Diesmal war er wirklich lang, der Winter. Um ein paar Daten für spätere Zeiten und staunende Enkel festzuhalten: von November bis Ende März herrschte fast ununterbrochen Dauerfrost. Ausnahme war unsere Winterwoche auf Usedom, da war Tau- und Schmuddelwetter angesagt. Eine schöne Unternehmung ist uns in diesem Winter dennoch gelungen: eine Umrundung der Braunschweiger Innenstadt auf der zugefrorenen Oker, das erste Mal seit über zwanzig Jahren in Braunschweig.
Die Oker konnte dann wenig später wieder ungehindert ihren Lauf nehmen, doch auf Feld und Flur, in Wald und Wiese blieb immer noch alles grau in grau. Am Mittwoch, 17.4. bricht dann nicht der Frühling, sondern gleich der Sommer über uns herein mit Temperaturen über 20 Grad und Sonne satt. Man hat das Gefühl, die Natur holt innerhalb einer halben Woche die dreiwöchige Verzögerung wieder auf. Innerhalb von Tagen blühen die Anemonen und Himmelschlüssel im Wald, die ersten drei Molche werden in unserem Gartenteich gesichtet, eine Schwalbe - die natürlich noch keinen Sommer macht - kommt um die Dachecke geflitzt. Um die Kastanienbäume muß man einen Bogen machen, weil die in alle Richtungen ausschlagen. Usw.
Daß der Radfahrer dabei den Rappel kriegt, ist wohl leicht zu verstehen. Unsere Tagestouren in der Vergangenheit waren (fast) nie eine Enttäuschung - da bleibt nur noch das Ziel festzulegen. Mir fällt schnell ein, daß man die Elbe nördlich von Jericho noch nicht kennt. Ich gehe bei Thomas vorbei, der gerade mit verölten Fingern und ebenso veröltem Sohn Till seinen Wohnwagen von unten bearbeitet. Da stört man wohl nur bei der Arbeit. Ich wolle morgen mal wieder eine Radtour machen, murmele ich hinabgebückt zu den Schaffenden. Ja morgen, da hätte man schon einen Familientermin, Besichtigung des Musikmuseums in Königslutter oder so was. Na ja, sei ja auch wieder sehr kurzfristig, ich wollte nur niemand übergehen, entschuldige ich mich.
Als Thomas schließlich unter seinem Wohnwagen hervorkriecht, beginnt er einen Satz mit dem Wort "Andrerseits..."!
Zu Hause kriege ich mehr Zoff. Zum einen bin ich nicht bereit, heute bei dem Wetter mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zum Einkaufen zu fahren, und dann morgen an die Elbe stundenlang mit dem Auto ... das sei ja wohl Spinnerei. Womöglich stimmt das auch, aber was man sich in den Kopf gesetzt hat...
Nicht ganz aber fast pünktlich sitzen wir am Sonntag Morgen kurz nach acht im Auto und fahren über die Autobahn nach Magdeburg (1 Std.), dann nördlich durch die nicht enden wollende Colbitz - Letzlinger Heide. Kurz vor Stendal verlassen wir die B 189 und fahren über die Dörfer nach Tangermünde. Auf einem Acker stelzen die ersten Störche.
In Tangermünde wird auf einem großen Parkplatz an der Elbe das Auto abgestellt. Wenig später haben wir die Räder aufgerüstet, noch ein Brot gegessen und einen Schluck aus der Pulle genommen, dann geht es los. Tangermünde sollte eigentlich kein Start sondern ein Ziel sein, weil es an Bauwerken einiges zu bieten hat.
Reiseführer:
Nachdem wir die auffälligsten Erscheinungen fotografiert haben, interessiert uns als Bauwerk am meisten die Elbebrücke, die wir jetzt überqueren. Wenn man schräg zurückguckt, kann man eine schöne Ansicht von Tangermünde sehen, aber die Autos, die einem hier auf der engen Brücke am Hinterrad kleben, geben nur wenig Gelegenheit dazu.
Wir fahren nun nach Norden, parallel zur Elbe, die man aber hinter ihren Wiesen nicht zu Gesicht bekommt. Die Straße führt meistens schnurgeradeaus, bei einem flotten Rückenwind kommt man gut voran. Wie man weiß, ist das nicht ungefährlich, denn man muß ja auch wieder zurück. Außerdem weiß man nicht, ob die auf der Karte eingezeichneten Elbfähren in Betrieb sind. Wenn wir diesen gleichen Weg zurückfahren müßten, wäre die ganze Tour ein totaler Reinfall.
