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24.12.89 Freie Fahrt nach Wernigerode

Nach dem Besuch unseres Herrn Bundeskanzlers in der DDR hat man sich nun auf den 24.12.89 als Termin für die Abschaffung des Visums und des Zwangsumtauschs bei Einreisen von Bundesbürgern in die DDR geeinigt. Zwar habe ich das vorsorglich bestellte Visumsformular inzwischen zugestellt bekommen, doch so eilig ist das nun im Winter mit dem Reisen auch wieder nicht. So enteilen die Ereignisse wieder einmal der Vorausschau, das Visum kommt nicht mehr zum Einsatz.

Am 23.12., einen Tag vor dem großen Ereignis ruft Thomas an, am Telefon melde ich mich gleich mit "Wo soll's denn hingehen" und treffe damit auch schon den Punkt: gleich am Heiligabend los, möglichst mit dem Rad. Ein vorsichtiger Blick Richtung Frühstückstisch, wo der Rest der Familie und Hund eines harmonischen Familienweihnachtsfestes harren. Zustimmendes Kopfnicken, "fahr man los" oder dgl. macht die Sache perfekt. Schließlich fällt in diesem Jahr der Heiligabend auf einen Sonntag, da kann man den Weihnachtsbaum schon am Sonnabend aufbauen, eine Arbeit, die manchmal schon Stunden erfordert und blutige Hände verursacht, weil für gewöhnlich der Stamm nicht in den Ständer hineinpaßt. Dieses Jahr haben wir ein bescheidenes Bäumchen, da macht das keine Probleme - ein gutes Omen.

Bald nach 8 Uhr brechen wir auf, verstauen die Räder auf dem Dach bzw. im Rückraum des Autos und fahren dann über Wolfenbüttel Richtung Bad Harzburg. In Bettingerode bei Harzburg wird der Wagen vor einer Metzgerei abgestellt, knappe 10 km sind es von hier noch bis an die Grenze. Viel ist heute morgen noch nicht los, es herrscht kaum Verkehr. Das ändert sich aber nach der Einmündung in die Bundesstraße von Bad Harzburg nach Eckertal, in beide Richtungen wird es nun lebhafter, wir als einzige Radfahrer fühlen uns da weniger wohl. Bald zeigt sich das Ende eines - jetzt noch kurzen - Autostaus, an den Fahrzeugen vorbei fahren wir um eine Kurve und stehen an der Grenze. Auf unserer Seite steht ein Spielmannszug aus Silstedt b. Wernigerode und spielt zur Begüßung ein paar flotte Weisen. An der Reaktion der Menschen, die von beiden Seiten die Grenze passieren, spürt man schon ein wenig von dem bevorstehenden Empfang auf der anderen Seite.

Nachdem Thomas fertig photographiert und eine Weile in seinem Gepäck herumgepumpelt hat, zwängen wir uns neben den Autos durch den Todesstreifen. Noch hat man nichts unternommen, dieses schaurige Relikt des kalten Krieges zu beseitigen. An der Abfertigungsstelle der DDR-Grenzbeamten ist man sehr freundlich, nicht nur weil Heiligabend ist, wünscht jeder jedem eine frohe Weihnacht. Wir bekommen eine Zählkarte in den Paß gelegt, die ausgefüllt werden und bei der Ausreise abgegeben werden muß.

Dann passieren wir den zweiten Grenzzaun und befinden uns nun im früheren Sperrgebiet, bis vor kurzem auch für die DDR-Bürger unzugänglich. Trotzdem stehen hier noch Häuser. Wie sind die Menschen, die hier leben, bloß mit der Einsamkeit fertig geworden. Heute ist es damit vorbei, auf beiden Seiten der Straße stehen die Leute, die meisten mit kleinen Geschenken für die Einreisenden. Ich will erstmal gar nichts haben, einen Schluck Tee lassen wir uns aber spendieren. Man will sich nun für den Empfang der DDR-Bürger in der Bundesrepublik nach Öffnen der Grenzen am 11. November revanchieren.

