Um 7.30 geht es los, der Busfahrer ist wohl Engländer und heißt Whittaker, ob er auch singen kann und Jacobs Kaffee trinkt, teilt er uns nicht mit. Zunächst regnet es kräftig, aber noch sitzen wir gemütlich im Bus. Wir fahren über Mattierzoll nach Hessen, kein Reisepaß oder Personalausweis muß herausgekramt werden - die Zeiten sind vorbei. Ich sitze neben Kollege Str., wir diskutieren allerhand Umweltprobleme. Irgendwann stellt sich heraus, daß er aus dem oberen Eichsfeld stammt, genauer aus Bischofferode. Eben dort hat ja einen Tag nach Weihnachten meine erste Radtour entlang geführt. Einer seiner Brüder arbeitet sogar untertage im Thomas Münzer Schacht, den ich damals auch passiert habe. Dann mache ich die [ußerung: "Von Magdeburg bis zum Eichsfeld habe ich schon alles abgeklappert". Das hört mein Chef eine Reihe vor uns: wann man das denn alles machen könnte, ob man nicht zu Hause genug mit Haus und Garten zu tun hätte, wundert er sich. Da kann ich nur vor mich hin stottern und froh sein, daß keine weiteren Familienmitglieder diese Bedenken zu hören kriegen.
Inzwischen fahren wir auf der Straße am Huy entlang, hier war ich ja gerade erst. Heute ergibt sich trotz der gelegentlichen Regenschauer eine gute Sicht auf die Berge des Harzes, zwischen dunklen Wolken scheint die Sonne, der Brocken ist verhüllt. Dann geht es durch Halberstadt, hier war ich noch nicht. Wenn man Halberstadt von weitem sieht, beeindrucken die Türme der noch erhaltenen Kirchen: Dom, Liebfrauenkirche, St. Martini, St. Katharinen und St. Andreas (alles aus dem Reiseführer abgeschrieben). Ob Halberstadt über weitere Baudenkmäler verfügt, oder ob von der mittelalterlichen Altstadt noch viel zu sehen ist, können wir beim Durchfahren der Stadt nicht erkennen. Es sieht eher so aus, als ob die Kirchen inmitten der üblichen Wohnblöcke etwas deplaziert herumstehen. Oder umgekehrt; Von einer Ausstellung bei den Architekten ein paar Wochen zuvor weiß ich, daß Halberstadt einen Großteil seiner historischen Bausubstanz erst in den letzten paar Jahren durch Verfall und Verwahrlosung verloren hat.
Dann sind wir schon am Ziel in Thale und steigen am Bahnhof bzw. Werkstor des Hüttenwerkes aus. Jetzt scheint die Sonne wie es sich gehört. An der Seilbahnstation zum Hexentanzplatz ist ein Lokal, dort soll es "Goldbroiler" und "Boullion mit Vollei" geben. Wir wandern entlang der Bode, erst an der Jugendherberge vorbei, "Josefine Lindner" steht an dem Haus, so heißt auch ein Kollege (bis auf den Vornamen, den ich mangels Erinnerung ersatzweise eingesetzt habe)(Vielleicht war es "Gabriele"?). Am Hirschgrund ist wieder ein Lokal, aber da ist heute gar nichts los. In dieser Beziehung haben wir Glück, auch der Weg ist ausreichend breit, um die Wanderer aufzunehmen. Wir erfahren später, daß das Bauamt Wolfenbüttel ebenfalls seinen Betriebsausflug hier herum macht - denen ist also auch Phantasie und Einfallsreichtum gegeben. Am Hirschgrund zweigt über die Jungfernbrücke der Weg zum Hexentanzplatz ab, den sollen wir noch kennenlernen. Es folgt der Goethefelsen, hat hier Goethe geweilt, und wenn ja, zu was hat er sich hier so hoch über den rauschenden Wassern der Bode inspirieren lassen? Einer macht schon einen Vorschlag, aber den lassen wir unerwähnt. Einmal liegt rechts eine Blockhalde, wo der Fingerfarn besonders üppig gedeiht. Dabei stelle ich fest, daß unter den computerisierenden Kollegen wenig botanisches Interesse anzutreffen ist. Einmal halte ich ein Blümchen für Türkenbund, aber da vergallopiere ich mich womöglich auch gründlich.