Hinter Schönhausen hat man eine große Überführung für die neue ICE-Trasse Hannover - Wolfsburg - Stendal - Berlin gebaut. Diese Streckenführung umgeht die Braunschweiger Region mutwillig. Das läßt die Braunschweiger mit den Zähnen knirschen. Weil die Braunschweiger aber rechte Schildbürger sind, bauen sie den Wolfsburgern obendrein noch eine extra Flughafenzufahrt und einen Autobahnzubringer (A39). Wir benehmen uns gleichermaßen tölpelhaft indem wir versuchen, auf der alten Straße ohne die neue Brücke auszukommen. Das klappt natürlich nicht.
In Klietz steht ein Storch in seinem Nest auf dem Kirchdach. Sein Partner macht majestätische Flugübungen hoch über den Dächern. Wir fahren mit unseren verdrehten Hälsen fast gegen einen Bordstein.
Dann aber geht es weiter schnurgeradeaus durch Kiefernwälder. An manchen Stellen sieht man an der Kiefernborke die vernarbten Spuren der Harzproduktion, was man zu DDR-Zeiten zur Gewinnung von Farb-Bindemitteln vielerorts betrieben hat. Heute ist das vorbei, die benötigten Materialien lassen sich synthetisch zu einem Bruchteil der damaligen Produktionskosten herstellen.
Den Rest der Zeit vertreibt Thomas damit, die Vorteile seines Wohnmobils zu diskutieren. Wenn er damit fertig ist, kommt der Wohnanhänger dran. Dabei kommt man - jedenfalls in Gedanken - ganz schön in Europa rum. Eine Geschichte muß festgehalten werden.
Es war auf der Frischen Nehrung im letzten Herbst. Man war spät abends im Dunklen angekommen und hatte das Wohnmobil an einer Anlegestelle geparkt. Der folgende Morgen brach dann wohl strahlend an, so daß der Drang nach einem Bad in der Ostsee trotz der bereits empfindlichen Temperaturen allzu mächtig wurde. Zusammen mit Freund Udo stürzt man sich in die Fluten, ledig jeder textilen Behinderung, es ist ja keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Ab und an kriecht wohl mal ein Angler durch die Gegend, aber was solls.
Da erstarren die beiden schreckensstarr aus ihrem juchzenden Geplansche: das Ufer ist schwarz von Menschen. Wohl eine Gruppe auf biologischer Exkursion. Trotz der geringen Wassertemperaturen gelingt es den beiden, unter Hinwendung der hinteren Körperpartien in Richtung Ufer das Schlimmste zu vermeiden, und der Exkursionsgruppe beim Abzug der Grübelei zu überlassen, was denn nun die größte biologische Sensation an der Ostsee sei.
Von der frischen Nehrung geraten wir unversehens nach Sandau, wo die erste Elbfähre sein soll. In einer Tankstelle erfahren wir positives, diese Fähre und auch die in Havelberg sind in Betrieb. Das Ziel Havelberg ist schon in Sicht. Am Ortseingang steht ein Begrüßungsschild. Die Fotografie darauf ist in einer eigenartigen Reliefdrucktechnik angefertigt. Sowas kriegt kein Autofahrer mit, denn man muß ganz nah herantreten und es befühlen.
Nachdem wir damit fertig sind, fahren wir über die Havelbrücke. Und hier offenbart sich eine "Perle des Nordens", wie sich solche Orte gerne titulieren. Ob es dieser auch tut, wissen wir nicht, aber wir verleihen diesen Titel angesichts des sich auftuenden Stadtpanoramas gerne. Im Vordergrund liegt der Ortskern mit wuchtigen Backsteingebäuden wie Kirche, Rathaus und vielstöckigen Speicherhäusern. Die Bürgerhäuser liegen wie Schachteln darum herum. Im Hintergund liegen perspektivisch verkleinert die Häuser der angrenzenden Siedlungen entlang der Havel, die wirken geradezu winzig.
Wir hoppeln über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen und überqueren den anderen Arm der Havel, die hier die Stadt umschließt. Hoch oben liegt nun die Probstei, die wir auf dem Foto der Begrüßungstafel schon bewundert haben. So kommen auch hier im platten Norden die bergfreudigen Gänge der Gangschaltung mal zum Zuge.
