Mal eben nach Dresden

Braunschweig - Dresden
5.-9.6.95

Album
Album2003
English Version

Vor 5 Jahren (1990) begab sich folgendes: die alljährlich in der Woche nach Pfingsten abgehaltene Arbeitssitzung des WRAKG (Wissenschaftliche Rechenzentren ArbeitsKreis Grafik) fand in Berlin statt. Da bin ich dann mit dem Fahrrad hingefahren.

In diesem Jahr wurde die Sitzung in Dresden anberaumt. Da bin ich dann wieder mit dem Fahrrad hingefahren. Im folgenden wird darüber berichtet.

Eigentlich wollte ich die Fahrt in zwei Tagen abwickeln, aber nach Aufaddieren der Kilometer (380) ist das dann doch wohl zu viel des Guten. Da ist auch der zu erwartende Rückenwind nicht die Garantie für das Gelingen von zwei Mammutetappen.

Besser wird der Pfingstmontag hinzugenommen, sodaß ich mit zwei Tagen Urlaub drei Tage für die Anfahrt habe. Endlich können nun die neuen Reisetaschen von Ortlieb eingeweiht werden, die für den markenbewußten Reiseradler unverzichtbar sind. Hauptvorteil dieser Taschen: sie sind absolut wasserdicht und außerdem in leuchtendem Rot gehalten. Das harmoniert dann mit der Farbe des Rades und meinem in Frankreich erstandenen Fahrradtrikot.

An dem herbeigesehnten Morgen strahlt die Sonne, sodaß es mich schon bei Sonnenaufgang gegen 6.45 Uhr auf die Strecke treibt. Zu Hause schlafen noch alle, ebenso die meisten Pfingstausflügler, sodaß es erstmal herrlich ruhig auf den Straßen ist.

Ich rolle durch Wolfenbüttel, dann schon an der Asse entlang, rechts grüßt der Brocken. Weil ich ja wie viele andere ein rechter Brockenfan bin, wende ich mich bald nach rechts, um genau auf den Brocken zu zu radeln. Zudem bin ich diese Strecke noch nie gefahren, so habe ich schon nach einer halben Stunde Neuland unter den Rädern. In der Nähe von Hornburg erreicht man das Große Bruch, wo ein gut befestigter Weg schnurgerade durch das ehemalige Moor in Richtung Osten führt. Die schwarzbraune Farbe des Bodens erinnert noch an die sumpfige Vergangenheit. Inzwischen herrschen hier Wiesen und Rapsfelder vor.

Ab und zu erfreut man sich an ein paar Rehen oder einem wegstreichenden Raubvogel. Bei Mattierzoll erinnert eine Schautafel an die nun längst abgewickelte Unsinnsgrenze. Ich fahre weiter bis Bahnhof Jerxheim, nicht ohne vorher eine Abzweigung zu verpassen und in einer Wiese zu landen.

Nun wird die längst abgewickelte Grenze passiert, die Jahreszahl 1990 an der Straßenbrücke ist uns ja noch gut gegenwärtig. Der ehemalige Todesstreifen ist heute ein Naturschutzgebiet. Ein sehr positives Beispiel für eine "Flächenumnutzung"! Dennoch liegt mitten auf der Straße ein kleiner Fuchs in seinem Blut. Ein paar hundert Meter weiter kündet ein blumengeschmücktes Kreuz am Straßenrand von einer wohl für einen Menschen tragisch ausgegangenen Katastrophe.

In Dedeleben war ich schon mal und habe dort ein Foto von einem Dorfteich vor der Kirche gemacht - (dachte ich es war nämlich in Anderbeck). Das möchte ich nun wieder tun, und mache mich auf die Suche. Die Straßen bestehen durchweg aus einem furchterregenden Kopfsteinpflaster. Irgendwie gelingt es mir nicht, die Kirche zu finden, einmal fahre ich hinter ihr vorbei, einen Zugang finde ich jedoch nicht. Als ich das dritte Mal an demselben Bauernhof vorbeifahre, die Anwohner kennen mich nun wohl schon, gebe ich auf und mache mich auf den Weg in das benachbarte Pabstorf.

Wenn man mitten auf der Straße fährt, liegt die Kirchturmspitze von Pabstorf genau voraus. Wenn man sich dann einmal umdreht, liegt die Kirchturmspitze von Dedeleben genau hinter einem. So haben diese Kirchen wohl in früheren Zeiten einmal eine sehr wegweisende Bedeutung gehabt.

