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Der Drömling, 19.5.91 (Pfingsten)

Auch diesmal hat unsere Unternehmung eine Vorgeschichte. Vor einigen Wochen war Heidi auf einem Bezirksparteitag in Königslutter und hat da mit dem niedersächsischen Innenminister - nein das habe ich verwechselt - es war auf einem anderen Parteitag in Braunschweig, da haben sie mit dem Braunschweiger Oberbürgermeister ein Eis gegessen. In Königslutter jedenfalls war auch ein Informationsstand über den "Drömling". Das ist keine Märchenfigur, sondern der Name einer Landschaft von "rund 500 ha zusammenhängendem Moorwald, Auewäldern und ausgedehnten, bisher vorwiegend extensiv genutzten Feuchtwiesengebieten". Der Drömling liegt etwa zwischen Wolfsburg und Magdeburg. Beide Städte entnehmen dem Feuchtgebiet erhebliche Mengen Wasser für die Trinkwasserversorgung, deshalb ist um den Drömling ein Kampf zwischen Naturschützern und Trinkwasserbeschaffern entbrannt. Heidi behauptet, es gebe weiße Sumpfdotterblumen dort.

Heute ist Pfingsten und die Familie stiebt in alle Richtungen auseinander. Da bleiben nur Heidi und ich übrig und beschließen, die "weiße Blume" zu suchen. Mein neuer Fahrradträger, der auf der Anhängerkupplung montiert wird, kann bei der Gelegenheit gleich ausprobiert werden. Das andere Fahrrad wird in den Kofferraum geschmissen, schon kann es losgehen.

Wir fahren auf der B248 nach Wolfsburg, dreimal wird der Rückwärtsgang benötigt, weil ich falsch gefahren bin. Schließlich landen wir über Vorsfelde in Kaiserwinkel, wo die Tour beginnt. Zur Einstimmung gleich das erste Storchennest, Frau Störchin brütet schon, Herr Storch steht stolz und klappernd daneben. Unterhalb dieser Attraktion wird das Auto geparkt, schnell sind die Räder und wir fertiggemacht. Mit einer Flasche Brause, Fotoapparat, Regen- und Flickzeug im Gepäck geht es auf den Weg. Leider bin ich nicht im Besitz einer brauchbaren Landkarte. Der Drömling liegt zu 20% auf Gebiet Niedersachsens, zu 80% auf dem Gebiet von Sachsen-Anhalt. Natürlich soll es durch den 80-prozentigen Teil gehen.


Weißer Hahnenfuß in Kaiserwinkel
In Kaiserwinkel zieht gleich ein verschwiegener Teich unsere Aufmerksamkeit auf sich, der von einer geheimnisvollen weißblühenden Blume überzogen ist. Ob das schon die weißen Sumpfdotterblumen sind? Nein, es handelt sich vielmehr um den gemeinen Wasserhahnenfuß, wie ich dann später dem Werk "Was blüht denn da" entnehme. Im übrigen habe ich das aber gleich gesagt. Wir überqueren die ehemaligen Grenzanlagen. "Willkommen Nachbarn" steht auf einem Schild aus der Zeit der Verbrüderungstränen.

Es geht über steinige und sandige Feldwege Richtung Böckwitz - Zicherie. Das ist ein "Doppeldorf", wo mitten dazwischen jahrzehntelang der "Eiserne Vorhang" die Menschen voneinander trennte. Hier war bei der Grenzöffnung mächtig was los, wir hatten davon in der Zeitung gelesen. Das Doppeldorf können wir uns auch auf der Rückfahrt ansehen. Auf der frisch hergerichteten Landstraße rollen wir auf einer schönen Ahornallee nach Jahrstedt. Eine Regenwolke macht uns ein wenig Sorgen. Leicht angenäßt erreichen wir in Jahrstedt vor dem Rathaus eine Schautafel über das Gebiet des Drömling. Ein Mercedes aus Hannover parkt davor, der Gatte beißt an einem Apfel herum, Gattin und Hund bevorzugen, das Innere des Wagens nicht zu verlassen.

Wo man eigentlich sei, fragt uns der Herr aus Hannover. Trotz mangelndem Kartenmaterial kann ich ein wenig Auskunft geben. "Hier wollte ich schon immer mal her". sagt der Herr, was immer unter "immer" gemeint sein mag. Für alle Fälle haben sie auch Fahrräder im Auto. Wir bekennen, daß wir aus Braunschweig sind, aber mit dem Auto angefahren sind. "Das fahren andere jeden Tag, von Braunschweig nach Wolfsburg" - "Ein Bekannter fährt jeden Tag von Hannover nach Hamburg" - so beruhigen wir unsere Bedenken über die Autofahrerei. Ein paar Gedanken über die Situation heutztage werden noch ausgetauscht, dann machen wir uns auf die Weiterfahrt.