Oben wieder eine schöne Aussicht auf den Ort, besonders der Blick in die Hinterhöfe erinnert an Baukästen und Puppenstuben. Auch die Probstei ist ein imposantes Backsteingebilde. Mit Museum und Eintrittskasse hat man alles fest im Griff. Die vornehm gekleidete Aufsichtsperson mustert argwöhnisch uns verschwitzte Figuren und ist wohl eher froh, daß wir keine Anstalten zu einem Besuch des Inneren machen.
Reiseführer:
Aber in der Sonne ist es viel schöner und wir rollen wieder hinunter. Nach einigem Suchen finden wir ein griechisches Lokal mit Freisitz unter Sonnenschirmen am Marktplatz. Es heißt "Akropolis", wie man wohl auf diesen originellen Namen gekommen sein mag? Mit einigen zischenden Spezis, Gulaschsuppe, Auberginen, Schafskäse und Salat richten wir uns wieder auf.
Nun zur Fähre. Wie wir um die Ecke biegen, legt die gerade ab, das kennt man ja. Zeit sich umzuschauen oder einen Schwatz mit den wartenden Autofahrern zu machen. Thomas schätzt das Terrain auf seine Eignung als Standplatz für das Wohnmobil ein. Es ist hübsch hier, die Pappeln, Weiden oder Eichen zeichnen sich gegen die schimmernde Wassefläche der Elbe ab. Einige Bäume stehen mit den Füßen im Wasser, demnach herrscht Hochwasser.
Schließlich kommt die Fähre zurück und steuert eine provisorische Anlegestelle an. Dann wird eine Klappe herunter gelassen, die knallt knapp vor den aus den Sandalen schauenden Zehen des ausführenden Arbeiters auf das Pflaster.
Dann geht es über die Elbe, Fährfahrten gehören zum schönsten beim Radfahren. Der Fährmann bestätigt das mit dem Hochwasser: 1 Meter über normal. Obwohl es im ganzen Land knochentrocken ist, die Talsperren im Harz halb leer sind und allerorts erhöhte Waldbrandgefahr herrscht, hat die Elbe von der Schneeschmelze in Riesen- und Erzgebirge genügend Zufluß.
Am anderen Ufer finden wir nun die Landschaft, wie man sie von den Elbauen erwartet. Laut Karte soll es von dem Ort oder besser der Hausgruppe "Räbel" eine Abkürzung durch die Botanik geben. Zum Glück können wir jemand fragen, sonst hätten wir uns wohl kaum an dem abenteuerlichen Weg versucht. Aber schön ist es zwischen Hecken und Wiesen, ein Rudel Rehe rennt uns fast über den Haufen.
Wir erreichen dann einen markierten Radweg, den "Altmark Radwanderweg". Von dessen Existenz haben wir natürlich wieder nichts gewußt. Er kann aber auch noch nicht alt sein, denn die sorgsam aufgebrachten Verbundpflastersteine liegen noch nicht lange. In wenigen Jahren wird man dann wieder Arbeit haben, wenn die beiderseits des Weges stehenen Bäume mit ihren Wurzen die Steine von unten kitzeln.
Auf einem alten Elbdeich geht es zwischen uralten Kopfweiden dahin. Links bildet das alte Bett der Elbe ein Naturschutzgebiet. So hoch oben dahinfahrend, hat man einen schönen Blick hinüber über die Elbe und ihre Wiesen.
Einmal passiert man eine verfallene Kirche mitten zwischen den Feldern. Wahrscheinlich handelt es sich um eine "Wüstung", also einem verlassenen Dorf. Die Kirchen hat man da manchmal übrig gelassen, wo die Höfe und Wohnhäuser geblieben sind, weiß man auch nicht (wir jedenfalls nicht).
Als wir die Markierung des Radweges einmal verpassen, merken wir an den Kühltürmen des geplanten aber aufgelassenen Atomkraftwerks Stendal, daß wir in wechselnde Richtungen fahren. Mal liegen die Türme vor uns, mal links, mal rechts. Schließlich finden wir die Markierung wieder und sind einigermaßen im Kreis gefahren.
Der weitere Weg strengt nun doch an, der Wind von vorn, brennende Sonne und nichts zu trinken dabei. Thomas hat vor einer Weile den Luftdruck auf den Reifen reduziert, damit es sich nicht ganz so hart fährt.
