Stöpsel in den Ohren und singt dazu. Auch teilt er mit, daß Boris Becker im Halbfinale von Wimbledon verloren hat.

Um uns reine Natur, Haubentaucher mit Jungvolk, Blesshuhnfamilien, Graugänse. Am schönsten sind die Passagen von einem See in den nächsten, das sieht aus wie im Spreewald, obwohl wir den noch nicht kennen. Die Segler haben schlechte Karten heute, es ist praktisch windstill. Manch sonderbares Gefährt schippert herum. Ein Schiff sieht aus wie ein alter Schlepper aus Hamburg. Ärgerlich sind nur die rasenden Schnellboote, die richten an den Uferzonen durch die Wasserbewegung großen Schaden an. Außerdem machen sie einen erheblichen Krach. Das kriegt man wohl nie in den Griff, daß einige wenige mit ihrem Vergnügen der übrigen Umwelt auf den Wecker fallen, und sich darauf auch noch etwas einbilden.

Die Fahrt von der Binnenmüritz durch den Reek-Kanal in den Kölpinsee, dann in den Fleesensee und schließlich in den Malchower See dauert genau zwei Stunden. Solange haben wir mit dem Fahrrad auf dem Landweg auch gebraucht.

Pünktlich sind wir wieder in unserem Quartier, denn um 5 Uhr wollen Müllers mit dem Grillen der Lachsforellen beginnen. Ein Ehepaar mit Sohn aus Bremen nimmt außerdem noch teil. Frau Müller hat die Lachsforellen entschuppt, mit Butter bestrichen, mit Kräutern und Zwiebeln gefüllt. Das ganze wird in Folie verpackt und auf dem Grill gegart. Schon vorher läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Beim Verzehr ist alles mucksmäuschenstill, nur ab und zu seufzt einer auf "Herrlich!". Das Fleisch der Lachsforelle ist rot, der Fisch ist fast unterarmlang. Da wird man schon satt davon, aber übrig bleibt auch nichts, das wäre ja ein Jammer!

Schließlich lehnen sich alle zufrieden zurück, die Damen bekommen einen Sekt spendiert. Man fühlt sich wie Gott in Frankreich.

Für Müllers wird es Zeit für das nächste Spektakel. Sie werden ab 20 Uhr mit ihrem geschmückten Boot auf dem See herumschippern. Da ist anläßlich des Malchower Seefestes ein Bootskorso mit Prämierung der bestgeschmückten Boote angesagt. Herr Müller ist schon seit Tagen im Gange, zuguterletzt hat er noch eine Bootstheke für die Getränke gezimmert. Das befreundete Ehepaar fährt auch mit, die haben aber auch geholfen. Für uns "junge Leute" ist leider kein Platz. Das macht aber nichts, wir werden den Part des anfeuernden Publikums spielen. Außerdem übernehmen wir freiwillig den Abwasch.

MS "Bochum"

Am Seeufer kommen wir gerade zurecht, wie unser favorisiertes Boot ablegt. Hübsch sieht es aus. Der Name ist "Bochum". Auf der einen Seite ist aber das große B verlorengegangen. Die Konkurenz auf dem See ist zunächst spärlich. Manche haben etwa einen Teddybär an den Mast gebunden oder nur ein paar Wimpel gehißt. So signalisieren wir schon eifrig das Siegeszeichen, immer wenn Flaggschiff Bochum vorbeituckert.

Bis zur Siegerehrung ist noch einige Zeit totzuschlagen. Dazu bummeln wir zum Erddamm, wo ein Platzkonzert stattfindet. Vielleicht 20 Zuschauer haben sich dort nur eingefunden, so fällt das ganze etwas armselig aus. Eines der Mädchen aus dem Spielmannszug hat ein Gipsbein.

Zurück auf der Brücke hat sich die Konkurenz nun doch verbessert. Den ersten Preis macht ein Boot mit einer Bajazzofamilie, den zweiten ein Faltboot, das zwei Mädchen steuern und auf Südsee getrimmt haben. Den dritten Preis erringt ein Tretbootfahrer, der führt eine Palme mit an Bord. Bei der Siegerehrung ist er aber unauffindbar. Müllers gehen leer aus, aber das ist ja nicht die Hauptsache.

Es ist spät geworden, wir gehen zur Ruhe.

Gegen Mitternacht erscheint die ganze Corona, ob die "jungen Leute noch wach sind" erkundigt sich Frau Müller. Aber wir sind schon im Schlafdress.

Sonnabend, 3.7.

Der letzte Tag in Malchow hält eine Überraschung für uns bereit. Beim Frühstück schlägt Herr Müller eine Bootsfahrt zum Jabelschen See vor. Da sind wir Feuer und Flamme. Diesmal ist ein Ehepaar aus Starnberg mit von der Partie, das die zweite Ferienwohnung bei Müllers bewohnt.

Kloster Malchow

Vorher besuchen wir Herrn Müller noch in seinem Bootshaus. Das liegt in der Nähe des Klosters auf der anderen Seite des Malchower Sees. Zurück überführen wir die Fahrräder von Müllers, die noch vom Vorabend im Bootshaus stehen.

Alsdann tuckern wir bald Richtung Fleesensee. Leider hat sich das Wetter verschlechtert, es bläst ein kräftiger Wind und der Himmel ist bedeckt. Wir hüllen uns in die Trainingsanzüge, Herr Müller kommt eisern mit einem T-Shirt aus.

