Der Weg führt auf die Berge zu, bei leicht südlichem Wind und Sonnenschein eine schöne Sache. Vor mir fährt ein Rennfahrer in gemächlichem Tempo. Um ihn nicht zu überholen halte ich erstmal an und passe die Bekleidung dem warmen Wetter an. Dann muss ich den sportlichen Fahrer doch überholen, es handelt sich um einen radfahrenden Methusalem. Selbst der ausgeblichenen Radlerhose sieht man die zahlreichen Fahrkilometer an. An einer Abzweigung schaue ich mich kurz um und erschrecke, der Radfahropa hat sich an mein Hinterrad gehängt und fährt im Windschatten, das habe ich gar nicht gemerkt. Hoffentlich habe ich mich nicht daneben benommen.
Bei der sich anschliessenden Steigung fahre ich langsamer, da überholt er mich und nun fahre ich im Windschatten. Nach einer Weile komme ich mir aber schäbig vor, so einem alten Herrn die Arbeit zu überlassen. Wie bei einem eingespielten Team übernehme ich wieder die Führung. Eng bleibt der Opa an meinem Hinterrad und schweigend bolzen wir ein paar Kilometer ab.
In Caunes-Minervois kommt dann die Abzweigung in Richtung Col de Salette, den ich mir für heute noch vorgenommen habe. Da ruft es mit brüchiger Stimme hinter mir "Bonne Route!" und mit einem Winken verabschieden wir uns. Das war doch mal eine nette Episode!
Nun geht es bei mässiger Steigung ein enges Tal hinauf. Der Wind bläst von hinten, das kann man immer brauchen. Überall leuchten gelb die Ginsterbüsche. Hoch oben im Tal liegt der nächste Ort Citou verwunschen an die Berghänge geklebt. Die Leute geniessen die Nachmittagssonne und haben die Stühle auf die Strasse gestellt. Da fliegt mancher freundliche Gruss hin und her. Häufig findet man Wassertröge, wo frisches Wasser aus einem Rohr fliesst. So habe ich mit dem Auffüllen der Trinkflasche keine Probleme, in der Hoffnung, mir keine Salmonellen oder Steptokokken oder sonstwas einzufangen.
Weiter oben fährt man unterhalb einer alten Burg, nach
Umfahren von ein paar Serpentinen findet man sich über ihrem Turm
wieder. So langsam halte ich schon Ausschau nach dem Ende des Anstiegs.
Viele leuchtendrot blühende Orchideen
stehen an der Strasse. Das verkürzt einem etwas den schweisstreibenden
Aufstieg. Gut dass man vorher immer nicht weiss, wie lang so ein
Anstieg ist, dieser will und will nicht enden. Immerhin sind von einer
Höhe von etwa 100 m bis zur Passhöhe von 913 m über 800 Höhenmeter zu
erklettern.
Einmal geht alles zuende, auf der Höhe eines Passes kann man immer stolz auf die vollbrachte Leistung sein. Die Abfahrt wird schnell wieder gestoppt: die Wiesen sind blau von wilden Stiefmütterchen, die müssen erst einmal fotografiert werden.
Wenig später ein Aussichtsfelsen, der Roc Suzadu. Ein Mann liegt in der Sonne auf einer Bank. Ich turne um die Felsen herum und mache ein Foto. Da erscheint die zu dem Mann gehörige Frau mit einem Büschel Orchideen in der Hand. Zum Glück reichen meine Sprachkenntnisse nicht aus, darob eine Diskussion in Gang zu setzen.
Es folgt der kleine Ort Verrieres, der liegt ganz unten im Talgrund und hat sich wohl zu keiner Zeit einer besonderen Bedeutung erfreut. So steht man nachdenklich vor einer Gedenktafel für Opfer des Widerstandes (Resistance) während des Weltkrieges. An die 10 Leute dieses Ortes, auch Frauen dabei, sind aufgeführt. Welche Tragödien sich um die Hintergründe ranken mögen. Mein Französisch reicht aus, um zu übersetzen: "Ihr seid gestorben, damit wir leben". Sowas steht auch auf unseren Gedenksteinen - wie sinnlos das alles ist!
Nun geht es nur noch hinab nach St. Pons, meinem heutige Ziel. An der Kreuzung ist das Hotel, wo ich mein Zimmer bekomme. Das Fahrrad wird in einer Garage, gross wie eine Katakombe, untergestellt. Im Ort gibt es nicht viel zu sehen, ein paar enge Gassen und dunkle Häuser. Die Bordsteine sind aus Marmor, davon scheint es in der Gegend genug zu geben.