Nun fahren wir los, alles sieht hier anders aus. Mehr als nach Überschreiten einer anderen europäischen Grenze hat man das Gefühl, in einem anderen Land zu sein. Dabei sollte es "ein" Land sein - oder wieder werden. Erstmal fahren wir durch Stapelburg hindurch, durch unsere Kleidung und Räder sind wir wohl jedem als Westler erkenntlich, entsprechend wird ständig gewunken, gehupt, geklingelt und ein frohes Weihnachtsfest gewünscht. Kurz hinter Stapelburg haben zwei eine Tafel am Wegrand aufgebaut, es werden Stollen, belegte Brote, Tee und wohl auch ein Schnäpschen bereitgehalten. Ein Stück Stollen lassen wir uns schmecken. Die beiden kommen von irgendwo hinter Blankenburg und sind extra zur Begrüßung hierher gefahren. In Blankenburg sei noch alles verschlafen, sagen sie.

Wir wollen erstmal nach Wernigerode und fahren weiter. Das erste Mal auf einer Straße, die wir in den nächsten Monaten und Jahren noch sehr oft bei Besuchen des Ostharzes befahren werden. Nun kommen wir nach Ilsenburg, hier liegt eine größere Industrieanlage, irgend eine Eisenverhüttung (inzwischen wegen lebensgefährlicher Dioxinablagerungen stillgelgt). Die Wohnviertel am Ortsrand sind einigermaßen trostlos, man hat da einfach ein paar Blocks hingebaut: nun wohnt mal schön. Viel anders geht es mancherorts bei uns ja auch nicht zu. In einer Garage hat man ein provisorisches Lokal eingerichtet und versucht mit Transparenten, die Vorüberfahrenden zu einer Einkehr zu bewegen. Die Ortsmitte von Ilsenburg ist recht malerisch, eine kleine Wasserfläche, ein Platz mit einem traditionsreichen Restaurant (Goethe, Heine usw.), recht verwinkelte Nebensträßchen, die wir ein kurzes Stück im Ilsetal aufwärts erkunden. Hier könnte man auch geradewegs zum Brocken weiter, auch dafür wird es noch Gelegenheit geben.

Wir verlassen Ilsenburg und fahren über Drübeck und Darlingerode nach Wernigerode. Einige Male müssen wir noch anhalten, ein paar Worte wechseln und irgendeine Aufmerksamkeit entgegennehmen. Einer erzählt, daß er gleich am ersten Tag nach Grenzöffnung bis Nürnberg "durchgetrabbit" sei und mitten in der Nacht die verdutzten Verwandten aus dem Bett getrommelt habe. Da kommt Freude auf.

In Wernigerode fahren wir erstmal ein bißchen außen herum, nähern uns schließlich von der Bergseite her der Ortsmitte. Unversehens stehen wir auf dem Marktplatz dem historischen Rathaus gegenüber, von dem man schon oft gehört hat. Sogleich werden wir angesprochen, einer erklärt uns, wo sich der Empfang mit Kaffee und Kuchen befindet, ein anderer zählt die Orte einer Radtour auf, die er vor dem Krieg durch Deutschland unternommen hat. Nicht einmal Luft holen muß er dabei.

Reges Interesse rufen die elektronischen Tachometer hervor, die gibt es hier noch nicht. Jetzt ziehen wir lieber erstmal weiter. Quer zum Marktplatz verläuft eine Fußgängerpassage. Der Ort erinnert sehr an Wolfenbüttel oder Duderstadt. Schaut man sich nun erstmal um, so beeindruckt die einheitliche Fachwerkbauweise, die Häuser scheinen alle in gutem Zustand zu sein (später werden wir anderenorts noch andere Beobachtungen machen). Es gibt auch viele Geschäfte, in wohltuend bescheidenem Rahmen, nicht so konsumheischend wie bei uns. Heute sind sie natürlich geschlossen, gerne hätte ich sonst eine Wanderkarte der Gegend gekauft, die man ja bei uns noch nicht bekommt.