Kurz vor der Teufelsbrücke zweigt der Weg zur Roßtrappe ab. Er führt auf einer Schotterhalde im Zickzack steil hinauf. Man hat immer einen schönen Blick hununter ins Tal, gerät dennoch allmählich ins Schwitzen. Aber alle sind gut drauf und schnell ist man oben. Nur Frau M. ist ein Stein von oben auf den Rucksack herabgesaust, das trübt die Freude etwas. Aber es ist glimpflich abgegangen, auch wenn ja der Kopf normalerweise sich in unmittelbarer Nähe des Rucksacks zu befinden pflegt. Zur Roßtrappe geht es nochmal ein paar Meter rechts ab, schließlich betritt man den berühmten Ort. Die Roßtrappe hat ihren Namen bekanntlich von dem Gesteinsabdruck, der wie ein Huf geformt ist, allerdings von einem Roß größeren Ausmaßes stammen müßte. Drei kreisrunde Löcher sind womöglich die Abdrücke der Hufnägel oder haben ihren Ursprung in der jüngeren Geschichte. Ich gebe andeutungsweise die dazugehörige Sage zum Besten, die ist bei den meisten unbekannt.
Weil es sich so schön liest, schreibe ich die gereimte Sage aus der liebevoll gestalteten Speisekarte der "Konsum-Berggaststätte Hexentanzplatz" ab:
Es kam einst geritten aus Böhmischem Land
ein Riese, der Bodo mit Namen benannt.
Des Harzkönigs Tochter, die liebliche Maid,
begehrte der schreckliche Unhold zum Weib;
doch heimlich entfloh sie auf hurtigem Roß.
Als müd' er vom Ritte sein Augenpaar schloß,
da ward er von fröhlichem Wiehern geweckt,
und wie er die fliehende Jungfrau entdeckt,
braust, wild wie der Sturmwind, er tobend heran.
Sie, gleich einer Möwe, stürmt weit ihm voran.
Auf einmal bäumt bebend ihr Roß sich zurück,
ein Abgrund gähnt jäh vor des Mägdeleins Blick.
Da zuckt sie zusammen und ruft, daß es gellt:
"Eh'r will ich, daß drunten der Leib mir zerschellt,
als du ihn berührst mit gottloser Hand."
Dann spornt an des Abgrundes grausigem Rand
sie schmeichelnd und scheltend ihr zögerndes Roß.
Hussah - wie des Jägers Todesgeschoß,
die Luft es in sausendem Fluge durchschwirrt,
bis drüben der Felsen, weithallend, erklirrt,
und funkenversprühend der wuchtige Stahl
tief in den Granit gräbt ein ewiges Mal.
"Gerettet" so jauchzt sie, doch gleich schnellt
den Blick mit stockendem Atem
sie forschend zurück.
Das Echo der Felsen, zu Eis starrt ihr Blut;
Der Riese - zerschmettert - versinkt in der Flut.
Im Wind wallt ihr Haupthaar, der Krone entblößt,
die hatte beim Fluge sich heimlich gelöst,
nun ruhet dort unten - verzweifelt umkrallt -
die güldene Krone so lieblos und kalt.
So verzehren wir andächtig unser Käsebrot, Frikadelle oder gekochtes Ei. Beim Rückweg erzählt Frau St. von ihrer Reise in die Sahara und daß die Berge dort anders aussehen. Am Hotel Roßtrappe wird ein Kiosk gestürmt, für 20 Pfennig Ost gibt es Postkarten. Der Großteil der Betriebsgesellschaft wird nun mit dem Sessellift wieder hinunter nach Thale gondeln. Ein paar Unentwegte, darunter auch ich, wollen zu Fuß laufen. Eine Kollegin (Sportwagenfahrerin) scheint nicht schwindelfrei zu sein, ein wenig blaß um die Nase schließt sie sich uns an. Unsere Gemeinschaft hält nicht lange, der Weg ist zu abenteuerlich, stellenweise kaum erkennbar, oft nur auf allen vieren (rücklings) zu begehen. Da scheidet sich die Spreu vom Weizen, dh. die um ihre Knöchel bangenden bleiben zurück, wir drei anderen hüpfen vorne weg durch die Botanik. Einmal rutsche ich auch aus und finde mich auf einem nicht zur Fortbewegung bestimmten Körperteil wieder.