Mein Abendessen ist heute ein Volltreffer: Truit aux Roquefort. Das entpuppt sich als Forelle mit Käse überbacken und schmeckt äusserst lecker. Leider sind die Pommes eher ein kulinarischer Fehlgriff.
Sonst ist von dem Aufstieg nichts zu berichten, nach 1.5 Stunden und 10 km bin ich oben auf dem Col du Cabaretou, 949 m. Alles liegt in den Wolken und der Nieselregen kühlt einen nach dem schweisstreibenden Anstieg schnell aus. Hinunter nach Salvetat s. Agout, der Ort liegt sehr malerisch auf einer Anhöhe. Ein paar Stauseen in der Nähe sorgen für Tourismus.
Ich fahre ein wenig in dem Ort herum, wieder die engen Gassen wie im Mittelalter. Dann geht es weiter hinauf, noch ein Pass, der Col de Piquotalen 1004 m. Aschliessend hinunter nach Lacaune, zahlreiche Apotheken lassen darauf schliessen, dass hier reger Kurbetrieb herrscht. Und wieder hinauf auf den Col de Sie, 999 m.
Endlich ist Schluss mit den Aufstiegen. Der Regen hat
aufgehört und in den Wolken befindet man sich auch nicht mehr. Trotzdem
gestaltet sich die Abfahrt nicht einfach. Ein heftiger Seitenwind droht
einen mitunter geradezu von der Strasse zu fegen. Die Landschaft ist
mit einem Male völlig anders. Ist man bislang hauptsächlich in
bewaldeten Tälern unterwegs gewesen,
ist hier eine baumfreie Hochfläche, durchzogen von grünen Tälern mit
blühendem Ginster und Schafweiden. Weit kann man vorausschauen in die
Hochebene, die schliesslich vom Tal des Tarn tief eingeschnitten wird.
Aber noch sind wir nicht so weit.
Fast zwanzig Kilometer geht es hinab. In langgezogenen Kehren braucht man kaum in die Bremsen, und kann sich ungetrübt am Verbrauch der Höhenmeter erfreuen. Man erreicht den Ort Belmont, in dem alles aus rotem Sandstein erbaut ist. Das ist das Material der Gegend.
Ich erreiche die Schnellstrasse nach St. Affrique, wohin es noch etwa 15 km sind. Nach eingehendem Kartenstudium aber wird umgeplant: man kann auch an einem kleinen Fluss entlang direkt hinunter zum Tarn fahren. Auf der Weiterfahrt beglückwünsche ich mich selber, mit Rückenwind und bergab, auf 20 km Länge verlernt man fast das Treten. Ausserdem ist natürlich das Tal (Gos) von seinem eigenen landschaftlichen Reiz.
Mit einem Mal glänzt eine grössere Wasserfläche. "Hallo, Tarn" sage ich vor mich hin - man wird ja nach einiger Zeit Alleinfahrt leicht wunderlich. Es folgt eine einspurige Brücke über den Tarn, dann geht es gleich in einen Tunnel von über 400 m Länge. Also Dynamo an und hinein. Der Tunnel verläuft in einer leichten Kurve, da hört das Tageslicht bald auf. Leider läuft der Dynamo wieder nicht richtig, der braucht immer erst seine Zeit. So stehe ich plötzlich im Stockdunklen und kann mich nur schlingernd an den Tunnelwänden entlangtasten. Da braust ein gewaltiger Lärm auf, als ob eine grössere Kolonne von Bau- oder gar Kriegsfahrzeugen sich nähert. Ich presse mich eng an die Wand, das Fahrrad stelle ich neben mich, um genügend Platz zu machen. Dann tauchen zwei kleine Pkws auf, das ist alles. Die Akkustik in diesem Tunnelgewölbe ist schon enorm!
Ich bin froh, als endlich das Tageslicht auftaucht und die Augen wieder etwas erkennen. Nun sollte man sich erstmal umschauen im Tal des Tarn. Die Landschaft ist noch nicht so wild wie weiter oben in den berühmten Schluchten. Dennoch ist das Tal 400 m tief eingeschnitten, die Hänge sind bewaldet. Da kaum Verkehr herrscht, breitet sich eine himmlische Ruhe im Tal aus. Da freut sich der Radfahrer!
Noch ein Tunnel, der ist nicht so lang. Dann folgt eine Schikane. Man muss über eine Brücke das Tal des Tarn verlassen, ein paar Kilometer den Nebenfluss Dourdou hinauffahren, den man nach einem weiteren Tunnel überqueren kann. Dann geht die ganze Chose wieder zurück, und nach 6 km Fahrt darf man die Stelle wieder begrüssen, wo man vorhin schon mal war, nur dass man das Ufer gewechselt hat.