Am Ende der Fußgängerzone biegen wir in eine Seitenstraße und schauen uns eine Kirche aus dem 12. Jahrhundert von außen an (St. Johannis). Leider ist sie noch zugesperrt, der Christgottesdienst findet erst am Abend statt. Jetzt sind wir ein wenig durchgefroren, langsam beginnt es zu nieseln. Etwas unsicher betreten wir das Cafe am Marktplatz. Es ist fast leer, ein Fensterplatz neben der Heizung ist genau das richtige für uns. Einen Kaffee bekommen wir sofort, der zweite dauert etwas länger. Ich habe kein Kleingeld, Ostmark haben wir sowieso nicht. Also muß Thomas den Kaffee ausgeben, was ihm angesichts der für unsere Verhältnisse sehr niedrigen Zeche wohl auch nichts ausmacht. Rechnet man die 5 DM für 4 Kännchen Kaffee auch noch zum Kurs 1:3, so muß man sich fast schon schämen. Da sollte man doch bei solchen Gelegenheiten immer 1:1 zahlen.

Einigermaßen aufgewärmt verlassen wir das Cafe, es macht auch gleich zu. Es regnet schwach, Thomas meint, wir sollten noch hinauf zur Burg oben am Berg. Mir fehlt die Lust, - da sei wohl heute nichts mit mir los - ist die Reaktion. Das kann ich wegstecken. Stattdessen gucken wir nochmal hinter das Rathaus, müssen dazu durch einen überdachten Gang neben der Baustelle des Hotels "Gothisches Haus". Ob man diesen Bau noch restaurieren kann, ist fraglich, alles wird durch einige Zugträger provisorisch zusammmengehalten. Hinter dem Rathaus ist das Pfarrhaus, dort ist der Empfang. Trotz Heiligabend sind wir heute (noch) nicht so christlich gestimmt, daß wir da hineingehen wollen. Dafür gehen wir ein paar Meter mit einer Gruppe und Stadtführer mit, hier werden die verschiedenen Bau- und Fachwerkformen anhand der Knaggen und Bänder erklärt.

Wir starten wenig später zur Rückfahrt, die sich nun nicht ganz so genußvoll gestaltet, da es regnet und die Nässe von oben und unten nicht zum Wohlbefinden beiträgt. Wacker winken wir aber weiter unseren "Brüdern und Schwestern" zu. Uns kommen doch ein paar Zweifel, ob die bisher durch Abwechslungen wenig verwöhnten Anwohner der Bundesstraße sich im Klaren sind, was in der Zukunft hier verkehrsmäßig auf sie zu kommt. Ob sie da auch so freudig winken würden? Heute macht man sich sicher noch keine trüben Gedanken. Eine Zeit lang fährt ein Junge mit uns, der möchte sich das an der Grenze einmal ansehen. Das durfte er früher auch nicht. An der Grenze ist nun wesentlich mehr Betrieb als am Vormittag, der Autostau in Richtung Westen ist kilometerlang. Mit den Rädern sind wir wie immer flexibel, nach problemlosen Überschreiten der Grenze fahren wir die Autoparade bis zur Abzweigung nach Bettingerode ab. Wenig später sind wir wieder an unserem Auto, an dem ich allerdings um ein Haar vorbeigerauscht wäre. Der Kilometerzähler zeigt genau 50 zurückgelegte km an.