In einem der Nester, die wir durchfahren, bemüht sich ein unrasierter Mann mit seinen Kindern vergeblich, Ordnung in seinen verkrauteten Garten zu bringen. Wir halten an: "Na, bei der Arbeit?" "Man tut was man kann" lautet die Antwort. Ob es hier eine Kneipe oder sowas gebe, fragen wir. Erst 6 km weiter wäre da was, heißt es. "Na, das schaffen wir auch noch", damit fahre ich schon mal an. Da ruft Thomas mich zurück, wie ich mich umdrehe, sehe ich ihn über seinen Reifen gebeugt. Da weiß man schon, was die Stunde geschlagen hat.
Wir stellen auch bald die technischen Randbedingungen fest. Der Schlauch war am Ventil eingeklemmt, durch die Reduktion des Luftdrucks hat sich dann beim Walken ein Leck aufgescheuert. Ich habe aber einen Ersatzschlauch dabei, der ist schnell aufgezogen. Das schönste Erfolgserlebnis, was man nach einer Schlauchreparatur haben kann, stellt sich nun ein: man pumpt und pumpt und es tut sich nichts. Genauer gesagt, die Luft entweicht sogleich wieder durch das Ventil dahin, wo sie hergekommen ist.
Na ja, ein Ersatzventil findet sich auch noch im Bodensatz des Reparaturbeutels. Wieder pumpen, wir schauen uns ratlos an, das gibt es doch nicht! Währenddessen steht der Gartenbesitzer mit schiefem Kopf auf seinen Gartenzaun gestützt dabei, der Rest der Familie ist gleichfalls beteiligt, die sitzen auf den Haustürstufen mit offenem Mund und vorgebeugt, damit sie nichts verpassen. Daß wir hier mit klebendem Gaumen und ausgedörrten Kehlen unsere liebe Not haben und wie man dem abhelfen könnte, auf diese Idee kommt keiner.
Unsere technische Analyse geht weiter. Nach dem Festschrauben ist das Ventil immer noch wackelig. Schließlich kommen wir auf die Idee, daß es an der Überwurfhülse des Ventils liegen könnte. Ich tauche nochmal in meinen Reparaturbeutel ab und entdecke eine weitere Überwurfhülse, die sich deutlich weiter aufschrauben läßt und damit keine weiteren Probleme bestehen. Wir sind einigermaßen verblüfft über den Tatbestand, daß wir alten Hasen von so einer kleinen Schraube so ins Bockshorn gejagt worden sind.
Mit weiterhin klebender Zunge und trockenen Kehlen verabschieden wir uns von der anteilnehmenden Familie.
Die 6 km bis Arneburg fallen nicht ganz leicht. Dann aber die Erlösung. Ein paar Jugendliche sitzen vor einer Kneipe Marke "altes HO-Gebäude". Die Technomusik wummert aus den umstehenden Autos. Jeder trinkt Bier. Mit dem Bier und dem Wummern im Kopf läßt es sich nachher wohl wieder trefflich autofahren.
Aber sonst sind sie ganz freundlich, einer ist aus Gifhorn, der will uns gleich einladen. Wir verziehen uns nach innen und gießen einen halben Liter Spezi in uns rein. An einem Waschbecken kann man sich auch endlich die Salzkruste aus dem Gesicht waschen.
Nun schaffen wir die restlichen 15 km bis Tangermünde auch noch, am Schluß stehen knapp 95 km auf dem Tacho. In Tangermünde gibt es eine Menge Lokale, auch in den Hinterhöfen, das ist uns heute morgen gar nicht so aufgefallen. Heute ist dort gut Betrieb bei dem Wetter. Wir haben aber nicht mehr ganz so viel Zeit, es ist schon nach 18 Uhr, gut zwei Stunden müssen wir noch für die Rückfahrt rechnen.
Die im Auto zurückgelassene Brause ist kaum genießbar, sie hat etwa die Temperatur des morgendlichen Tees. Trotzdem ist der Durst so groß, daß man einen großen Schluck gebrauchen kann.
Für die Rückfahrt wählen wir die andere Seite der Elbe über Jericho, Genthien und Burg. Kurz vor 21 Uhr sind wir wieder zu Hause.
Für eine Tagestour ist die an diesem Tag gewählte Anfahrtsstrecke sicher die Grenze. Ich werde auf der Landkarte einen Kreis ziehen mit dem Radius Braunschweig - Tangermünde, dann kann man die weiteren Touren und deren Aufwand abschätzen. Oder wir nehmen Thomas' Wohnmobil, dann machen wir das alles ganz anders...