Es geht nun ein wenig in südliche Richtung auf den Huy zu. Vor dem Ort Eilenstedt das nächste Gruselerlebnis. Plötzlich steht ein Einweckglas mit Blumen am Rande der Straße. Und dann: Bremsspuren und Kreidestriche, Glassplitter, ein blutverschmierter Gummihandschuh im Gras. Und auf der Straße eine noch erkennbare Blutlache. Eine Gänsehaut ist das einzige, was man da in Unkenntnis der Umstände dieser Pfingsttragödie empfinden kann.

Von Eilenstedt geht es über eine Nebenstraße in entsprechendem Zusand über Haus Nienburg, einer alten Domäne, nach Schwanebeck. Ich habe ein kleineres technisches Problem. Auf den Holperstrecken läßt sich die Kartenhülle auf der neu angeschafften Lenkertasche nur schlecht fixieren, immer wieder rutscht sie über den Lenker und die Karte plumpst herunter. Mit zwei Wäscheklammern ließe sich das Problem beheben. Ich nehme mir vor, im folgenden ein Auge auf eine strategisch günstig hängende Wäscheleine zu haben.

In Schwanebeck muß die Karte gewechselt werden, sie trägt nun den Titel "Magdeburger Börde". Richtung Gröningen muß ich ein Stück auf der B 81 fahren, da herrscht ein unerträglicher Verkehr. Der Autostrom reißt überhaupt nicht ab. Ab Gröningen aber beginnt eine abenteuerliche Strecke, und die ist fast völlig autofrei. Hier kann man alle Arten von Straßenbelägen studieren, keine davon für den Radler ein Genuß. Sehr schön ist das Kopfsteinpflaster aus rotem Porphyr, wenn man Glück hat, sind in der Mitte zwei Fahrstreifen aus grauem Kunstbasalt. Wenn sich aber ein motorisierter Verkehrsteilnehmer nähert, muß man als der Schwächere über die grob gefugten Pflasterblöcke holpern, und auf dem sandigen, durch zahlreiche Pfützen garnierten Seitenstreifen ballancieren.

Die Ortsdurchfahrten sind gänzlich ungenießbar, allenfalls auf den Gehwegen ist ein Fortkommen. Ab Dalldorf ist die Straße oder besser der Weg durchweg unbefestigt, da lernt man mal wieder, was Schlaglöcher sind und wie man sie umfährt. Einmal gibt es ein "Schlagloch", das ist so breit wie die ganze Straße, da geht es nur über die angrenzende Wiese weiter.

Rechts liegt ein Waldgebiet, das heißt laut Karte "Hakel". Oben steht ein Fernsehturm oder sowas. Links zieht sich ein Höhenzug hin, da liegt die "Alte Warte", was immer das sein mag. Aus der Ferne sieht das so aus wie ein Silo.

So langsam nähere ich mich Staßfurt. Es zeigt sich der Nachteil meiner Radwanderkarte. Die für Radfahrer empfohlenen Strecken sind rot oder orange eingezeichnet, vor Ort aber kaum zu finden, weil nicht beschildert. Besser, man hält sich an die ausgeschilderten Verbindungsstraßen. In Groß Börnecke muß ich diesbezüglich wieder Kontakt über den Gartenzaun aufnehmen, wo man mir versichert, daß die erfragte Richtung genau die ist, aus der ich gerade herkomme. Ich sei von Gröningen hergefahren, teile ich mit. "Von so weit kommen sie schon", sagt er Sohn der dreiköpfigen Familie. "Gestartet bin ich heute in Braunschweig" halte ich entgegen. Offene Münder - "so hat jeder seinen Sport" sagt der Vater dann schließlich.

Ich bedanke mich für die Auskunft und rolle in die gewiesene Richtung. Meine Wäscheklammern habe ich immer noch nicht.

Eine Ortsansicht
In Staßfurt fällt gleich linkerhand ein architektonisch aufwendiges Gebäude ins Auge. Da hat man sich ausgetobt und den Solidaritätszuschlag in ein - ich nehme mal an - Verwaltungszentrum investiert. "Radweg Ende" steht an just dieser Stelle zu lesen. Dann folgen ALDI und MINI-Markt, ich mache mich auf die Suche nach der Innenstadt.