Durchfahrt

Auf der Hinfahrt haben wir Rückenwind. Die Durchfahrt vom Kölpinsee zum Jabelschen See ist wieder besonders idyllisch. Auf dem Jabelschen See beobachten wir Seeschwalben, die wir glatt für Möwen gehalten hätten. Die Seeschwalben erkennt man an dem gespaltenen Schwanzgefieder und ihrem kunstvollen Flug. Wenn sie eine Beute im Wasser ausgemacht haben, kippen sie seitlich ab, fallen wie ein Stein auf das Wasser und sind sogleich wieder in der Luft. Was sie gerade erbeutet haben, kann man bei der Geschwindigkeit nicht erkennen.

Am Campingplatz von Jabel legen wir an. Der Platz ist fest in Rostocker Händen, wie man an den Autokennzeichen HRO feststellen kann. In einem der beiden Lokale essen wir zu Mittag. Heidi muß mal wieder eine "Soljanka" reinziehen, außerdem gibt es Brathähnchen (früher "Broiler").

Herr Müller erzählt seine Geschichte. Er stammt eigentlich aus dem Westen, nämlich aus Bochum. Als Ende der 50er Jahre die Grenzen dichtgemacht wurden, kam er nicht mehr aus der DDR raus, landete in Malchow, wo er dann mit Familie und Haus seßhaft wurde. Nun ist er wie viele andere arbeitslos und Frührentner.

Als wir ablegen wollen, kommt das Boot nicht in Gang. Aber Herr Müller hat nur vergessen, den Anker einzuholen. Nun weht der Wind von vorn. Auf dem Jabelschen See geht das noch, der ist nur klein und von Wald umgeben. Aber auf der Einfahrt vom Kölpin- zum Fleesensee steht voll der Wind, unser Boot kommt gerade so gegen die Wellen an. Herr Müller muß sich voll konzentrieren, ab und zu den Motor drosseln um nicht mit voller Fahrt in die von vorn anlaufenden Wellen zu klatschen. Wenn man zum Ufer peilt, denkt man, daß man kaum von der Stelle kommt. Außerdem sind wir mit Abstand das kleinste Boot auf dem kabbeligen See. Da macht man sich so seine Gedanken.

Es geht aber alles gut, keiner wird seekrank, und in Seenot geraten wir auch nicht. Wir sind nicht mal langsamer als auf der Hinfahrt. Das liegt daran, daß das Boot entgegenlaufende Wellen besser abreitet, wie Herr Müller erklärt. So steigen wir nach zwei Stunden wieder an Land, doch froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Für den Rest des Tages bleibt uns nur das Faulenzen, doch die Gepäcktaschen für den nächsten Morgen werden schon mal vorbereitet.

Sonntag, 4.7.

Am Sonntag ist der Tag der Abreise gekommen. Herzlich verabschieden wir uns von den Müllers, die uns nicht nur so gastfreundlich aufgenommen haben, sondern uns und den anderen Gästen auch noch ein tolles Beiprogramm beschert haben. Wir werden gerne wieder hinfahren, es ist ja von Brauschweig überhaupt nicht weit.

Bild 1 Wegränder mit Mohn

"On the road again", d.h. wir biegen hinter dem Malchower Erddamm links ab in die Botanik. Satter Rückenwind, da kann nichts schiefgehen. Nach links ab und zu der Blick über den Fleesensee erreichen wir Göhren-Lebbin. Hier hat man das Schloß in das mondäne "Hotel Blücher" verwandelt. Ich begebe mich neugierig in die Eingangshalle, Heidi traut sich mit ihren Radlerhosen nicht hinein.

An der Rezeption versuche ich, einen Prospekt oder sowas über das Haus zu bekommen. Vorher wird ein älteres Ehepaar abgefertigt, die blättern 1200 DM auf den Tresen. Soviel kostet unser ganzer Urlaub ja nicht. Immerhin kann man in dem Hotel ein Traumwochenende mit Champagnerfrühstück und Kutschfahrt etc. für 390 DM verleben. Da könnte man direkt mal drüber nachdenken.

Über einige hoppeligen Straßen fahren wir weiter zum Klink. Dort liegt wieder ein Schloß hoch über dem Müritzsee mit einem phantastischen Blick. Hier hat sich noch nichts getan, das Gebäude steht leer und wartet auf bessere Zeiten. Ein Ehepaar mit nagelneuen Kettlerrädern taucht auf und wir unterhalten uns ein wenig. "Spinnwebenromatik" bezeichnet die Frau die Angelegenheit.

Schloß Klink

Wir erkundigen uns nach dem weiteren Weg, der führt ein Stück direkt an der Müritz entlang. Dann wird es zu unwegsam und wir suchen uns wieder eine bequemere Strecke nach Röbel. Das ist auch eine schöner Ort mit einer alten Kirche. Wir rasten an einem Imbißlokal. In Ludorf steht eine alte Backsteinkirche.

Kirche in Ludorf
An der Müritz

Von Zielow nach Vipperow ist der Weg wieder abenteuerlich. Mitten durch einen Sumpf sind Betonplatten verlegt. Mücken überfallen uns. Dann kommt eine Sumpfwiese, die man umgehen muß. Ein Ehepaar kommt uns entgegen, die haben das nicht geschnallt. Als wir außer Sichtweite geraten, sind die immer noch nicht mit dem Bewältigen der Sumpfpartie zurande gekommen. Schadenfroh machen wir uns von dannen.

In Vietzen brauchen wir drei Anläufe, um die Abzweigung nach Mirow zu erwischen. Ein junges Pärchen, die wollen zum Campingplatz, beobachtet uns dabei amüsiert.