Wie war das, "Der Weg ist das Ziel", das gilt hier in besonderem Masse. Die Weiterfahrt ist ein Genuss bei der Ruhe und den Ausblicken auf den Fluss. Leider ist der ab und an zur Energiegewinnug aufgestaut, da kann er sein Temperament dann nicht entfalten. Die Strasse führt dagegen ganz munter auf und ab, mal den halben Hang hoch, dann sogleich wieder hinunter.
Das letzte Stück vor St. Rome frisst die letzten Kräfte auf. Fast ganz bis auf die Hochebene zieht sich die Strasse hoch, um dann doch wieder hinunter auf den Talboden zu führen. Endlich taucht St. Rome auf. Am Fluss liegt ein Tuffelsen, durchlöchert wie ein Käse. Ein Wasserfall stürzt von hoch oben herab. Im Sommer ist hier sicher ein Badeparadies, wie der oben auf dem Felsen thronende Campingplatz vermuten lässt.
An der Brücke vor dem Ort lagert ein Pärchen Radfahrtouristen, ein seltener Anblick. Ein freundlicher Gruss, dann muss ich so tun, als ob mir der Anstieg nach St. Rome keine Mühe bereitet. Am Platz des Ortes ist das Hotel Commerce, das wär's für heute.
Wenig später finden sich auch die beiden Radtouristen ein. Sie sind aus London und fahren eine Woche lang in einem Gebiet herum, das ich Idiot in zwei Tagen durcheile.
Am Abend gibt es mal wieder Menue d'Jour für umgerechnet DM 16.50: grünen Salat, Wurst- und Schinkenplatte, Steak und Gemüse, Käse (die Platte wird zur weiteren Verfügug auf dem Tisch stehen gelassen) und zum Abschluss Eis. An der Theke in der Bar lässt einer lautstark hören, dass es ihm geschmeckt hat, ich mache das leiser.
Als ich schon auf meinem Zimmer bin, bricht unten in der Bar der Sturm los. Mit einem Lied fängt es an, es folgen weitere, bald begleitet von rhytmischem Stampfen und wohl Löffel-auf- den Tisch schlagen. Das Liedgut ähnelt auffallend dem aller internationalen Fussballfans mit Textfetzen wie "Rucki-zucki" oder "Ole-Ole-Ole..." usw. Pünktlich um 22 Uhr löst sich die Truppe allderdings auf, da ist man mit der Einhaltung der Nachtruhe offenbar sehr diszipliniert.
Die Fahrt durch das Tal des Tarn gestaltet sich wie am Vortag, weniger bergig zum Glück. Leichter Regen bis Millau, wo ich einen gehörigen Kredit bei meinem Schutzengel nehmen muss. Vor einem Kreisverkehr muss ich heftig bremsen, und ehe ich mich versehe, steht der Lenker quer und ich liege längs auf der Strasse. Der Asphalt ist vom Regen glatt, sodass erst die Reifen und dann der Fahrer gut auf der Strasse gleiten.
Als ich mich wieder aufgerappelt habe, hält ein Auto, man fragt nach Blessuren. Ich stammele was von "Petit Malheur" und erkläre, dass alles in Ordnung ist. Der Lenker ist verdreht, die Lampe verbogen, die Felgenbremsen verstellt. Aber - petit problem - es lässt sich alles wieder hinbiegen. Weniger gut geht es meinen Rippen, da habe ich mir eine Prellung zugezogen. Durch tiefes Durchatmen überzeuge ich mich, dass da keine Bruchstücke in die Lunge pieken, es fühlt sich auch alles ganz intakt an. Also kann ich weiterfahren, erstmal etwas klapperig.
Jetzt kommt die Sonne zum Vorschein, das gehört sich auch so, damit man auf andere Gedanken kommt. Dazu habe ich auf der ruhigen Strasse gegenüber von Eisenbahn und Nationalstrasse auch Gelegenheit. Man nähert sich der grossen Attraktion, dem Gorges du Tarn, 35 km lang. Die Felsen werden höher und schroffer und die Talwände rücken eng zusammen. In Le Rozier geht es los, hier wuselt aber auch schon das Volk wie an allen schönen Punkten dieser Welt. Die Sonne hat sich durchgesetzt, bei schönstem Wetter kann die bevorstehende Genussstrecke in Angriff genommen werden.
Das nimmt nun so seine Zeit in Anspruch, denn man ist gut beraten, möglichst oft anzuhalten und alles rings herum zu bestaunen. Da sind die Wassersportler, die den brausenden Fluss befahren. Wo es holperig wird, juchzen sie.