Staßfurt ist ein bekannter Name, eine Formation der Ablagerungen des Zechsteinmeeres trägt seinen Namen. Das habe ich von vielen geologischen Exkursionen noch im Ohr. Wohl deshalb erwartet man von dem Ort wohl zu viel, denn ein ansprechender Ortsmittelpunkt ist nicht auffindbar. Als ich später nachlese, fehlt der Ort Staßfurt im DDR-Reiseführer von 1989 dann auch völlig.


Torturm und Kirche in Aken
Nach all den Bemühungen finde ich mich auf einer schnurgeraden Straße wieder, die führt nach Nienburg, wo die berühmte Bode aus dem Harz in die Saale mündet. Nun komme ich auch einmal schnell voran, die Straßen sind vorbildlich und der Rückenwind drückt auf die abgestellten Ohren.

Etwas außerplanmäßig kommt man in Aken raus, aber das liegt an der Elbe, und damit kann die Erkundung elbeaufwärts beginnen. Ich suche den Anleger der Fähre auf, da strömt sie dahin, die Elbe. Ein paar Jugendliche stehen um ihre Autos herum, aus denen Stereoklänge dröhnen. Verständnislos schauen sie mir beim Fotografieren zu. Die Fähre ist nicht in Betrieb, wegen Hochwassers.


Ankunft an der Elbe
In Richtung Dessau, dem nächsten Ziel, hat sich ein bedrohliches Unwetter aufgebaut. Rabenschwarze Wolken, es grummelt vernehmlich. Da kommt mir ein Imbißstand sehr zupaß. Hier scheint immerhin noch die Sonne. Unter einer Pappel kann ich eine Thüringer Bratwurst verspeisen.

Dann aber auf ins Schwarze. Bald tröpfelt es, die Regenjacke an und weiter. Rechts liegt ein Wald, da warnen Schilder vor Munitionsresten und damit verbundener Lebensgefahr. Das Ganze war wohl mal ein Militärgelände mit Flugplatz.

Der Regen zieht vor mir her, die ausgedehnten Wasserlachen um die verstopften Gullis lassen auf die Regengüsse schließen, die hier vor kurzem niedergegangen sind.

Dessau ist ja nun auch einigermaßen berühmt durch das Bauhaus. So sind schon die Straßennamen mit den Namen von Gropius, Mies van der Rohe usw. versehen. Einmal in Fahrt, lasse ich mich immer nur schwer von solchen Sehenswürdigkeiten beeindrucken. "Da muß man dann mal in Ruhe mit dem Auto hinfahren", denke ich dann für gewöhnlich. Sind wir aber mal mit dem Auto unterwegs, so heißt es immer: "Da müssen wir nochmal in Ruhe mit dem Fahrrad langfahren". Wie soll man es nur richtig machen?

Dessau ist für den Radfahrer, der gerade aus der Botanik auftaucht, eine regelrechte Großstadt. Ich bin froh, daß ich mich auf der erwünschten Route Richtung Wörlitz wiederfinde. 12 Stunden bin ich schon unterwegs, das Nachtquartier lockt. Das verspreche ich mir in Wörlitz, denn dort ist ein ganz bekannter Landschaftspark mit Schloß, da gibt es sicher Hotels, Pensionen und so weiter.

Meine körpereigenen Morphine, Adrelanine oder was auch immer für Dopingmittel funktionieren ausgezeichnet, ich fahre völlig beschwerdefrei die letzten Kilometer dieser zweitlängsten Tagesetappe meiner Radlerkarriere.


Elbe-Kraftwerk Vockerode
In Vockerode wird noch das Elbe-Kraftwerk passiert. Auf den ersten Blick abschreckend durch seine hochaufragenden vier Schornsteine. Beim näheren Hinsehen zeigt sich ein monumentales Fabrikgebäude aus Backstein, das könnte man unter Denkmalsschutz stellen. Die ganze Anlage wirkt ziemlich "abgewickelt", doch das Pförtnerhäuschen an der Fabrikeinfahrt ist besetzt. Es gelingt mir noch ein Foto: Schornsteine gegen untergehende Sonne, dann biege ich Richtung Parkplatz "Park Wörlitz" ein.