In Mirow wollen wir Quartier nehmen, über 70 km sind wir ja schon wieder unterwegs. Bei dem Rückenwind allerdings keine Strapaze. Über den Ort wissen wir wieder nichts, ist er nett oder öde? Nun, es gibt ein Schloß, und, was wichtiger ist, eine Pension Schloßinsel. Die war allerdings früher auch ein Ferienheim und sieht von außen nicht so romantisch aus, wie der Name erwarten läßt. Aber wir bekommen ein anständiges Zimmer mit Seeblick und sind zufrieden.

Der Ort bietet nicht allzuviel, längs der Durchgangsstraße ducken sich die grauen Häuser. Das Schloß ist in Arbeit, das wird noch seine Zeit dauern. Neben der Schloßkirche steht das fertig montierte Skelett einer neuen Turmhaube. Von Mirow erstreckt sich nach Norden der langgezogene Mirower und Kotzower See, dicht von Wäldern umsäumt. Aber das können wir nur der Karte entnehmen, die Zeit, das zu erwandern, haben wir nicht.

Unter unserem Zimmerfenster liegt die Cafeterrasse des Hotelrestaurants. Nun bin ich wegen meines angegriffenen Gesichts gezwungen, mit einer geeigneten Creme (von ALDI) dem Feuchtigkeitsgehalt der Haut auf die Sprünge zu helfen. Dazu lege ich die Brille, Titangestell, bifokale und superentspiegelte Gläser, auf die Fensterbank, damit ich freie Bahn habe. Als ich mit der Cremerei fertig bin, finde ich meine Brille nicht wieder. Komischerweise ist auch das Fenster jetzt angelehnt, das hat wohl der Wind gemacht. Anscheinend ist die Brille über Bord gegangen.

So muß ich meine Ersatzbrille hervorkramen und mich auf die Suche machen. Dazu muß ich an der vollbesetzten Cafeterrasse vorbei, die Köpfe drehen sich, wie ich zwischen den Büschen umherkrieche. Die Brille ist verschwunden. Dann suchende Blicke nach oben in die Baumzweige, die Leute gucken auch. Endlich nochmal ein Blick auf die Erde, da stehe ich fast auf der Brille, die zum Glück unversehrt ist. Ich setze sie gleich auf und passiere noch einmal die staunenden Cafegäste und versuche mich im "coolen Gang".

Als wir unser Abendessen einnehmen, erscheint ein beflissener Herr, setzt sich in lässiger Haltung an einen Tisch und verlangt den Chef zu sprechen. Wie wir dem Gespräch entnehmen können, handelt es sich um die Anmeldung einer Busgesellschaft. Der lässige Herr verkonsumiert bei der Verhandlung mehrere Bier auf Kosten des Hauses. Er benimmt sich jedenfalls, als sei es eine Gnade seinerseits, dieses Lokal ausgesucht zu haben. Um wieviele Gäste es sich handeln wird, weiß er allerdings auch nicht, wir tippen auf eine Werbefahrt.

Montag, 5.7.

Am nächsten Morgen reisen wir weiter. Der Chef erzählt uns noch, daß er aus Thüringen sei, und daß das Gebäude dahingehend verschönert werden soll, daß alles der romantischen Umgebung gerecht wird.

Heute durchfahren wir wieder ein Landschaftsjuwel, die Seenplatte zwischen Neustrelitz und Rheinsberg. Das sind lauter kleinere Seen, die verträumt zwischen Wäldern liegen. Sie sind fast alle irgendwie miteinander verbunden, wer hier mit dem Paddelboot unterwegs ist, kommt auf seine Kosten.

Kleiner See

Dafür sind die Straßen weniger gut, einsam und sandig. Oftmals heißt es wieder, das Rad zu schieben. Bei Fleeth am Vilzsee liegt eine alte Sägemühle. Das Mühlrad befindet sich im Inneren des Gebäudes und ist nur durch ein Fenster zu sehen. Ich mache von einem Steg ein Foto von der seerosenbedeckten Wasserfläche.

An einer Schleuse schauen wir zu, wie ein Paddelboot abngeferigt wird. Eine Frau bedient die Schleusentore, anscheinend kostet das Ganze nichts.

Mittags erreichen wir Rheinsberg mit dem durch Tucholskys Roman berühmten Schloß. Von weitem sieht es gut aus, von nahem durch abblätternden Putz wie ein Streuselkuchen. Besichtigen kann man es derzeit auch nicht. Aber man arbeitet daran.

Schloß Rheinsberg

Wir wenden uns nun nordöstlich durch endlose Wälder. In Neuglobsow kommen wir an den Großen Stechlinsee. Dieser ist nun wiederum berühmt durch Fontane. Ich habe den Stechlin erst vor einiger Zeit gelesen und war nicht so begeistert. Es werden viele schöngeistige Gespräche geführt, die einen heute nicht mehr vom Hocker reißen.

Dem See ist das wohl wurscht. Er liegt still, von Wäldern umgeben. Mit zwei aneinandergepaßten Fotos versuche ich ein Panoramabild.

Der Stechlinsee

Die Restetappe führt uns nach Gransee. Hier gibt es eine Stadtmauer, wir versprechen uns wieder ein malerisches Städtchen. Durch das Neuruppiner Tor fahren wir hinein in den Ort. Die Suche nach einem Informationsbüro verläuft vergebens. Das Büro hat man aufgelöst, das sei eine ABM-Stelle gewesen, erfahren wir bei der Lokalzeitung neben der Kirche.