Am Strassenrand blühen wieder Orchideen, an den Felswänden wuchern üppige Moospolster. An einem Aussichtspunkt (Point Souci) darf man für 2 Fr. einen Felsen erklettern und die Aussicht geniessen.
Schlucht 1 Schlucht 2 Schlucht 3
Auf dem gegenüberliegenden Ufer gibt es einen Wandersteig, da sind auch welche zugange. Auf der Strasse heulen die Gelände- Motorräder, die sich in sportlicher Manier in die Kurven stürzen.
Über allem stürzen die Felswände senkrecht in das Tal hinab. Auffällig sind Hohlkehlen hoch über der heutigen Talsohle, vielleicht Auswaschungen aus vergangenen Jahrtausenden. Höhlen gibt es hier auch reichlich, nur bin ich zur Zeit eben mehr in oberirdischen Angelegenheiten unterwegs.
Eine Attraktion ist ein Anwesen mit RestaurantLebenskünstler weniger gut gegangen zu sein, die trocknen ihre Sachen.
Das Wasser des Tarn ist zunächst grünlich transparent. Plötzlich ist es braun und führt allerlei Strauchzeug mit sich. In St. Enimie, dem Ende der Tarnschlucht, stehen die Parkplätze am Ufer schon unter Wasser. Da muss ganz plötzlich eine Flutwelle von den Bergen herab geschwappt sein.
In St. Enimie beenden viele die Tarntour, weil der spektakuläre Teil vorbei ist. Ich bleibe dem Tarn treu, das Tal ist weniger bizarr aber immer noch wild genug.
Nach Ispagnac gerät man wieder auf eine Nationalstrasse, schnell ist man in Florac. Für das Nachtquartier ist es noch zu früh und das Wetter zu schön. Nach einer kurzen Runde durch Florac, alle Strassencafes sind besetzt, fahre ich weiter tarnaufwärts.
Ein Hotel ist angekündigt mit dem Zusatz "English spoken". Das lockt, aber es ist immer noch zu früh, Quartier zu nehmen. Eine freundliche Dame erklärt, dass 20 km weiter in Le Pont de Montvert noch Hotels seien, ob sie mich schon mal telefonisch anmelden solle. Das ist natürlich prima, so viel Hilfsbereitschaft trifft man nicht jeden Tag. Nicht mal bezahlen muss ich für das Telefongespräch, und fühle mich gleich wie neugeboren.
Das Tal des Tarn hat nun einen ganz anderen Charakter. Es wandelt sich zum Hochtal, die Berge sind kaum mehr bewaldet. Der Fluss selbst gebärdet sich ungestüm, allenthalben sind Steilstufen, über die die Wassermassen brausend hinwegtosen. Ich bezweifle, dass diese Passagen auch für einen Wildwasservirtuosen noch zu bewältigen sind. Die Strassenränder sind ungesichert, beim versonnenen Hinabschauen sollte man nicht vom Wege abkommen, sonst könnte man sich schnell in irgendwelchen Baumwipfeln wiederfinden. Es gibt einen Film mit Louis de Funes, dessen einzige Handlung besteht aus Merkwürdigkeiten, welche sich in einem Auto abspielen, das nach Verfehlen einer Kurve in der Krone eines Baumes über einem Abgrund gelandet ist. Sowas fällt einem dabei ein.
Bis zu meinem Ziel muss ich noch tüchtig klettern, Le Pont de Montvert liegt auf 875 m Höhe. So brauchen die 20 km ihre Zeit, aber man hat es ja nicht eilig. Endlich liegt der Ort vor mir, von Bergen und Ginster umrahmt. Das Hotel hat den schönen Namen "Aux Sources du Tarn": Zu den Quellen des Tarn. Mein Zimmer hat einen Balkon, unter ihm hinweg rauscht direkt der Tarn. 150 km bin ich seinem Lauf gefolgt, ein wunderschöner Abschnitt dieser Reise. Das Hotel ist mir zu vornehm, ich traue mich nicht in das Restaurant und mache einen Käseabend im Hotelzimmer. Der Camembert hat es auch nötig, nach zwei Tagen im Gepäck zeigt er sich sehr anpassungsfreudig.
Die Nacht verbrige ich nicht ganz so gut, auf der rechten Seite kann ich nicht liegen. Mehrmals plagt mich auch ein Bedürfnis, das hoffentlich nicht auf verdorbenes Trinkwasser zurückzuführen ist. Aber die Bedenken bleiben unbestätigt, es normalisiert sich alles wieder. Nur mit der Rippe, da werde ich noch meine Freude haben.