Durch ein Portal in einem respektablen Gebäude, früher mal ein Hotel laut Aufschrift, gelange ich nach Wörlitz. "Zimmer frei" lacht es mir auf einer Tafel entgegen. Aber da meine Morphine noch arbeiten, will ich nicht gleich umfallen. Ein paar Jugendliche kommen vorbei, die frage ich gleich "Seid ihr von hier - wo kann man hier am Besten übernachten?" Na entweder gleich da, oder im Hotel Wörlitz, aber das ist teurer. "Aber das dürfte ich gar nicht sagen, meine Mutter arbeitet da" sagt der eine. "Hier ist schon gut" sagt der andere.

So bin ich also ausreichend motiviert, in besagtem Lokal nach einem Quartier nachzufragen. Alles kein Problem - und das übliche Aufatmen. Nach Duschen und modischem Einkleiden erscheine ich wieder in der Gaststube, wo mir zum abendlichen Essen aber sonderbarerweise ein Lokal um die Ecke empfohlen wird.

Nach einer Ortsbesichtigung, Kirche, Schloß, Rathaus und was man sich so anzusehen pflegt, finde ich mich in dem Lokal "Kartoffelkäfer" ein. Dort erschrecken mich dann doch die beiden riesigen Kammkoteletts, deren ich gerade noch Herr werden kann.

Beim abschließenden Bilanzieren des Tages: Der Tacho zeigt die erstaunliche Kilometerzahl 193, Durchschnittsgeschwindigkeit 17.2, maximale Geschwindigkeit 51.5, das war gleich hinter Wolfenbüttel.

Dienstag

Das Lokal, in dem ich genächtigt habe, heißt übrigens "Zum Gondoliere". Auf der Speisekarte ist der Chef, verkleidet als venizianischer Gondelstaker abgebildet, grüne Eichen im Hintergrund. Das hat seine Bewandnis darin, daß ehemals Dessau Anhaltinische Oberhäupter der herrschenden Klasse den hiesigen Park nach südeuropäischen Vorbildern haben anlegen lassen. So liegen dann auch an einem Anlegesteg des Teiches in Parkplatznähe eine Menge Gondeln vor Anker, in Erwartung von romantikbesessenen Busgästen.

Beim Frühstück stelle ich die Bedienung auf die Probe: "Ich frage Sie jetzt mal was, was wohl noch kein Gast gefragt hat. Haben Sie vielleicht zwei Wäscheklammern?" Ratlosigkeit, die Wäsche würde ja immer weggegeben. Aber Büroklammern vielleicht? Na klar, das geht auch. Nicht nur zwei, nein, sechs Büroklammern bringe ich in meinen Besitz, und damit ist das Problem der rutschenden Kartenhülle gelöst.


Wörlitzer Schloß
Ein Foto vom Wörlitzer Schloß, Fahrradfahren im Park verboten, so kann es wieder auf die Reise gehen. Gerne würde ich die Fähre nach Coswig nehmen, um dann die Lutherstadt Wittenberg anzusteuern. Daraus wird wieder nichts, "Fähre außer Betrieb" ist zum Glück rechtzeitig angezeigt. Offenbar immer noch Hochwasser!

Auf der Karte ist ein Weg in rot (ideal für Radfahrer) eingezeichnet, den suche ich erstens nicht und finde ihn zweitens noch weniger. Es soll vor dem Krieg mal einen Elberadweg gegeben haben, von dem träumt man wohl heute noch. Solange da nichts ausgeschildert oder markiert ist, ist das für den Ortsunkundigen ein fragliches Abenteuer.

Auf normalen Landstraßen gelange ich bis vor die Tore von Wittenberg. Was früher die Tore waren, sind heute die Einfallstraßen. Diese ist so stark befahren, daß mir die Lust vergeht und ich noch vor Erreichen der Elbbrücke umkehre. In einer Brückenunterführung kann man das Hochwasser studieren und ein Foto machen.

Die sich anschließende Strecke ist wenig attraktiv. Die Elbe bekommt man so gut wie nie zu Gesicht, die Straßen sind weiter von grober Beschaffenheit und die Ortsdurchfahrten noch schlimmer. So vertraut man sich dann doch irgendwann der Bundesstraße B 182 an, um ein wenig flotter voranzukommen.

In Pretzsch liegt ein Schloß, wohl als Kinder- und Jugendheim genutzt. Auch hier ist der Fähranleger verwaist. Ein Pärchen sitzt in seinem Auto und studiert etwas ratlos den Autoatlas. Die denken wohl, mich hätte man auch reingelegt, aber ich bin nur aus Schaulust hier.