An der Hauptstraße gibt es das Hotel Lindenhof, da fahren wir nun hin. "Restaurant ab 18 Uhr geöffnet" steht an der Eingangstür. Da müssen wir uns irgendwie hintenherum Eingang verschaffen, was auch nach einigen Versuchen gelingt. Wir bekommen ein Zimmer nach hinten raus, wo man vom Verkehrslärm verschont ist. Auch dieses Hotel ist tip top renoviert, alles nach dem neuestem Stand.

Ein mittelalterliches oder historisches Ortsbild hat Gransee nun gerade nicht. Aber es bietet ein geschlossenes Bild einer typisch märkischen Kleinstadt aus Ackerbürgerhäusern. Das ist irgendwo zu lesen. Bemerkenswert ist der Schinkel Platz, früher Marktplatz. Dort steht ein von Schinkel entworfenes Denkmal für eine Landesregentin namens Viktoria Wilhelmine oder so. Die huldigende Inschrift auf dem Denkmal endet mit der traurigen Mitteilung: "Oh Jammer, sie ist hin".

richtig:
"Dem Andenken der Königin Luise Auguste Wilhelmine Amalie von Preußen,
Geboren den 10. März 1776, gestorben den 19. Julius 1810.
Nachts den 25. Julius stand ihre Leiche hier."

und ferner:
"An dieser Stelle sahen wir jauchzend ihr entgegen, wenn sie, die Herrliche in milder Hoheit Glanz mit Engelfreudigkeit vorüberzog"
und:
"An dieser Stelle hier, ach, flossen unsre Tränen, als wir dem stummen Zug betäubt entgegensahen: o Jammer, sie ist hin"

Bild 1 In Gransee

Wie wollen wir unsere Tour nun abschließen? Freund Wener M. in Berlin ist telefonisch zunächst nicht erreichbar. Ich schlage die Weiterfahrt bis an die Oder vor, darüber ist Heidi weniger begeistert. Sie baldowert ein paar Dachgeber-Adressen in Berlin-Mitte aus. Da ist alles vertreten, von der Wohngemeinschaft, über Gartenhäuser, Prenzlauer Berg oder Alexanderplatz bis zur Hausbesetzung. Ehe wir uns auf so ein Abenteuer einlassen, erreichen wir Werner aber doch noch und können die oft ausgesprochene Einladung nach Berlin nun endlich wahrnehmen.

Dienstag, 6.7.

Tief im Wald

Die letzte Etappe also von Gransee nach Berlin. Kraatz-Buberow und Kleinmutz, dann Zehdenick, eine größere Stadt. Danach verfransen wir uns im märkischen Wald. Aus dem tiefen Sand erlösen uns zwei Pilzsucher, die uns den Weg nach Krewelin beschreiben. Pilze haben sie nur wenig vorzuweisen. "Dann gehn wir eben angeln" meinen sie. Von Krewelin bis Liebenwalde geht es am Rand der Schorfheide durch grüne Wiesen parallel zum Malzer Kanal entlang. In Liebenwalde wird Heidi bei einem Bäcker fündig und bringt zwei Zuckerstücke an.

Am Oder-Havel Kanal biegen wir rechts ab in einen nicht enden wollenden Wald Richtung Oranienburg. "Gut, daß wir nicht in Polen sind" bemerke ich angesichts der Waldeinsamkeit. Später erzählt Werner M., daß die Oranienburger Heide nicht so ohne ist, da würden häufiger Autos aufgebrochen.

Uns passiert das aber nicht, keine Menschenseele läßt sich auf 15 km Fahrt blicken und wir erreichen in Schmachtenhagen wieder das Tageslicht. Auf dem Weg nach Oranienburg ein Hinweisschild auf Massengräber im Wald, die wohl erst nach der Wende entdeckt wurden. Wir suchen die Gedenkstätte Sachsenhausen auf, zu Hitlerzeiten ein KZ, danach Internierungslager der Russen. Vor einigen Monaten haben hier Neonazis einen Brandanschlag auf eine der Lagerhallen verübt.

Sachsenhausen

Daneben befindet sich die Halle mit den ehemaligen Gefängniszellen. Bekannte Personen, die hier in Einzel- oder Dunkelhaft, z.T. monate- und jahrelang gefangen gehalten wurden, werden auf Schautafeln vorgestellt. Die Fotoapparate klicken. Zweifelhafter ist die ehem. Pathologie. Das geht nur knapp an einem Gruselkabinett vorbei.

Wir sind uns darüber klar, die Vergangenheitgsbewältigung reicht nicht in die Gegenwart. Viele schöe Worte macht man ja, aber was heute so auf der Welt passiert, was hat sich gebessert?

In Oranienburg schluckt uns der Großstadtverkehr. Auf der Suche nach einer Nebenstrecke Richtung Berlin lernen wir allerhand verschwiegene Ecken von Außenberlin kennen. Das bringt uns aber nicht weiter, an einem Hundeübungsplatz im Winkel zwischen Oranienburger Kanal und Autobahn geben wir auf und steuern direkt die S-Bahnstation Birkenwerder an.

Von hier können wir direkt mit der S1 nach Lichterfelde fahren, wo M.s wohnen. Ordnungsgemäß lösen wir die Fahrkarten für uns und die Räder. Erst unterwegs entdecken wir, daß man die auch entwerten muß. Das sorgt wieder für Spannung, aber wir schlüpfen durch das Überwachungsnetz.

Als wir bei M.s eintreffen, ist die Radtour zuende. Geplant sind nun noch zwei Tage in Berlin, Heidi war seit ihrer Schulzeit nicht mehr richtig in Berlin.