Nach Passieren des Passes setzt Nieselregen ein. Bald muss ich mich dick einmummeln, Handschuhe wie im Winter, Mütze tief in's Gesicht und Anorakkragen hochgestellt, so geht es hinunter. Über 20 km Gefälle in einem schroffen Tal. Auch das strengt an, weil man immer sehr konzentriert fahren muss.
Dann stösst man auf die Strasse, die hinauf in die Cevennen führt, die hatte ich eingeplant. Eine ganze Weile stehe ich ratlos am Strassenrand. Es regnet so richtig drauf los, alle Berge sind in den Wolken verschwunden. Hoffnung auf Besserung an diesem Tage besteht eigentlich auch nicht. Einzige Entscheidung: hinab in die tiefer gelegenen Regionen, das geht über die Orte Besseges und St. Ambroix.
Tatsächlich hört der Regen bald auf, dann ist die Strasse trocken, hier hat es überhaupt nicht geregnet. Das glaubt man kaum und ist froh, die Regensachen wieder wegpacken zu können. In St. Ambroix finde ich ein Cafe, hier ist wieder viel Historisches zu bestaunen. Ich umradle ein kleines mitten in der Stadt befindliches Bergmassiv, das ist von der obligatorischen Burgruine gekrönt.
In Sommerkleidung geht es weiter, mit kurzer Hose und natürlich dem neuen Hemd. Die Landschaft ist sehr abwechslungsreich. Trockenflächen wechseln mit Sumpfgelände in den Senken. Der Blick reicht weit über das Land, voraus schon die Berge der Ardeche. Meine Nebenstrasse erfüllt alle Erwartungen: rauf und runter, kein Verkehr, schöne Blumen links und rechts. Auch der Mohn, meine Lieblingsblume auf Radtouren (ausser Orchideen), beginnt die Wegränder und Felder rot einzufärben.
Schon lange vor Erreichen der Ardeche geht der Rummel wieder los. Campingplätze, Boots- und Fahrradverleih, Souvernirläden, Imbissbuden. Um 15.30 bin ich heute schon im Hotel in Vallon Pont d' Arc. Weiter kann ich nicht fahren, weil nun die Ardecheschlucht mit 40 km Länge beginnt. Da muss man ausgeruht am Morgen rangehen. Für heute bleibt Zeit für einen Mittags schlaf, das tut auch mal ganz gut.
Etwas matschig nach dem ungewohnten Schlummer mache ich mich auf, um einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Frankreichs die Aufwartung zu machen. Diese liegt 5 km vom Ort entfernt. Ich muss wieder auf das Fahrrad, und man glaubt es gar nicht, habe auf dieser Strecke ernsthafte Sitzprobleme. Damit bin ich wohl so beschäftigt, dass ich auf dem Weg zu der nämlichen Sehenswürdigkeit gar nicht merke, dass die Ardeche zur Rechten der Strasse plötzlich verschwunden ist. Dann biegt man um einen Felsvorsprung auf einen Parkplatz ein, wo sich schon die Leute drängen. Und da liegt er, der Pont d' Arc, wo die Ardeche sich ihre Bahn durch eine Felsbarriere gegraben hat.
"Hent ihr den Torboge gsähe" fragt eine aufgeregte Motorradbeifahrerin ihre Mitstreiter. Die winken cool unter ihren Integralhelmen ab, kennen wir doch alles. "Die Campingplätz lieget elle an der Stross" philosophiert das Motorradgirl weiter. Ich mache mein Foto und fahre dann noch auf die andere Seite des "Torbogens", wo seltsamerweise wieder ein Baum die schönste Ansicht auf den Pont d' Arc verstellt. Sehr unaufmerksam von der Kurverwaltung!
Ich verbringe den Abend in einem netten Pizzalokal, Pizza fruits de mer war es wohl wieder.
Nachtrag:
Ein halbes Jahr später wird genau hier in der Gegend eine der
aufregendsten Entdeckungen dieses Jahrhunderts (nach Ötzi)
gemacht werden. Unter einer Geröllhalde findet man ein
Höhlensystem, daß Jahrtausende nicht betreten wurde und
dessen Wände voll mit 19 Tausend (!) Jahre alten Malereien sind. Hätte
ich das an diesem Tag nicht gleich erledigen können...
Nach kurzer Zeit im Tal führt nämlich die Strasse steil hinauf auf die Hochebene. Das ist kein Zuckerlecken und man kommt schweissgebadet oben an. Ein älterer Rennfahrer überholt mich, der ist gut drauf und enteilt bergwärts. Wenn man oben ist erntet man immerhin bewundernde Blicke von Autofahrern, die hier vom Parkplatz aus einen Blick in die Tiefe werfen. Dieser erste Aussichtspunkt heisst Belvedere du Serre de Tourre. Ebenso besitzen weitere Aussichtspunkte klangvolle Namen, die fangen alle mit Belv. .. an. An manchen Stellen sind extra Umleitungen angelegt, um die schönsten Ausblicke zu erreichen.