Dorfstraße in Jahrstedt
Die Allee wird noch schöner, Platanen laden die Autoraser zu einem vorschnellen Ende ihrer Zeitschinderei ein. Wir gelangen nach Kunrau, dort kommen wir an einem Gasthof nicht vorbei - es ist Mittagszeit, und wir haben keinen Proviant mit. In der Gaststube sitzen zwei Pfingsttrinker hinter Korn und Bier, an der Theke sitzt ein "Club"-Raucher, der grinst meistens hinter dicken Brillengläsern. In einem Nebenzimmer tafelt eine geschlossene Gesellschaft von 6 Personen. "Die Speisekarte bitte" sagt Heidi. Die dralle Bedienung antwortet: "Die habe ich im Kopf" und wir erfahren das Angebot des Hauses. Heidi entscheidet sich für "Soljanka", ich für ein Schnitzel. Man soll ja unterwegs nicht so schlemmen, das wissen wir aus Erfahrung. Ein Herr kommt herein, ob man hier essen könne. Er hat Fahrradklammern an den Hosen. Dann kommt er mit 5 weiteren verklammerten Beinpaaren wieder herein. Die Bedienung schaltet das Licht für die nun benötigten weiteren Tische ein, dann wird Bier, Suppe, Mittags- und Nachtisch bestellt.

Zum Glück kommen unsere Gerichte bald, das Schnitzel teile ich mit Heidi, die Serviette steckt sie ein. "Für unterwegs!". Was für den Autofahrern das Tanken, ist für den Radfahrer die Mahlzeit. Mit einer Rechnung von DM 12.10 werden wir entlassen. Unsere Radgenossen haben draußen auf ihren Fahrrädern Pfingstgrün neben einige Flaschen Leergut sowie ein Türmchen "Schluckgläser" installiert.


Grabenhecken
Wir wollen hinter Kunrau rechts abbiegen und auf einem laut Schautafel existierenden Radwanderweg entlang am "Friedrichskanal" fahren. Wir fragen einen Einheimischen am Straßenrand, erhalten aber nur ungewisse Auskunft. "Hinter dem Umspannwerk rechts, da sind wir früher auch immer gegangen". Hinter dem Umspannwerk fahren wir also einen sandigen Weg rechts, zum Glück kommt ein jugendlicher Radfahrer des Weges. Der weiß gut Bescheid und weist uns den Weg "tiefer in den Drömling". Nun können wir die Landschaft pur erleben. Entwässerungsgräben sind mit Buschwerk bewachsen. Auf den Naturwiesen blüht das Wiesenschaumkraut, die Butterblumen blühen oder bilden weiße Felder aus Pusteblumen. Dazwischen Entwässerungsgräben, wo sich die Sumpfdotterblumen wohlfühlen, aber die sind alle gelb.


Sumpfdotterblumen
Wir kommen an einen breiteren Graben, vielleicht ist das der Friedrichkanal. Wir fahren daran entlang weiter, dann ein geparkter Trabbi und eine Ansammlung von Kühen, die auf das Melken warten. Einige äugen uns neugierig entgegen. Es ist immer ein Naturereignis, wenn sich Heidi einer solchen Situation gegenüber sieht. Fassungsloses Entsetzen, schreckensweite Augen, hier können wir nicht weiterfahren. Also knapp einen Kilometer zurück und einen weiteren Weg probieren. Das ist ein "Plattenweg", den uns der jugendliche Ortskundige angekündigt hatte. Auch gut, immer mehr Landschaft läßt uns genießen. Dann fahren wir wieder an einem breiten Kanal entlang, vielleicht ist das der Friedrichkanal. Wieder genau dasselbe, ein parkendes Auto, eine äugende Viehherde und das Mienenspiel meiner Mitstreiterin. Wieder finden wir einen anderen Weg, voraus sind vorbeifahrende Autos zu sehen - die Zivilisation!


Zweifelhafte Wege
Wir erreichen die Landstraße von Klötze nach Oebisfelde, da wissen wir endlich, wo wir sind. Richtung Buchhorst geht es weiter, die WOBs, Autos mit Wolfsburger Kennzeichen, haben hier alles fest im Griff. Plötzlich klappert was, es ist an keinem unserer Räder, sondern kommt von links oben. Ich halte an, Heidi macht fast einen Auffahrunfall. Da steht ein Storch in seinem Nest auf einem Hochspannungsmast mit zurückgelegtem Hals und klappert sich eins. Der Grund ist sein heranfliegender Partner - kaum vereint - wird zu zweit noch eine Weile eifrig weitergeklappert.