Untergebracht werden wir unter'm Dach juchhee, wo uns die beiden Jungs die elektrische Eisenbahn beiseiteräumen. Dafür muß ich mit Ihnen, so oft es geht, Tischfußball spielen. Wenn ich das nächste Mal hinkomme, schneide ich sicher schlechter ab...

Mittwoch, 7.7.

Diesen Tag nehmen wir uns für Berlin-Mitte vor. Zuerst geht es zum Kudamm, Regen und kalte Windböen vermiesen uns diesen einigermaßen. Der Kudamm besticht durch Einrichtungen wie H & M, C & A, Peek & Cloppenburg oder Mac Donalds. Das Cafe Kranzler wirkt mehr wie ein Fremdkörper.

Ich gebe meine Filme zur Schnellentwicklung ab, damit wir sie gleich herumzeigen können. Die Zeit bis zum Abholtermin der Bilder überbrückt man mit einem Bummel an der Gedächtniskirche, durch das Europacenter und das Kaufhaus KaDeWe. Im Europacenter ruft jemand hinter uns "Die sind bestimmt mit dem Fahrrad da!" Das ist Kollege H., der mit seiner Frau die Tour Schwerin, Rostock, Berlin, Dresden macht. Aber mit dem Auto. Um drei Uhr sei eine Führung durch den frisch aufgemöbelten Dom, erfahren wir.

Europacenter

Das Wetter ist scheußlich und wir sind froh, nicht mehr auf den Rädern zu sitzen. Endlich sind die Bilder fertig, mit dem einen Film sei etwas nicht in Ordnung, ob der überaltert sei. "Weiß ich auch nicht, den habe ich vor einer Woche in Wusterhausen gekauft".

Nun fahren wir in Richtung Unter den Linden. Mit dem 24 Stunden Ticket für alle Berliner Verkehrsmittel kann man völlig ungeniert herumgondeln. Unter den Linden regnet es, in einem Cafe wettern wir das ab. Als wir das Cafe verlassen, regnet es weiter.

Der Gang durch das Brandenburger Tor fühlt sich heute nicht mehr so historisch an. Für Heidi ist es aber das erste Mal. Vor dem Regen flüchten wir in den Reichstag, wozu hat man als Steuerzahler schließlich dessen Wiederaufbau finanziert. Im Reichstag ist eine große Dauerausstellung über Deutschlands Geschichte. Mittelalter, Preußen, Sturm- und Drang- und Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Weltkriege, Trümmerfrauen und Wirtschaftswunder, zuletzt die Wiedervereinigung genau hier auf dem Balkon. Nur die kurze Geschichte der DDR vermissen wir, vielleicht haben wir die entsprechenden Exponate aber nur übersehen.

Mit dem Bus fahren wir anschließend zum Alexanderplatz d.h. zwei Stationen zu weit, die wir wieder zurücklaufen müssen. Der Wind bläst um alle Ecken, da macht das nicht so richtigen Spaß. Vor einem Schuhgeschäft setzen sich die rollenden Auslageregale in Bewegung, ein paar Passanten werden fast überrollt. Die Straßenhändler haben ihre Auslagen mit Plastikfolien abgedeckt, da läuft heute nichts.

So stolpern wir bald in die nächste Ausstellung, "Der Traum vom anderen Deutschland" in der Marienkirche. Unter einem anderen Deutschland stelle ich mir in Gedanken eine ökologisch anders orientierte Gesellschaft vor. Die Erwartung ist falsch, es handelt sich um eine Ausstellung über den Widerstand im Nationalsozialismus und die Judenverfolgung. Da haben wir nun einiges absolviert, gestern Sachsenhausen, vorhin die Deutsche Geschichte und nun der Traum vom anderen Deutschland.

Als ob er das geahnt hätte, tritt plötzlich ein Reporter mit einem Mikrofon auf uns zu, er sei vom Westdeutschen Rundfunk. Was unser Eindruck von dieser Ausstellung sei. Da kann man mit gemessener Stimme den Bogen spannen mit dem Fazit, daß die Lehren aus der Vergangenheit nichts nützen, wenn man es heute nicht besser macht.

Ob wir jetzt wohl im Rundfunk kommen?

Nun ist es höchste Zeit für den Dom. Da ist mächtig was los, vor ein paar Tagen wurde er nach der Restaurierung wohl erst wieder eröffnet. Die Orgel spielt. Der Nachhall umfasse mehrere Akkorde, erklärt uns Werner später, dadurch sei die Akustik schwammig. Das Orgelspiel wirkt auch wie ein stetes Brausen. Alles andere blitzt nur so, hier muß erstmal wieder etwas Staub und Patina ansetzen. Alt sind dagegen die Sakopharge der ersten Preußenkönige. Ob mit oder ohne Inhalt wissen wir nicht.

Berliner Dom

Um die Ecke ist die Museumsinsel. Eine Touristenfamilie eilt vor uns einem ungewissen Ziel entgegen und fragt mehrmals nach dem Wege. Heidi besteht darauf, daß wir da hinterhergehen, das sei doch sicher interessant, was die suchen. So landen wir im "Pergamon Museum".

Taschen müssen an der Garderobe abgegeben werden, also auch mein Rucksack. "Eigentlich wollte ich ein paar antike Steinköpfe einpacken" sage ich zu der Garderobenfrau. "Wat woll'nse mit dem ollen Steinzeugs" antwortet die.

Gleich die erste Halle birgt den Pergamon Altar. Leider wirken die Figurenfriese eher wie ein großes Puzzlespiel, bei dem viele Teile fehlen. Man kann schnell berühmt werden, wenn man irgendwo auf der Welt ein Gesteinsfragment als der Pergamongruppe zugehörig erkennt. Das Teil wird dann auf den Namen des Finders getauft und in das Puzzle eingefügt.