Der Vorteil des Radfahrers ist nun ganz eindeutig, absteigen und schauen kann man überall und immer. Die Ardeche windet sich zwischen den Felswänden, die zum Teil senkrecht 400 m steil hinabfallen. Zur Sicherheit sind oben Gitter angebracht, an denen man sich festhalten kann. Gleitschirmfliegen ist auch verboten, wie den Schildern zu entnehmen ist. Bis man sich sattgesehen hat, vergeht eine Weile. Schnell komme ich jedenfalls nicht voran, ein ganzer Vormittag vergeht bei dieser Bummelei. Ausserdem ist jedes Anhalten und Anfahren in meiner gegenwärtigen Form nur unter Grimassenschneiden zu bewerkstelligen, aber es sieht ja keiner.
Das besondere Erlebnis: plötzlich huschen ein paar kleine Tiere, spannenlang, über die Strasse. Sind das vielleicht Lemminge, die sich ja gern Felswände hinunterzustürzen pflegen und in in dieser Gegend dafür geradezu ein Eldorado vorfinden? Die Tierchen kommen zum Glück heil über die Strasse und verfangen sich quiekend im Gras. Ich komme gerade noch heran um zu erkennen, dass es sich wohl um kleine Wiesel handelt. Tollend verschwinden sie unter Büschen.
Schön, ein Radfahrer zu sein, denkt man dann wieder und macht sich an die nächste Steigung. Auf und ab geht es hier oben durchaus auch zu, aber die Strecken sind immer überschaubar. Zuguterletzt geht es dann wieder auf den Boden der Tatsachen an die Ufer der Ardeche hinab, in St. Martin passiert man die Brücke hinüber auf die andere Seite.
In Pont d' Esprit wird die Rhone erreicht. Wieder ein Meilenstein, aber die Reise neigt sich nun auch ihrem Ende zu. Esprit ist ein idyllischer Ort. Die Häuser sind etwas verwahrlost, was sich unserer deutschen Asphalt- und Betonfassadenmentalität als romantische Empfindung erschliesst.
Die sich anschliessende Nebenstrasse ist wieder vom Feinsten, durch Weinhänge und Obstanbaugebiete geht es kurvenreich durch die Landschaft. Knapp kann ich mich vom Kirschenklauen zurückhalten, das zugehörige Anwesen ist noch in Sichtweite.
Ich fotografiere gerade die Rhone und ein Windrad, da fährt grüssend ein Einzeltourer vorbei. Leider ist es nicht Kollege B., so lasse ich ihn ziehen und fahre gerade noch in Sichtweite hinterher.
Die Schönheit der Landschaft endet jäh. Es folgt das Gelände einer Atomfabrik in Marcoule. Wieder sind die unüberwindbaren Zäune aufgebaut. Wachmänner stehen herum, da wagt man nicht einmal ein Foto. Die vielen Autos auf den Parkplätzen zeugen davon, dass es wenigstens zahlreiche Arbeitsplätze gibt. Aber die Gewässer, die zur Rhone gehören oder zu ihr führen sind augenscheinlich umgekippt: grüngrau und trübe. Trotzdem quakt in einem solchen Teich schon mal ein Frosch und Angler harren auf köstliche Beute.
Beim Überqueren der Rhone habe ich exakt 2000 km auf dieser Reise erreicht. Mit dem Selbstauslöser mache ich ein Foto, das witzig wirken soll: Gebärde des Durchhängers. Leider vergesse ich, mein Überhemd auszuziehen, damit mein feuerrotes neues Fahrradhemd zum Vorschein kommt.
Feuerrot ist ein üppiges Mohnfeld, vorerst das letzte Fotomotiv. Über Roquemaure - Zeit für ein paar Stücke Kuchen, und Sauveterre - Zeit für einen Kaffee, nähere ich mich Avignon, der Endstation.
Man erreicht in dichter werdendem Verkehr die Vorstadt von Avignon mit dem Namen Villeneuve. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine Neustadt, wie wir sie kennen. Eine trutzige mauerbewehrte Burg und enge Gassen zeugen von Tradition.