Nachdem die Räder und wir verstaut sind und die Heizung im Wagen ihren Dienst tut, fühlt man sich bald wieder behaglich. In Hºhe Vienenburg regt Thomas an, sich mal den dortigen Grenzübergang anzusehen, da wüßte man für später gleich, wo der sei. Zu diesem Zweck muß ich mich dann auch erstmal gründlich verfahren. Die Strecke zu den Kiesteichen endet im Nichts. Ebenso geht es einigen anderen, die mir wohl gutgläubig gefolgt sind. Dennoch gelingt es allen, kurz vor Abkippen in einen der Teiche, zu wenden. Vor Vienenburg fragen wir vernünftigerweise erst einmal einen Anwohner und erhalten die erwartete Auskunft, daß der Grenzübergang gerade in der anderen Richtung sei.

Bald sind wir dennoch dort angelangt, schließlich ist es auch ausgeschildert. Auch hier ist es interessant, die Grenzanlagen sind hier wie überall sehr sorgfältig durchdacht. Heute steht daneben ein großer Tannenbaum. Die wartenden Autos kann man überschauen, da bietet sich doch an, daß wir gleich nochmal rüberfahren und ein paar Orte weiter in Hessen - Mattierzoll wieder raus.

So wird es gemacht, nach wenigen Minuten sind wir schon wieder in der DDR, diesmal mit dem Auto. Jetzt kommt das Verblüffende: wir fahren durch Orte, deren Existenz wir bislang überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben. Die Ortsnamen haben wir noch nie gehört, obwohl wir uns jahrelang nur wenige km weiter westlich herumgetrieben haben. Da kommt zuerst Lüttgenrode, sehr malerisch an einem Berg gelegen. Das Dach der Kirche ist verfallen, obwohl diese auf dem Berg das Ortsbild entscheidend prägt. Dann liegt vor uns Osterwiek, ein Ort so groß wie Hornburg oder Vienenburg, dennoch nie etwas davon gehört. Die Ortsmitte bekommen wir heute nicht zu sehen, da wir nur auf der Durchfahrt sind, auch hat man mit ständigem Lichthupen und Winken bei jedem entgegenkommenden Trabant oder "Wartburger" vollauf zu tun. An dem auffälligen Postgebäude in Osterwiek vorbei, dann fahren wir noch durch die Orte Deersheim, Dardesheim und Hessen.

Manchmal sieht es aus wie in Frankreich, wenn die Gebäude einheitlich in Kalkstein gebaut sind. Viele landwirtschaftliche Gebäude sind verwahrlost. Im Gegensatz dazu machen die moderneren LPG-Betriebe einen modernen Eindruck, wie ein Hennenzuchtbetrieb bei Deersheim. Allerdings sehen diese Betriebe wie Industrieanlagen aus und bereichern nicht unbedingt das Landschaftsbild. Noch zwei Dinge fallen uns auf: die Obstbäume entlang der Straßen sehen anders aus als bei uns, anscheinend macht sich niemand die Mühe, sie zurückzuschneiden. Zum anderen beobachtet man viele Raubvögel: Bussarde und Milane. Kommen sie hier häufiger vor und warum?

In Hessen halten wir noch einmal kurz an und bewundern die verfallende Domäne, einen Turm mit Dachgerüst aber ohne Dachbedeckung sowie die alte Aufschrift auf einem Lokal: "Reisegespanne zu vermieten". Dann geht es noch ein paar Kilometer über mehr oder weniger gut gepflasterte Straße an die Grenze. Ein paar Jugendliche schwingen die Deutschlandfahne, selbst der Grenzbeamte an der Wachstation der inneren Sperrzone winkt freundlich. Wieder die Zählkarten abgeben, kurz die Pässe gezückt und wir sind wieder im gelackten Westen. Thomas meint zwar, er hätte nichts gegen die nun komfortablere Straße, die wir nun entlanggleiten, doch ich fand das alles an diesem Tag geradezu abenteuerlich. Wie sich zeigen wird, hat es mich gepackt, mich lassen die Eindrücke nicht in Ruhe und ich bin noch eine Zeit nicht zu bremsen, diesen Hunger nach Kennenlernen dieser so nahen und bisher unerreichbaren Welt zu stillen.


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