Wir stehen und staunen. "Ist das süß!" Autos müssen um uns herumfahren, die Bräute oder Gattinnen auf dem Beifahrersitz haben alle eine Landkarte auf dem Schoß. Was diese Radfahrer da wohl zu gucken haben mögen, aufheulend wird wieder beschleunigt. Wir entdecken noch weitere Storchennester auf anderen Hochspannungsmasten und fahren dann beschwingt über diese Beobachtung weiter. Als Familienvater fragt man sich, ob die Begrüßungsriten in der eigenen Familie nicht auch einer Reform unterzogen werden müßten.


Ob das der Friedrichkanal ist ?
Die Landstraße führt kilometerlang schnurgeradeaus, kein Ziel voraus. Aber links und rechts ist es immer noch "Drömlingsch", saftige, mit Buschgruppen bestandene Wiesen, breite Entwässerungskanäle. Endlich Häuser, das ist Buchhorst. An einer Brücke über einen breiten Kanal rasten wir, ob das der Friedrichkanal ist? In einem Wohnmobil sitzen Wessis beim Kaffeetrinken. Heidi raucht eine. Ich stöbere fotografierend herum. Ein verlassener Bauernhof, aber eine Katze und Hühner lassen auf Bewohner schließen. Eine radfahrende Familie zieht vorbei. In den Weg am Kanal einbiegend sagt die dazugehörige Mutter "Das habe ich doch gleich gesagt", und meint sicher die ungewisse Streckenplanung. Solche Sprüche kenne ich auch! Schadenfroh beobachte ich, wie der wegkundigen Dame auf dem huppeligem Weg die Tasche vom Rad fällt.

In Sichtweite verläuft die Bahnlinie Oebisfelde - Klötze, die mitten durch den Drömling führt. Da kommt auch schon mit vernehmlichen Pfeifen ein Züglein, 3 Waggons und ein Gepäckwagen, das freut des Radfahrers Herz. Heute ist kein Bahnfahren angesagt, am Gasthof "Drömling" in Buchhorst treffen wir auf eine weitere Radfahrergruppe. " Kennen Sie sich hier aus?" frage ich vorsichtshalber. "Wie kommt man nach Kaiserwinkel?". "Da kommen wir gerade her, 8 km". Aber dafür müssen wir wieder zurückfahren, wo wir gerastet haben. An den Bäumen am Straßenrand vergnügt sich ein kleiner Specht, nur wenige Meter enfernt fahren wir vorbei. Wir erfreuen uns nochmal an den Misteln in den Pappeln, Heidi behauptet, es seien Eichen.

Nun fahren wir endlich den Weg an dem breiten Kanal entlang, "Ob das der Friedrichkanal ist?". Bald schon ist nicht mehr zu verkennen, daß es sich um den Kolonnenweg handelt, der entlang der Grenze den patroullierenden Kommandos dem maximalen Sichern des zu verteidigenden sozialistischem Territorium gedient hat. Für uns Radfahrer ist dieser Weg weniger komfortabel, die Lochplatten lassen die Reifen ächzen. Heidi sieht bald aus, wie nach einer Bergstrecke im Thüringer Wald. Dann links wie ein Denkmal: "Guck mal, ein Storch". Wir halten an, der Vogel steht da wie ein Modell, als ob er dafür bezahlt würde. Aber ein Storch ist es nicht, sondern ein Graureiher, obwohl auch Kraniche hier ihr Brutgebiet haben.


Tümpel
Das erfahren wir wenig später von einem weiteren Radfahrer, der sich diesen mühsamen Weg entlangquält. Wo man auf diesem Weg rauskomme, fragen wir - sicherheitshalber. "Hier geht's nach Jahrstedt" sagt er, worauf Heidi wieder in Panik gerät. Das ist aber unbegründet. denn ich bin mir meiner Sache sicher, irgendwann müssen wir den Weg erreichen, den wir heute Vormittag schon gefahren sind. "Hier geht's bis Lübeck" sage ich noch, die Grenze meinend, aber unser Mitradler versteht das falsch; "Soweit wollen sie noch?". "Heute nicht!". Dann verläuft alles wie geschmiert, abgesehen von dem unangenehmen Lochplattenweg. Kaiserwinkel gerät in's Blickfeld, wir erreichen unseren Weg, und machen dann nochmal Rast an einer Sandkuhle, einem Paradies. Die Vögel zwitschern, Frösche quaken, der weiße Wasserhahnenfuß blüht wie ein Teppich auf der Wasserfläche.

Ich hüpfe über ein paar Wasserpfützen und mache ein Foto. Ein paar Ranken Wasserhahnenfuß für den Gartenteich zu Hause landen in der Serviette "für unterwegs", in der Annahme, daß es sich nicht um einen allzugroßen Naturfrevel handelt. Endlich rollen wir die letzten Meter zu unserem Auto zurück.

-- 35 km, ob sich diese Fahrt wohl gelohnt hat? --


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