Also weiter auf der Bundesstraße. Vor Torgau kann endlich wieder auf eine Nebenstrecke ausgewichen werden.

Torgau ist bekannt durch das Zusammentreffen der Amerikaner mit den Russen zum Ende des zweiten Weltkrieges vor genau 50 Jahren. Ich werde auch eine weniger in die Analen eingehende Elbüberquerung vornehmen, denn es gibt seit Wittenberg hier die erste Brücke. Zuerst finde ich mich auf dem großen rechteckigen Marktplatz wieder, dann auf der Suche nach der Elbbrücke - ganz zufällig - vor dem Torgauer Schloß. Der Burggraben beherbergt ein paar Bären, die sich faul herumwälzen. Die Sonne scheint ihnen aber nicht gerade auf den Pelz, denn es dunkelt sich zusehends ein.


Schloß in Torgau
Also schleunigst über die Elbe, am anderen Ende der Brücke bietet sich Torgau als Panorama von Burg und Kirchtürmen (ist auch im Reiseführer so abgebildet). Mir kommt es gar nicht in den Sinn, ein Foto zu machen, obwohl das sicher schaurig düster geraten wäre. Weit komme ich nicht mehr, dann bricht der Regen los. Im nächsten Ort nimmt mich eine geräumige Bushaltestelle auf. Ein paar Jungs stehen hier auch unter, mit denen kann ich mich kaum verständigen, weil sie so nuscheln. Es dauert gar nicht mal lange, dann läßt der Regen nach. Wenige Kilometer weiter ist die Straße wieder staubtrocken, das ist besonders wegen der Pfützen auf den Sommerwegen und Randstreifen von Wichtigkeit.

Der Nachmittag vergeht mit der Strecke östlich der Elbe. Auf einmal fällt mir die linke Strebe des vorderen Schutzbleches ins Auge - optisch meine ich. Die Strebe ragt seitwärts weg und ist an der Verschraubung abgebrochen. Kein Wunder bei diesen Rüttelstrecken. Um weitere Schäden zu vermeiden, baue ich das Schutzblech ganz ab und nehme es als zusätzliches Gepäckstück auf.

Ein Quartier ist zunächst noch nicht in Sicht. Am gegenüberliegenden Elbufer macht der Ort Strehla einen einladenden Eindruck. Aber da ist ja nun einmal nicht hinzukommen. Erst in Riesa ist die nächste Brücke. Hier scheint vornehmlich Industriegebiet zu sein, zudem lande ich auf einer vierspurigen Straße, wo man mit über hundert Sachen dahinrast. Als ich vorsichting auf dem Seitenstreifen fahre, spüre ich plötzlich ein Schlingern im Rad - ist wieder was gebrochen? Da aber schlägt der Reifen schon durch: Ein Platter auf dem Hinterrad. Wenige Meter kann ich noch weiterschieben, dann löst sich der Mantel von der Felge und blockiert das Hinterrad. Für einen geeigneten Platz zum Reparieren muß ich die vierspurige Straße mit dem dahinrasenden Feierabendverkehr überqueren. Das dauert etliche Minuten und ist lebensgefährlich, mit so einem bepackten Rad unter dem Arm.

Dann werden die Taschen abgebaut und der Schlauch ausgewechselt. Das geht ganz flott, nur schwarze Finger behält man zur Erinnerung. Im angrenzenden Ort treffe ich einen Mann auf der Straße, den ich nach einer Übernachtungsmöglichkeit auf der weiteren Strecke fragen kann. Er hat einige gute Vorschläge, am besten sei das Ross in Diesbar-Seußlitz an der sächsischen Weinstraße. Bis dahin mögen es noch 20 km sein. Das ist zu schaffen.

In einer Pfütze wasche ich mir die Hände und genieße dann den abebbenden Verkehr, denn die weitere Strecke Richtung Meißen ist gesperrt. Ein Mann versichert mir auf mein banges Fragen aber, daß man an der Baustelle mit dem Fahrrad ohne weiteres durchkäme.

In Erwartung von Schloß Diesbar-Seußlitz diesseits der Elbe entdecke ich rechterhand eine Burg. Das bringt mich nun ganz aus der Fassung, denn die Elbe fließt doch dazwischen. Wenn man genauer auf der Karte nachguckt, handelt es sich um Neuhirschstein auf der anderen Seite. Ich komme dann auch an dem erwarteten Schloß raus, dann wird mein Lokal ja nicht mehr weit sein, und ich kann mir das Schloß später anschauen, spätestens am nächsten Morgen.