Nebenan ist ein babylonisches Stadttor aus blauen Klinkern. Auch die sind aus lauter Scherben zusammengesetzt, eine mühevolle Arbeit sicherlich. Als Fachmann für das Verlegen von Terrassenfliesen schaue ich mir das ganze sachkundig an. Ebenso ein Original Bodenmosaik aus der Römerzeit.

Durch die Ausstellungsräume für die islamische Kultur gehen wir schon mit halb geschlossenen Augen und gähnend. Bei einigen Teppichen kann man genau nachvollziehen, wie sie aufgerollt im Wasser gelegen haben müssen und von außen nach innen vergammelt sind. "Wann ist hier Sperrmüll?" frage ich Heidi.

Abschließend klopfe ich mal vorsichtig auf eine der Pergamon- Figuren, um zu prüfen, ob die wohl auch aus Marmor sind. Schon werde ich angezischt: "Nicht berühren!!!" und ein Blick aus funkelnden Brillengläsern, daß man im Boden versinken möchte. Das war eine der aufsichtführenden Kellerasseln, die allgegenwärtig sind.

Als wir aus dem Museum herausschwanken, sind wir reif für einen Kaffee. Den nimmt man am besten im Nikolaiviertel ein. Auf dem Weg dorthin passiert man das alte Berliner Schloß, obwohl das gar nicht mehr existiert. Man hat es für eine Weile aus Plastikbahnen wiedererstehen lassen, dh. nur einen Teil seiner Fassaden. Man möchte den Berlinern den Wiederaufbau wenigstens der Fassaden schmackhaft machen. Das ist wieder eine Kostenfrage.

Schloßattrappe
Gerüstimpression

Das Nikolaiviertel hat man noch zu DDR-Zeiten zur 750-Jahrfeier Berlins wieder aufgebaut. Ehemals das Zentrum Alt-Berlins ist das nicht unbedingt geschmackvoll geraten, indem man Betonfassaden auf alt getrimmt hat.

Zum Abschluß des Tages soll es noch nach dem sagenumwobenen Kreuzberg gehen, wo die "Szene" ist, Trödler und Läden aller Art usw. Mit der U-Bahn fahren wir zum Moritz-Platz. Wir fragen einen jungen Mann, wo das eigentliche Kreuzberg sich befinde. Das kapiert er nicht. "Na, wo es am heißesten hergeht" bohren wir weiter. "Das ist .. da und da.., da heißt es Taschen festhalten" meint er nun. "Kann ich Euch helfen?", mischt sich ein freundliches Mädchen ein. "Wir wollen einen Bummel durch Kreuzberg machen, wo lohnt sich das am meisten?" Hoffentlich versteht man das jetzt. "Immer hier runter, Oranienburger Platz, da sind viele Geschäfte Kneipen und sowat."

Na dann mal los. Die Geschäfte sind meistens schmucke, von Türken betriebene Obstläden. In einem Trödlerladen fingert Heidi schon wieder an Zigarettendosen rum, die sind aber wohl nicht aus Silber, sondern aus Blech.

In den Kneipen sitzen schon etwas schrägere Typen, da bleibt man lieber draußen. Das ist alles. Wir wenden uns dann hoffnungsvoll noch mehr in Richtung Spree, aber da ist nur Industrie. Etwas enttäuscht von Kreuzberg, das wir wohl doch nicht richtig gefunden haben, laufen wir den Schlesischen Bahnhof für die Rückfahrt an.

Am Abend stimmt uns Werner mit einem Videofilm über Potsdam schon auf den folgenden Tag ein.

In der Nacht träume ich was von einer Rast, bei der wir das Gepäck nicht weit von uns an einen Baum gelehnt haben. Ein zweifelhaftes Individuum nähert sich und setzt sich neben das Gepäck. Mich durchzuckt der Schreck: nachher ist das ein Taschendieb. Ich werfe mich nach rechts, um das Gepäck in Sicherheit zu bringen. Da ist der Traum zuende. Mit ziemlicher Wucht knalle ich mit der Stirn gegen eine Schrankkante neben unserem Lager. Sogar ein Stockwerk tiefer wacht man auf. Mir wächst eine schöne Beule.

Donnerstag, 8.7.

Mit etwas Kopfschmerzen bei mir machen wir uns auf den Weg nach Potsdam. Die Fahrräder nehmen wir mit, das geht mit der S-Bahn problemlos. In Wannsee muß man umsteigen. Wir besorgen uns hier gleich die Fahrkarten für die Rückfahrt nach Braunschweig, dort werden wir noch vor Mitternacht ankommen.

In Potsdam Richtung Wildpark und dem Park von Sanssouci landen wir, - es schließt sich der Kreis -, noch einmal auf der B1, Deutschlands Lebensader. Im Park angekommen, vergessen wir den Verkehrsgestank ganz schnell.

Das Neue Palais präsentiert sich frisch renoviert. Die Klinkerausfachungen sind aber nur aufgemalt, lediglich an den Seitengebäuden sind sie teilweise echt. An jedem Eingang, ob Schloßtheater, Treppenhaus oder Toilette befinden sich Eintrittskassen. Wir landen im Schloßcafe, wo es keinen Eintritt kostet. Unter Spiegeln, Marmor und alten Gemälden schlürfen wir unseren Kaffee.