Dann geht es über die Brücke des ersten Rhone-Arms, das ist noch nicht besonders spektakulär. Man befindet sich auf der Ile de la Barthelasse. Die habe ich in weniger guter Einnerung. Hier bin ich schon einmal in den 60er Jahren, tief gebeugt unter meinem Tramper-Rucksack angelandet, um in der Jugendherberge unterzukommen. Damals war aber gerade eines dieser grösseren Festivals, wie sie zuweilen in Avignon stattfinden, und alles war besetzt. Da habe ich dann Avignon den Rücken gekehrt und mit anderen Leidensgenossen auf einem Feld inmitten von Stroh genächtigt.
Nun betritt man die zweite Brücke, das macht man besser zu Fuss, damit man alles betrachten kann. Vor einem liegt die Stadtmauer von Avignon, darüber die Türme der Paläste und Kirchen. Links die berühmte halbe Brücke. Wer nun nicht das Lied "Sur le Pont, d'Avignon..." vor sich hinsummt, der gehört zu den wandelnden Bildungslücken. Bei der damaligen oben erwähnten Reise ging gerade die Sonne unter und die Stadt lag rotübergossen da.
Avignon-Glühen,- das kann sie mir heute nicht bieten. Aber die Diaaufnahmen von damals, die existieren noch.
Ich suche mir in den Gassen der Innenstadt die Touristen- Information, die liegt genau vor der halben Brücke Pont St. Benezet (12. Jahrh.). Gegen Entrichten eines Eintritts kann man sie von hier aus betreten.
Ich muss aber so langsam meinen Rückzug organisieren. Zuerst wird ein Hotel in Bahnhofsnähe ausgesucht, mit dem frisch ergatterten Stadtplan finde ich über die Rue Joseph Vernet mühelos dorthin. Ein Zimmer zu bekommen macht auch keine Probleme. Danach geht es sogleich zum Bahnhof, um das Fahrrad auf die Reise zu schicken. Da lässt sich nun heute leider nichts mehr machen, die Gepäckabfertigung hat schon geschlossen.
Im Hotel darf ich das Fahrrad durch die Küche schieben und in einem Hinterhof abstellen. Bei dem Bummel durch die Altstadt von Avignon bei sommerlichen Temperaturen kommt keine rechte Stimmung mehr auf. Die Spannung ist weg. An den Strassenrändern haust allerlei Gesindel, einer hat einen ihm treu ergebenen Cocker Spaniel im Schlepptau. Er selbst kann sich nur noch mühsam an einer Wand entlangtasten. Auch in aufgehaltene Hände sieht man öfter, klar dass sich in Avignon so mancher das von den Touristen erhofft, was er durch Arbeiten nicht erreichen kann oder will.
Ich drücke mich auf der Prachtstrasse Rue de la Republique am Mac Donald's und anderen Imbissbuden vorbei und lande in einer Seitenstrasse in einem dezenten Chinarestaurant. Ich bestelle etwas mit ...fruit de mer... und grüble darüber nach, ob man hier mit Stäbchen essen muss, weil keine anderen Bestecke aufgelegt sind.
Meiner Sorgen werde ich enthoben, mir wird nur eine Suppe gebracht. Die allderdings ist sehr lecker. Nur weil sie soviel kostet, wie sonst ein Hauptgericht, bin ich wohl der irrigen Meinung aufgesessen, ein komplettes Gericht bestellt zu haben. Ich bezahle meine Zeche und lasse es dabei bewenden.
Durch ein paar weitere Hintergassen erreiche ich mein Hotel, wo ich die allmählich fällige Kartenpost erledige.
In der Auskunft muss man sich erstmal mit einem Nummernticket versehen. Die Nummer wird dann aufgerufen, wenn die lange Schlange der Wartenden vor einem abgearbeitet ist. In einem Wandregal finde ich inzwischen Merkblätter mit den Fahrplänen der grossen Verbindugen. Und da werde ich gleich fündig, die Verbindung nach Strassburg ist ausgezeichnet.
Als ich aufgerufen werde, kann ich also gleich meine Fahrkarte lösen. Es stellt sich heraus, dass der Auskunftsbeamte im Bahnhof zu Avignon nicht einmal des Englischen mächtig ist. Das nehme ich ihm zwar nicht übel, aber wundern tut es einen schon. Nun haben die Franzosen vor kurzer Zeit einen Erlass verabschiedet, wonach die französische Sprache von möglichst allen Anglismen und fremdsprachigen Elementen freigehalten werden soll. Vielleicht hängt das mit einem gewissen Nationalstolz zusammen, der der Europa-Idee doch ein wenig zu widersprechen scheint. Vielleicht sogar ganz gut! Nicht jeder ist ein grosser Europäer und wird einmal in den "Gessichtsbüchern" stehen.
Den Bahnhof brauche ich gar nicht mehr zu verlassen, der Zug fährt schon bald. Bis Strassburg sind es 700 km, da ist man den ganzen Tag unterwegs. In Lyon muss man umsteigen.