So ist unsere Gesellschaft gesprengt, unten angekommen, sind die meisten anderen bereits mit der Seilbahn zum Hexentanzplatz entschwebt. Wir müssen auf die nächste "volle halbe" Stunde warten, bis der Betrieb wieder aufgenommen wird. Das gibt Zeit zum Händewaschen und für ein weiteres Käsebrot. Punkt 12 Uhr aber ist der große Moment gekommen. Man sinniert zwar ein wenig darüber, ob es hier auch einen TÜV gibt und ob die Verfassung der Seilbahn etwa den desolaten Zuständen in manchen Kombinaten dieser Republik gleichzusetzen sei, vertraut sich aber doch hoffnungsvoll der luftigen Angelegenheit an. Für 1.50 DM geht es dann nach anfänglich heftigem Schaukeln hinauf, bei der schönen Aussicht auf Thale und das Harzvorland ist das ganze sehr genußreich. Stauden von Fingerhut an luftigen Plätzen gleiten unter einem vorüber. Oben angekommen ist man doch irgenwie nicht unglücklich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Inmitten nun zahlreicher flanierenden Hexentanzplatzgäste suchen wir erstmal eine Aussichtsplattform auf. Mit einem Kollegen, der immer alles besser weiß, werden einige erhebliche geografische Meinungsverschiedenheiten so nach und nach bereinigt. Die Türme von Magdeburg bekommen wir allerdings nicht ins Visier, unsere geliebten Kraftwerke bei Helmstedt dagegen strecken ihre Schlote über die Höhen des Huy. Auch Fallstein, Asse und ein Streifen Elm werden klar eingenordet. Zu Füßen liegt Thale, eine Hälfte des Ortes nimmt das Hüttenwerk ein. Es erhöht nicht gerade den malerischen Ausblick, nehmen wir es mal als "Symbol des Fortschritts durch die Werktätigen" - dann sieht man das schon mit anderen Augen. Der Rest des Ortes läßt ein historisches Ortsbild vermissen.
Trotzdem trennt man sich nur schwer von diesem Blick in die Weite, nur der kräftige und kalte Wind erleichtert einem das. Vorbei an einem Museum für vorgeschichtliche Kultur (Germanen und Wikinger) gelangen wir auf den eigentlichen Hexentanzplatz. Das ist ein riesiger geschotterter Parkplatz, ein paar schüttere Eichen vermögen die Illusion von Hexenumtrieben und Walpurgisorgien kaum zu wecken. Gut, daß der Parkplatz so geräumig ist, denn bei dem Besucheransturm ist der schon vonnöten. Beim Restaurant wird Schlange gestanden. Da unsere Rucksäcke noch zuviel Gewicht haben, nehmen wir von dem Einreihen in die Warteschlange Abstand. Stattdessen genießen wir erstmal den Ausblick hinüber zur Roßtrappe. Nochmal muß die Sage herhalten, von Bodo und "Kunigunde" so sage ich, weil die meistens so hießen. Bodo ist richtig, so heißt auch Herr Str., aber die besungene Dame hieß "Brunhilde", wie ich nachträglich dem Reiseführer entnehme. Unsere Studenten diskutieren, wie die Schöne ihr Pferd wohl zum Stehen bringen konnte, wo sich hinter dem Hufabdruck doch gleich wieder ein Abgrund auftut. Ich schlage vor, daß das Pferd vielleicht wie ein Hase einen Haken rechts weg geschlagen hat. Wie so vieles bleiben diese Dinge aus grauer Vorzeit im Dunkeln. Der Münzautomat des Stereo-Fernrohrautomaten dagegen ist bereits auf Westwährung umgerüstet.
Wir setzen uns an einen Tisch und kramen in den Rucksäcken. Einer hat Geschirr und Besteck dabei, alles was man so braucht. Zwiebeln von Verwandten in der DDR werden angepriesen, schließlich fördert ein Rum mit 78 % den Stoffwechsel. Einmal weht es meine Original VEB Karte vom Ostharz vom Tisch und über die Brüstung. In Erwartung eines "Abgrundes grausigem Rand" beuge ich mich über die Brüstung, da ist aber nur ein Unkrautbeet und ich kann meine Karte problemlos bergen. Inzwischen wird auch der Kontakt zu "den anderen" hergestellt. Die haben es richtig gemacht und bei dem Selbstbedienungsgrill ihr Lager aufgeschlagen. Dort kann man Würstchen kaufen und sich diese an einem Holzkohlengrill selbst braten. Dafür ist der Hexentanzplatz (u.a.) berühmt.
Wir machen uns an den Abstieg, der Weg hinunter in das Bodetal führt wieder im Zickzack durch einen urigen Wald. Tatsächlich kommt man an der Jungfernbrücke heraus. Eine Forelle in der nicht allzu sauberen Bode kann man erkennen. Wir marschieren den Rest des Weges nach Thale, durch einen schönen Park, wo wir uns schließlich in der Sonne ablagern. Ich mache noch eine Exkursion zur Bahnhofstoilette, wo ich 50 Pfennige West fürs Händewaschen spendiere. Entsprechend zuvorkommend wird man von der Toilettenfrau und einem zur Gesellschaft dort anwesenden Individuum verabschiedet. Vielleicht auf ein andermal. Als schließlich geklärt ist, daß die Kollegen, die wir beim Abstieg von der Roßtrappe aus den Augen verloren haben, bereits den Heimweg mit einem mitgebrachten Auto angetreten haben, können auch wir uns auf die Heimreise mit Mr. Whittaker machen. Wir durchfahren Quedlinburg, das macht mit seinem Schloßberg neugierig auf einen späteren Besuch.