Das Neue Palais

Mit den Rädern fahren wir weiter zum Schloß Charlottenhof. Obwohl in diesem Park das Radfahren verboten ist, mogeln wir uns auf den weniger belebten Nebenwegen durch, sonst würde man sich die Hacken ablaufen. Charlottenhof ist samt Interieur von dem allgegenwärtgen Schinkel entworfen und eingerichtet. Eine Besichtigung kann wegen der gleich beginnenden Mittagspause nicht stattfinden.

Nächste Station sind die Römischen Bäder. Hier endecken wir die Plastik des "Butt" am unteren Ende einer Regenrinne. Einer der preußischen Regenten hatte den Spitznamen Butt, da hat sich der Erbauer der römischen Bäder diesen Schabernack erlaubt.

Der Butt

Um die römischen Bäder zu fotografieren, stapfe ich duch eine sumpfige Wiese am Parkrand. Ein Reh springt auf. Heidi beobachtet inzwischen an einem Haus für das Parkpersonal zwei Jugendliche, vielleicht 12 und 14 Jahre alt, die sich mit Hochprozentigem vollaufen lassen. "Korn schmeckt nicht nach Whisky" lallt einer, noch nicht im Stimmbruch. Wir machen, daß wir weiter kommen.

Römische Bäder
Chinesisches Teehaus

Mit viel Gold verziert leuchtet das Chinesische Teehaus in der Sonne. Das paßt eigentlich nicht so ganz in die Landschaft. Dann stehen wir vor der Orangerie, oben die Windmühle, da gab es doch auch so eine Geschichte mit dem Alten Fritz und dem Müller...

Die Windmühle
Freitreppe von Sanssouci

Wir kommen dann am unteren Ende der Freitreppe von Sanssouci heraus. Hinter den vergitterten Verschlägen auf den Terrassen wachsen Feigen. Heidi prüft die Angelegenheit auf Ableger. Dann müssen wir mit den Rädern hinaufschieben. Seitdem wissen wir genau, wieviele Terrassen es gibt: genau sechs.

An der Eintrittskasse zum Schloß steht eine Warteschlange. Nächste freie Führung 16 Uhr, das ist in drei Stunden. Also wieder nichts mit der Bildung. Wir umrunden also noch einmal das Schloß in der Hoffnung, die erst im Vorjahr mit großem Pomp eingerichtete und wieder gefüllte Gruft Friedrich des Großen zu finden. Auch das mißlingt.

Also schwingen wir uns wieder auf die Räder und fahren in die Potsdamer Innenstadt. Mit der Brandenburger Straße erwischen wir die belebteste Fußgängerstrasse von Potsdam. Anläßlich der 1000 Jahr-Feier kommen in dieser Zeit viele Besucher hierher. Gleich neben der P. Paul-Kirche finden wir das Holländer-Viertel. Das wurde für holländische Neusiedler angelegt, damit die nicht so ein Heimweh bekommen. Hat aber nichts genutzt, heute ist kein Holländer mehr da. Das Straßenbild mit den hohen Backsteingiebeln ist ganz einheitlich.

Holländer-Viertel

Potsdam hat auch ein weniger berühmtes Brandenburger Tor, das lassen wir links liegen und erreichen das russische Viertel. Hier liegen die im russischen Baustil erbauten Holzhäuser verstreut in einem Parkgelände, das ist nicht so beeindruckend. Die russische Kirche auf dem .....berg ist von einem Baugerüst umstellt. Da sparen wir uns den Aufstieg.

Ich versuche mich an einer Abkürzung zum Park von Schloß Cecilienhof. Schon bald weiß ich nicht mehr, wo wir sind. Wir durchqueren eine Schrebergartenkolonie, leider hat das dortige Lokal Gärtner's Ruh oder so ähnlich, gerade Ruhetag. Wir fragen einen Mann in einer Grundstückseinfahrt nach dem Weg. "Das weiß ich nicht, ich bin immer nur bis hierher gekommen" sagt der, anscheinend ein Weltreisender. Ein wenig weiter weiß man besser Bescheid.

Cecilienhof

Als wir über eine Straße den Park erreichen und bald vor Schloß Cecilienhof stehen, da bin ich aber froh. Hier wurde mit dem Potsdamer Abkommen im Jahre 1945 das großdeutsche Reich zerlegt und filetiert. Für DM 3.- besichtigen wir genau drei Räume: einen Flur mit ein paar Fotos von Stalin, Churchill, Roosevelt und erläuterndem Text, dann den Sitzungsraum selbst mit dem großen runden Tisch, schließlich den Weißen Salon mit Ausblick auf den Heiligen See. Eine Schulklasse fläzt sich auf der Erde, einer schläft in einem Stuhl ein. Schade, denn wir schließen uns immer gern fremden Führungen an. Aber diesmal verläßt angesichts der Schläfrigkeit ringsum den Vortragenden die Lust, und er geht unter Protest ab in den nächsten Raum.

Nach wenigen Minuten sind wir wieder draußen und wundern uns, wofür man die drei Mark Eintritt bezahlt hat. Aber wir können locker noch mehr Geld ausgeben. Dazu nähern wir uns dem Hotel Cecilienhof, eine der vornehmsten Adressen ganz Berlins. Auf die Außenterrasse kommt man nur von innen, das ist uns zu umständlich und wir übersteigen eine Absperrungsleine. Dann nehmen wir Platz, lassen uns die Karte geben und bestellen das preiswerteste Gericht: Matjesfilet für 18.- DM. "Getränke, nein danke".

Nach einer halben Stunde wird dann endlich der Matjes serviert, den hohen Preis rechtfertigt nur die Umgebung. Auf Cecilienhof sieht, wie zu lesen ist, jeder Schornstein anders aus.