Die Bahnfahrt ist weniger erlebnisreich, gegen 18.30 bin ich in Strassburg. Um nicht eine Nachtfahrt mit ungewissen Zuganschlüssen zu machen, bleibe ich in Strassburg. Am Bahnhofsplatz komme ich im Hotel Les Vosges unter. Da ich die Stadt noch nicht kenne, bin ich gespannt auf den Stadtbummel.
Der führt durch schöne Gassen mit zahlreichen Restaurants und im Freien sitzenden Gästen direkt auf das berühmte Münster zu. Die fein verzierten Türme zeugen von hoher Bildhauerkunst. Nur der eine Turm hat keine Spitze, sondern Antennen und eine Wetterstation oder sowas zieren die Plattform auf dem Stumpf des Turmes.
Nach einigen Irrwegen suche ich nach den Erfahrungen des gestrigen Abends wieder ein Chinarestaurant auf. Hier ist man sprachlich natürlich vollständig eingedeutscht, da gibt es mit der Bestellung keine Probleme. Auch mit Stäbchen muss ich nicht essen. Am Nebentisch übt einer damit, indem er alle möglichen Gegenstände auf dem Tisch anhebt und herumbalanciert. Vornehm! Ein anderer bezahlt seine Zeche - Ritsch, Ratsch - mit der Scheckkarte. Weltmännisch!
Am Mittwoch geht es planmässg weiter. Erst bis Frankfurt, auf dem Frankfurter Hauptbahnhof suche ich vergeblich nach einer stinknormalen Bratwurstbude. Gibt es nicht, nur Mac Donald (Volksmund: Mac Doof), Moevenpick und andere Grosskotzerne haben sich ausgebreitet. Immerhin finde ich eine Laugenbrezel.
Mit dem ICE geht es direkt zurück nach Braunschweig. Von so einer Fahrt auf einer ICE-Schnellstrecke, wie sie von Fulda bis Hildesheim inzwischen fertiggestellt ist, wird man gans düselig. Kaum hat man das Auge auf den lieblichen Ausblick in ein grünes Tal fixiert, bekommt man durch Einfahrt in einen Tunnel eins übergebraten. Irgendwann mag man gar nicht mehr aus dem Fenster schauen.
Nach 19 Tagen Rad- und 2 Tagen Bahnfahrt komme ich in Braunschweig etwas abgewrackt an. Um die 10 Pfund habe ich abgenommen. Ein paar Tage bis über die Pfingstfeiertage habe ich noch Zeit, mich wieder zu erholen.
Nachtrag
Am Pfingstsamstag meldet sich endlich Rainer B. zurück. Während ich noch meinen verlorenen 10 Pfund Körpergewicht nachfuttere, ist Rainer blendend erholt und guter Dinge am Tag zuvor von seiner Version der Reise zurückgekehrt.
Er hat im Wesentlichen die gleiche Tour gemacht, ohne sich eine Mogeletappe mit der Eisenbahn zu gönnen. So ist er die ganze Atlantikküste bis Biarritz/St. Jean de Luz hinunter gefahren, dann wie wir quer vor den Pyrenäen gen Osten. Die geplante Überquerung des berühmten Col du Tourmalet hat er nicht realisieren können, weil der Pass wegen Schneefalls gesperrt war.
Über Toulouse und Albi ist er dann auch an den Tarn gefahren, in St. Rome hat er ein paar Tage nach mir im gleichen Hotel übernachtet. Auch schwärmt er von dem reichhaltigen Menu daselbst. Vom Tarn ist er in das Tal des Lot mit seinen Schluchten übergewechselt. Bei den abschliessenden Etappen über St. Etienne nach Lyon galt es dann auch noch einige 1000 m Pässe zu bewältigen.
Von Lyon ging es mit der Bahn nach Mulhouse, mit dem Fahrrad über die Grenze nach Freiburg im Breisgau, dann mit der Bundesbahn - inzwischen Deutsche Bahn - zurück nach Braunschweig.
Ein paar Tage später sehe ich dann auch wieder wie ein normaler Mensch aus, nachdem ich mir viel habe anhören müssen, besonders von meiner lieben Ehefrau. Wenn einer wissen will, wie lange man an einer Rippenprellung seine Freude hat, dem kann ich mitteilen: 6 bis 8 Wochen!
Resume:
Deswegen ist dieser Bericht etwas umfangreicher geraten. Nur so lassen sich halbwegs die Erlebnisse konservieren, denn man wird älter und das Erinnerungsvermögen lässt nach.
Mal sehen, wo wir uns zu unserem (x+1)0ten rumtreiben werden...