Aber es geht weiter und weiter, kein "Ross" zeigt sich. Wieder eine Frage über den Gartenzaun: "Kommt hier noch ein Gasthof Ross?" "Do hindn hindr dn Bobbeln" klingt es ursächsisch zurück. Neben der Straße stehen steil aufragende Felswände. Ob die natürlich enstanden seien oder ob das ein Steinbruch sei, muß ich noch fragen. Es handle sich um die Ausläufer des Oberlausitzer Höhenzuges, die Steine habe man nach Hamburg zum Hafenbau geliefert. Auch der Reichstag in Berlin sei aus Elbsandstein erbaut. Wieder was gelernt - nur ob es stimmt, weiß ich nicht.

An Weinbergen entlang - hier ist das nördlichste Weinanbaugebiet Deutschlands - erreiche ich schließlich das Ross hinter den Pappeln. Ich bekomme ein Zimmer mir Blick auf die Elbe, der ist allerdings von Kastanien verstellt.

Der Gasthof Ross erfreut sich offensichtlich eines ausgezeichneten Rufes, denn die Gaststube ist gut gefüllt. Das Lokal ist seit 1945 auch durch die DDR-Zeit hindurch in Familienbesitz. Wie alt das Haus sei, habe man noch nicht herausgefunden. Außerdem stellt sich die Tochter des Hauses als Gabriele I. vor, amtierende Weinkönigin des Distrikts. Das steht alles in der Speisekarte.

Mit drei Scheiben Schweinebraten zu Klößen und Sauerkraut zum Preis von DM 10.- werden die verbrauchten Energien ersetzt. Ein Rundgang muß wegen einsetzenden Dauerregens entfallen. Damit lautet die Tagesbilanz: 143 Km, Durchschnittsgeschwindigkeit 17.6 km/h.

Mittwoch

Es regnet die ganze Nacht und am Morgen immer noch. Mit dem Frühstücksbuffet kann man sich also Zeit lassen. Die Fahrt zurück bis zu dem Schloß muß dagegen entfallen. Bei leichtem Nieseln breche ich auf, bald hört der Regen dann doch auf, sodaß man die hier sehr schöne Landschaft genießen kann. Ich fahre den Weg an der Elbe entlang, wieder eine Baustelle und Sperrung für Kfz-Verkehr. Hier entsteht eine Kläranlage für die Stadt Meißen.


Meißen
Die zeigt sich schon bald auf der anderen Seite, unübersehbar durch die Türme von Dom und Albrechtsburg. Auf der Brücke hinüber in die Stadt stauen sich wieder die Autos. Am Elbufer lege ich einen neuen Film ein und begnüge mich mit einer Aufnahme. Man muß sich ja noch ein paar Dinge für spätere Besuche aufheben. Auch denke ich mir, mit Ehefrau nur schwerlich an dem ganzen Porzellan vorbeizukommen.

Außerdem bin ich heute besonders faul, bis Dresden sind es keine 30 km mehr. Die bummele ich einfach ab, durch Radebeuel, Karl Mai hat es hier wohl umgetrieben, doch davon ist nichts zu bemerken. Ich lande zwischen Schrebergärten. Dort kann mir ein Herr den weiteren Weg erklären, es geht im Wesentlichen über die Kötzschenbroder Straße. Dann auf die Leipziger Straße und man kommt am Bahnhof Neustadt raus. Die Hansastraße zurück erreiche ich Hotel Astron, wo schon Wochen vorher ein Zimmer reserviert wurde.

Das Fahrrad schließe ich an einem Mast an, ziehe eine lange Hose über und betrete dann mit den Packtaschen das palastartige Hotel, sechs Sterne, in Betrieb erst seit Oktober letzten Jahres. Mein Zimmer kann ich schon beziehen, die Zimmermädchen sind gerade fertig geworden. Der Fernsehapparat ist angestellt, auf dem Bildschirm wird man persönlich mit Namen genannt und begrüßt. Dafür zahlt man also sein Geld.