Inzwischen hat sich ein Paar an unseren Tisch gesetzt, das scheint einem Witzblatt entsprungen zu sein. Sie ist überproportional gebaut, trägt eine knallrote Bluse und durchbrochene Leggins. Er dagegen ist klein und mickerig. Er darf einen Kaffee mit Marzipankuchen bestellen. "Du und Marzipan?" äußert die Dame aber verwundert. Sie bestellt dagegen einen Geflügelleberspieß mit einem trockenen Badener Wein. "Sowas haben wir in der Ungarischen Botschaft auch gegessen" sagt sie zu ihrem mümmelnden Partner. "Wenn Du den Kuchen nicht schaffst, laß ihn mir als Nachtisch" meint sie ermunternd. Die Schweißperlen der Dame unter dem kurzgeschorenen Haar vertreiben uns schließlich, wir zahlen ohne Trinkgeld. Im Innern des Hotels sitzen reichlich Japaner und verprassen ihre Spesen.

Ein Abstecher zum Marmorpalais bringt nichts ein, das Gebäude ist eingerüstet. Der Park soll einer der schönsten Landschaftsgärten sein, er wurde von Peter Josef Linne eingerichtet. Uns ärgert dieser posthum, indem wir erst einen Berg hinaufschieben, dann wieder hinunterbremsen müssen.

Mit Blick auf die Rückfahrt lotse ich Heidi über die berühmte Glienicker Brücke. Hier wurden immer die Agenten ausgetauscht, das ist nun wohl vorbei! Das mit der Glienicker Brücke hätten wir lieber lassen sollen. Wir geraten in eine ehemalige Exklave von Ostberlin am Glienicker Ufer. Die nach Babelsberg führende Brücke ist nicht passierbar. So müssen wir über 10 km am Griebnitzsee entlangfahren und kommen erst bei Kohlhasenbrück in die Nähe der S-Bahn. Als das Ortsschild Potsdam am Straßenrand erscheint, erklärt Heidi mich wieder für verrückt, den da kämen wir doch wohl die ganze Zeit her, oder was! Kurz darauf sind wir aber in der S-Bahn - gerettet!

Zurück zu M.s, noch ein Plausch in der Abendsonne und ein stärkendes Abendessen, die Räder wieder aufgepackt und winkend machen wir uns von dannen. Mit der S-Bahn geht es nochmal nach Potsdam, dort wollen wir unseren Zug nach Braunschweig besteigen. Nun liefern wir unser letztes Kabinettstückchen.

Auf dem Wagenstandanzeiger ist eingetragen: Gepäckwagen am Schluß des Zuges, Abschnitt D auf dem Bahnsteig. Dort bauen wir uns auf und erwarten gelassen die Einfahrt des Zuges. Eine ganze Minute soll der Aufenthalt haben. Als er ausrollt ruft ein Mitropa-Angestellter aus dem Wagenfenster: "Hier ist nur der Postwagen, der Fahrradwagen ist vorn!". Hoppel-hoppel, das kennen wir schon. Heidi steigt einfach auf und radelt am Zug entlang. Bei mir mit den Pedalhaken und den losen Gepäcktaschen gelingt das nicht so schnell. "Einsteigen und die Türen schließen!" ertönt es aus dem Lautsprecher. Die Türen knallen. "Heidi!!" rufe ich der enteilenden Gattin verzweifelt nach, reiße eine x-beliebige Abteiltür auf und zerre das Rad hinauf, die Gepäcktaschen fallen runter. "Hierher!!" schreit Heidi, sie hat den Fahrradwagen erreicht. Ich zerre wieder alles zurück, bleibe mit dem Rucksack hängen, mit einigen blauen Flecken komme ich auch noch zu potte. "Nun mal ruhig, ohne Sie fahren wir schon nicht ab" sagt der Bahnsteigbeamte. Man wartet nur auf uns, die Köpfe hängen aus allen Fenstern. Endlich sind auch wir mit hochroten Gesichtern im Innern des Zuges, einen Platz finden wir dann erst drei Waggons weiter.

Außer, daß in unserem Abteil ein sonderbarer Mensch sitzt, der ohne die kleinste Pause eine Zigarette nach der anderen raucht, die Kippen anschließend sortiert und in seinen Taschen verstaut, mit heiserer Stimme uns zum Mitrauchen ermuntern will, sich schließlich in Magdeburg per Handschlag verabschiedet, ereignet sich nichts bemerkenswertes mehr. Vom Braunschweiger Bahnhof rollen wir ganz gemütlich durch die Nacht nach Hause.

Angesichts der vielen Ortsnamen, die bei der Beschreibung einer solchen Tour unvermeidbar anfallen, sei der folgende Vers aus Fontanes Gedicht "Havelland" zitiert, entnommen dem Buch "Franz Fabian, An der Havel und im märkischen Land":

Und an dieses Teppichs blühendem Saum
all die lachenden Dörfer, ich zähle sie kaum;
Linow, Lindow,
Rhinow, Glindow,
Beetz und Gatow,
Dreetz und Flatow,
Bamme, Damme, Kriele, Krielow,
Petzow, Retzow, Ferch am Schwielow,
Zachow, Wachow, und Groß Behnitz,
Marquardt-Uetz an Wublitz Schlänitz,
Senzke, Lentzke und Marzahne,
Lietzow, Tietzow und Reckahne,
und zum Schluß in dem leuchtenden Kranz:
Ketzin, Ketzühr und Vehlefanz.


Falls es dazu etwas zu bemerken gibt:
mail: m.wittram@tu-bs.de
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