Weitere Schilderung dieser Nobelherberge will ich mir sparen, wer kennt das nicht! Nur, daß man den stolzen Zimmerpreis von DM 330.- wohl kaum aus eigener, d.h. privater Tasche zahlen würde. Ich bekomme das wenigstens für die Hälfte (Universitätsrabatt), und außerdem über die Reisekosten wieder herein.


Elbflorenz
Ich fahre bald wieder mit dem Fahrrad los, nicht ohne ständig über die Sehenswürdigkeiten Dresdens zu stolpern. So habe ich nur so im Vorbeifahren die Elbterrassen mit der weißen Flotte, Hofkirche, Schloß, Semperoper und den Zwinger in den Augenwinkeln registriert.

Ich gerate westlich der Stadt auf Anhöhen so in der Nähe des Fichte Parks. Auf der Rückfahrt kann ich ein paar Fotos von den Dingen machen, die ich bisher nur im Augenwinkel bemerken konnte.


Der Dresdener Zwinger

Nach dem obligatorischen Anstaunen des Zwingers gerate ich vor das bemerkenswerte Szenario um die Frauenkirche. Diese soll ja nun wieder aufgebaut werden, und das wird - das kann man schon sehen - eine teure Sache. Zunächst ist man wohl dabei, die steinernen Fragmente zu sortieren, ein gigantisches Puzzle mit hunderttausend (?) Teilen. Es sind so eine Art Kellerregale aufgestellt, auf denen die Gesteinsbrocken verschiedener Größe erstmal gelagert werden. Wie man das finanzieren will, erfährt man auch sogleich: man hat Armbanduhren im Angebot, darauf ist die Frauenkirche eingraviert, allerdings im erwünschten, also unzerstörtem Zustand. Der Erlös soll dem Wiederaufbau zufließen. Auf dem Schreibtisch im Hotel finde ich dann noch einen weiteren Hinweis für eine diesbezügliche Investition:

"...Die streng limitierte deutsche Telefonkarte mit einem Motiv der Dresdener Frauenkirche in einer attraktiven Klappkarte..."


Baustelle Frauenkirche
Am Abend ist noch ein erstes Arbeitsessen angesetzt (Zum Goldenen Ring am Altmarkt), und da trifft man dann die Kollegen aus Dresden, Darmstadt, Hannover, Aachen, Berlin, Bonn, Göttingen, Greifswald, Rostock usw.

Abschließend will ich nur berichten, daß am nächsten Abend ein zweites weiteres Arbeitsessen mit mittlerweile c.a. 40 Teilnehmern angesetzt ist. Das findet ganz im Süden in Torna im Lokal "Zum Goldenen Stiefel statt". Zu dieser Gelegenheit fahre ich wieder mit dem Fahrrad an, einmal, um von öffentlichen Verkehrsmitteln oder gar Taxi unabhängig zu sein. Zum anderen kann ich auf diese Weise noch ein Stück elbeaufwärts weiterfahren, und die Elbe über das berühmte "Blaue Wunder", eine der ältesten deutschen Stahlbrücken, queren.

Das geht dann insofern schief, daß der Weg an der Elbe entlang am Schloß Albrechtsberg gesperrt ist, weshalb man die Höhe erklimmen muß und auf der Bautzener Straße bis zu dem schluchtartigen Einschnitt mit dem schaurigen Namen "Mordgrund" fährt. Von dort geht es über Kopfsteinpflaster dann so steil hinunter, daß die Bremsen quietschen. Immerhin kann man dann sogleich das blaue Wunder erleben.

Was dann kommt ist vergleichbar mit einer Orientierungsrallye. Immer wieder ein Blick in den Stadtplan. "Kann ich Ihnen helfen?" fragt ein Jugendlicher. "Nach Torna...?" "Oh näh, nie gehört". In diesem Sinne verläuft diese Unternehmung schließlich doch zum guten Ende im goldenen Stiefel aus, wo tatsächlich das Bier aus - allerdings gläsernen - Stiefeln getrunken wird. 17 km habe ich vom Hotel bis hierher zurückgelegt. Die Rückfahrt auf direkter Route beträgt nachher nur 9 km.

Am Freitag sitze ich um 13.21 im Interregio nach Braunschweig, Platzkarte und Fahrradreservierung, das war ja alles schon vorher erledigt. Die Rückfahrt mit dem Zug dauert 4 Stunden über Leipzig, Halle und Magdeburg. Aber darüber läßt sich nichts weiter erzählen.

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